04.10.2017
Interdisziplinär und zukunftsgewandt: Physikphilosophie an der TUD
Die Beschäftigung mit der Physikphilosophie an einer Physikfachrichtung mag zunächst ungewöhnlich anmuten. Doch das offene Klima und das anregende Umfeld ließen das experimentelle Projekt machbar erscheinen: Physik und Philosophie stehen sich inhaltlich und historisch nahe, zudem zeigten zahlreiche Gespräche, dass viele Physikstudierende sich dafür interessierten – potentiell genügend, um ein eigenes Lehrangebot implementieren zu können. Die ermutigenden Reaktionen seitens der Fachrichtung, des Bereichs MN und der TU-Leitung taten ein Übriges, so dass seit dem WS 14/15 ein Seminar zur Philosophie der Physik angeboten werden kann. Zu meiner Freude stieß bald darauf Herr PD Dr. Uwe Scheffler vom Institut für Philosophie dazu, von dessen Expertise als Logiker wir sehr profitieren. Die Zusammenarbeit eröffnete die Chance, das positiv evaluierte Seminar als bereichsverbindendes Format zu realisieren, mit greifbarem Gewinn: Fach- und Lehramtsstudierende der Physik und der Philosophie finden in oft angeregten Diskussionen zusammen. Die Beschäftigung mit der Physikphilosophie kann die Bindung an das Fach stärken, den Blick auf die Disziplin als solche schärfen - Kompetenzen, die das Berufsleben bereichern können: laut einer Statistik des Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), arbeiteten 2016 nur ca. 30% der Physiker/innen in ihrem Beruf. Demnach kann es nicht schaden, Reflexion und interdisziplinären Dialog bereits im Studium zu trainieren. Inzwischen wird das Seminar auch im Studium Generale angeboten, was zusätzliche Studierende anderer Fakultäten sowie Promotionsstudierende mit sich brachte.
Reflexion und Kommunikation stehen sich nahe: bereits im vergangenen Jahr konnten wir an der Langen Nacht der Wissenschaften teilnehmen. Dieses Jahr stand unser PHY-PHI-Event unter dem Motto "Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät? Zeit und Zeitvorstellungen in Physik und Philosophie". Die Vorträge brachten verschiedene Perspektiven zur Sprache und regten das Publikum im vollbesetzten Raum zu Fragen an.
Dass interdisziplinäre Lehrangebote nicht nur bei uns gefragt sind, zeigt die Einladung zu einem Blockseminar zur Physikphilosophie an der Leuphana Universität Lüneburg. Der positiv evaluierte Lehrauftrag war eine Bestätigung des in Dresden entwickelten Formats und lehrreich für die Konzeption interdisziplinärer Lehre: an der Leuphana blickt man auf zehn Jahre Erfahrung mit dem allgemeinpflichtigen Komplementärstudium zurück. Außerdem ermöglichte das Erasmus-Dozentenaustauschprogramm einen Lehreinsatz an der Uni Wien, wo ein rege besuchter Orientierungsworkshop zur Physikphilosophie gehalten werden konnte.
Dass Diskussionen mit Philosophen in der Physik-Community geschätzt werden, zeigt auch das einmal pro Semester zusammen mit dem Institut für Philosophie tagendes Physikalisch-Philosophisches Kolloquium. In diesem WS werden wir am 19.12. Herrn Prof. Friedrich Steinle von der TU Berlin begrüßen, der zur Dynamik Physikalischer Begriffe referiert. Trotz der gefühlten Nähe von Physik und Philosophie haben die akademische Ausdifferenzierung und die Professionalisierung der Debatten dazu geführt, dass man schon aus Zeitgründen nicht oft miteinander kommunizieren kann. Als Physiker/in erfährt man in aller Regel nur punktuell, was die Philosophen/innen bewegt und beschäftigt – umso wichtiger ist der Austausch. Welche Trends beherrschen die Debatten? Fachliteratur, Vorträge und informelle Diskussionen belegen, dass die Wissenschaftsphilosophie sich als natürliche Partnerin im Dialog der Wissenschaften und als Vermittlerin zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sieht. Das Ringen um eine neue Definition der wissenschaftlichen Methode in Zeiten von Big Data und noch nicht experimentell verifizierbaren physikalischen Theorien steht definitiv im Fokus. Die Physikphilosophie gilt inzwischen als technischster Zweig der Wissenschaftstheorie; manch gewichtige Stimme mahnt sogar eine mögliche Überhitzung an – wenn Formeln in der Philosophie die Herrschaft übernehmen, dann droht dieser die Abkehr von ihrem explizierenden Auftrag. Aber auch Econophysics ist ein großer Trend. Hier versucht man, das Verhalten der Märkte physikalisch zu erklären, um die Prognosefähigkeit zu verbessern. Denn Erklären und Voraussagen sind nicht symmetrische Prozesse, was sich erst in der wissenschaftsreflexiven Perspektive offenbart. Generell gesehen kann und will die Philosophie der Wissenschaft, zu der sie selbst gehört, nicht die Richtung vorgeben; sie kann aber deren Struktur und Funktionalität im Blick behalten. Der Austausch stärkt zudem das Vertrauen in die Wissenschaft in Zeiten kritischer Bewegungen. Unsere bisherige Erfahrung zeigt, dass die Bildung von Diskussionskontexten zwischen Physikern und Philosophen, am besten bereits in der Ausbildungsphase, hilfreich ist. So gesehen zählt das neu entwickelte Angebot zur Physikphilosophie an der TU Dresden zu den zukunftsgewandten Formaten.
Text: Irena Doicescu. Veröffentlicht im Dresdner Universitätsjournal 15/2017.