Leipzig, der 17. Juni 1953
Auf dem Rückweg von einem Winterurlaub in Bedrichov im Isergebirge besuchte ich in Bautzen meinen alten Studienfreund Johannes Seeliger, der just an diesem Tage seinen siebzigsten Geburtstag beging. Wir kamen auf unsere gemeinsamen Jahre in Leipzig an der ABF zu sprechen, die uns gründlich und gut für das Hochschulstudium vorbereitet hat; wo wir schöne Jugenderlebnisse hatten, wo uns aber auch der herbe, raue Zeitgeist umweht, geprägt, geformt und seine Spuren hinterlassen hat.
Von der ABF auf der Döllnitzer Straße führte unser Weg nach Schulschluss direkt zum Hauptbahnhof, manchmal über die Mensa in der Innenstadt und mit der Straßenbahn nach Schönefeld, wo wir in kleinen Einzelzimmerchen zur Untermiete wohnten.
Als ich am 17. Juni 1953 von einer Mathematikprüfung kam, in der mich Papa Jenisch nach der ersten und zweiten Ableitung mathematischer Funktionen befragt und ich von Wendekurven gesprochen hatte, lief ich in eine Demonstration am Ring, die eine Wende herbeirufen sollte und eine unerwartete, nicht gewollte Wende nahm. Alle, die in die Nähe des Marschzuges entweder am Ring, am Bahnhof oder am Messehaus am Ring, gerieten, zur Innenstadt oder von dieser zum Bahnhof wollten, wurden aufgefordert mitzutun und in den Demonstrationszug hineingezogen. Viele Studenten und Dozenten der ABF gerieten in diesen Sog und mussten sich hinterher rechtfertigen, wurden verhört oder eingesperrt, entlassen oder degradiert.
Nur wenige kamen heil davon und erreichten den nächsten Zug in Richtung ihres Heimatortes. So auch ich. Damals lebten meine Eltern und Brüder in Bautzen. Dort angekommen, überholten mich die Thälmannstraße herauf zur Innenstadt zwei Panzer der Roten Armee, die sich auf dem „Platz der Roten Armee“ (wie zum Hohn der Stadtväter) vor dem Theater und dem Museum postierten und ihre Rohre drohend schwenkten. Rohrfeuer gab es nicht. Die Arbeiter der LOWA, der EMAG und von RFT versammelten und verhielten sich ruhig.
Anders in Leipzig, wie Johannes sich erinnerte: Aus dem Zug auf dem Ring wurden Rufe laut: „Weg mit Spitzbart und Genossen“, oder „Wo bleibt ihr Fünfjahrplanstrategen?“, und „Macht nicht nur Versprechen, macht uns satt!“ Gepaart mit lauten Forderungen: „Wir wollen Demokratie!“, zog die aufgebrachte Masse über den Ring und aus der Masse stieg, wie ein Schauer, das Deutschlandlied auf. Die Beklemmung nahm zu, als am Eingang zur Ritterstrasse und am alten Rathaus Propagandakioske der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft in Flammen aufgingen. Randalierende Jugendliche und ein Mob, der immer im Schatten aufgebrachter Massen mitzog und daraus hervorbrach, sorgte für zunehmende Besorgnis. Die herbeieilende Feuerwehr tat ihren Dienst verhalten, die bewaffnete grau-blaue Polizei war machtlos und floh, die Masse jubelte. Als T34-Panzer mit dem roten Stern in und durch die wogende Masse fuhren und Schüsse fielen, liefen die Menschen panikartig, wild gestikulierend und schreiend auseinander. Aus den Fenstern der FDJ-Zentrale auf der Ritterstrasse flogen Aktenbündel, Papiere, Prospekte, Aktenregale und auch Ulbricht- und Stalinbilder fehlten nicht. Jubelnde, grölende Jugendliche kippten Einsatzwagen der Volkspolizei um, bedrohten die Polizisten, rissen ihnen die Rangabzeichen und dann die Uniformen herunter, dass die blauen Vopos ängstlich flohen. Als ein Feuer aufflammte und Papierschwaden durch die Luft flogen, standen viele staunend umher und machten sich Sorgen, wie das denn enden solle. Und Johannes fasste das kurz: „Es endete für mich genau an dieser Stelle und am nächsten Tag. Der T34 und die Russen auf der Ritterstrasse, wir standen herum. Der kleine Sowjetunterleutnant mit dem Messingrohr - das muss ein Stück aus dem Kleiderschrank der FDJ-Zentrale gewesen sein, das bei der Plünderung und Zerstörung auf die Strasse geworfen wurde - kam auf mich zu und dann ging es ab in den Knast. Für fünf Tage. Den Rest wisst ihr ja, oder könnt ihr euch ausmalen! Und es endete damit, dass die Panzer und Bajonette die Menschen von der Straße fegten, die in ihre Häuser flohen und zu ihren Arbeitsstellen und Schulen zurückgingen. Nach Tagen merkten sie, dass dieser und jener fehlte. Sie kamen wieder, kurz geschoren die meisten, reihten sich ein und schwiegen. Die drinnen haben sich dort drinnen und dann später draußen gefragt: „Was taten die draußen, warum rührte sich denn keiner?“ Die draußen fragten sich: „Warum erzählen die uns denn nichts von drinnen?’“.
Ich will noch von einem Kolloquium, zu Ehren von Professor Dr. Dr. Richard Müller, aus Anlass seines 100. Geburtstages an unserer Uni erzählen. Das ist der Professor Müller von der Müller-Rochow-Synthese und damit der Vater der Silikone. Mich verband nicht viel mit ihm, wenige Vorlesungen habe ich 1956/1957 gehört und später, als ich Sprecher des Ortsverbandes der Gesellschaft Deutscher Chemiker wurde, hatte ich die Ehre, die Gutachten für die Ehrendoktorwürde von Rochow und Müller einzuholen. Aus der Laudatio zum Ehrenkolloquium erfuhr ich, dass Richard Müller am 17. Juni 1953 als Sprecher seiner Mannschaft für Silikon- und Fluorkarbonchemie in Dresden Radebeul die angestaute Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht hatte, denunziert und eingesperrt wurde. Verbürgt ist, dass er nach wiederholten Verhören vor hohen sowjetischen Offizieren und hohen, hellen Lampen nach zehntägiger Haft kahlgeschoren entlassen wurde. Als er das Jahr darauf zum Professor ernannt und geehrt wurde, erschien er sehr zugeknöpft und mit kurzem Haar. Richard Müller, von Studenten und Kollegen liebevoll und in Verehrung „Kieselrichard“ genannt, war also schon ein gestandener Mann mit Fünfzig, als wir in Leipzig gerade zwanzig waren und zur Mensa übern Ring gingen und auf eine Demo und Panzer und Bajonette trafen.
Ich war noch keine dreißig, als wir ̶ auf den Tag genau zehn Jahre nach den Panzern in den Innenstädten und die Mauer war schon fest und hoch ̶ nach Albrechts in Thüringen in den Urlaub fuhren und in Erfurt umsteigen mussten. Im Wartesaal setzte sich ein Offizier meines Alters von der Volksarmee an unseren Tisch. Der Saal war voll und an unserem Tisch noch ein Platz frei. Er stellte sich vor: „ ... Oberleutnant H. W.“. Nach zwei Bier glänzte er und prahlte: „Am 17. Juni, also vor zehn Jahren, als die auf der Stalinallee nicht auseinander gingen, sollte ich die Masse spalten und mit meinen 24 Mann dazwischen gehen. Ich gab Befehl, das Gewehr in Anschlag und mit Bajonettspitze, abwechselnd einer nach rechts einer nach links vorhaltend, im Kommandoschritt vorzudringen. Sie sollten mal sehen, wie die Masse ängstlich zurückwich und ihre Rufe verstummten ...“
Jahre später, als wieder Leipzig eine Rolle spielte und die Rufe erschallten: „...wir sind ein Volk ... wir wollen Demokratie!“, blieben die Sowjetpanzer noch gut in Erinnerung. Und wir wurden nach dem Mauerfall, als wir nun ein Volk waren, öfters gefragt: „Warum habt ihr euch das nur gefallenlassen, warum seid ihr nicht ..., warum habt ihr nic t...?“
Vielleicht werden auch bald unsere Enkel und unsere Urenkel dereinst diese Fragen stellen. Und das können viele und von vielen sein, denn beide haben wir, Johannes und ich, vier Kinder und jetzt schon eine nicht übersehbare Zahl Enkel. Diese Fragen haben wir uns und in unseren Freundeskreisen oft gestellt, als wir unsere vergangene Zeit mit den vorgehaltenen Bajonetten und mit diesen vorgehaltenen Fragen, die oft und von manchem spitzer und verletzender als die Bajonette vorgehalten wurden, analysierten. Und im Inneren glimmen diese Fragen manchmal wieder auf.
Wir kamen und kommen immer zu dem gleichen Schluss: Wehret den Anfängen!