Linientreue geht vor Wissenschaft
Materialökonomie (MÖ) – eine Überlebensfrage in der ehemaligen DDR
Es war ab 1983 meine letzte – was ich damals aber noch nicht wusste – große Aufgabe im Mähdrescherwerk Bischofswerda, Teil des Kombinates "Fortschritt", die MÖ durchzusetzen. Für Nicht-Eingeweihte des DDR-Begriffs: Es geht letztlich um Materialeinsparung, in unserem Falle um Walzstahl, koste es, was es wolle.
Recht schnell erkannte ich, dass zwischen Planvorgaben und technischen Möglichkeiten eine Diskrepanz bestand, die von Jahr zu Jahr größer wurde. Alle meine Einwendungen, dass die Einsparmöglichkeiten endlich seien, wurden beiseitegewischt; denn "der Plan ist Gesetz, und du hast ihn zu erfüllen. Ende der Diskussion." Da aber in der DDR andererseits immer Wert darauf gelegt wurde, alles wissenschaftlich zu begründen, kam mir die Idee, einen wissenschaftlichen Beweis zu liefern. Ich entsann mich der Vorlesung "Arbeitsnormung" von Prof. Vogel im 8. Semester (für uns fakultativ, aber empfohlen), wo von Anlaufkurven die Rede gewesen war. Was versteht man darunter? Bei der Produktionseinführung eines neuen Erzeugnisses sinkt der erforderliche Fertigungszeitaufwand degressiv und nähert sich einem Grenzwert. Kann als Hyperbel dargestellt werden. Das könnte doch auch beim Materialeinsatz so sein.
Der entscheidende Anstoß kam von einem polnischen Wissenschaftler
Es ergab sich, dass unsere Betriebssektion der KdT (Kammer der Technik) 1987 eine Delegation der polnischen Partnerorganisation NOT einige Tage zu Gast hatte. Mit Prof. Dr.-Ing. habil. Adam Kleczkowski gehörte auch ein Wissenschaftler der TU Kraków (Krakau) zur Delegation. Bei der zentralen Veranstaltung saß er neben mir. Bei Themen, die mich nicht sehr interessierten, skizzierte ich auf einem vor mir liegenden Blatt erste Diagramme, wie die Materialeinsparungen verlaufen könnten. Prof. Kleczkowski hatte das gesehen. Nach der Veranstaltung sprach er mich im perfekten Deutsch an und bat höflich um einige Erklärungen, da ihn das ggf. auch interessiere. Danach meinte er, das sei ein gutes Thema für eine Dissertation. Ich nahm das zur Kenntnis, aber das war's dann auch vorerst. Da wir beide viele übereinstimmende Ansichten hatten, entwickelte sich daraus eine rege persönliche Korrespondenz, wobei wir schnell zum Du fanden. Auch ein Besuch in Kraków schloss sich an. Dabei kam er immer wieder auf die Dissertation zu sprechen, beschwor mich regelrecht: „Du solltest das tun, schon der Wissenschaft zuliebe.“
Bestimmten Organen beiderseits der Neiße hätte unsere Korrespondenz nicht in die Hände fallen dürfen, denn solche privaten Verbindungen waren immer suspekt. Wir hatten aber Glück, es geschah nichts.
Es brauchte etwas Überwindung, bei der TU vorzusprechen
Schließlich fasste ich Mut und sprach im September 1987 bei Prof. Dr. sc. tech. Rudolf Soucek (1931–2024), damals Direktor der Sektion Kraftfahrzeug-, Land- und Fördertechnik, und bei Prof. Dr.-Ing. habil. Wolfgang Voelkner (1933–2025), den ich vom Studium her kannte, vor. Wieso brauchte ich Mut dazu? Ich hatte inzwischen reichlich 25 Jahre mit der rauen Praxis in einem Produktionsbetrieb zu tun, wobei es bei „Fortschritt“ besonders rau zuging. Da war Wissenschaft weit weg. Als ich Prof. Soucek mein Anliegen vorgetragen hatte, entgegnete er spontan: „Sie rennen bei mir offene Türen ein (O-Ton).“ Es stellte sich heraus, dass er ähnliche Überlegungen auch schon getroffen und in Thesen und Diagrammen zu Papier gebracht hatte. Da der Inhalt seiner Thesen aber in gewisser Weise im Widerspruch zur offiziellen Staatsräson stand, hatte er diese nur einigen ihm vertrauenswürdigen Nahestehenden gegeben. Er sah in mir jemanden, der seine Thesen mit Untersuchungen aus der Praxis belegen könnte, und händigte mir ein Exemlar aus (bei mir noch vorhanden).
Der Kampf um die außerplanmäßige Aspirantur
Prof. Soucek schlug diese vor, die er und Prof. Voelkner betreuen würden. Dafür sei eine Delegierung vom Betrieb erforderlich, um die ich mich bemühen müsse. Damit begann ein Kampf, den ich so nicht erwartet hatte. Es fanden einige Aussprachen statt, aber eine Entscheidung wurde nicht getroffen. Prof. Soucek, sicherlich des Hinhaltens müde, schrieb im Dezember 1987 an unseren Betriebsdirektor und bat sinngemäß um positiven Bescheid (Durchschlag bei mir). Daraufhin fand Anfang Januar 1988 eine Aussprache mit mir statt, wo mir mitgeteilt wurde, dass der Aspirantur nicht zugestimmt wird, da „kein Nutzen für den Betrieb entsteht“ (Aktennotiz bei mir). Offensichtlich wurde aber Prof. Soucek nicht informiert; denn es bedurfte weiterer Schreiben seinerseits, wobei er deutlich auf eine bestehende Kooperationsvereinbarung TU–Kombinat Fortschritt hinweisen musste, bis endlich am 30. September, dem letztmöglichen Termin für eine Aufnahme einer Aspirantur am 1. Februar 1989, die Zustimmung erfolgte. Die Begründung lautete jetzt: „... da im Betrieb von außerordentlicher Bedeutung“ (Durchschlag bei mir). Ein Wandel um 180° innerhalb eines Dreivierteljahres! Einschließlich der ergebnislosen Aussprachen seit September 1987 gingen mir dadurch bis zum Beginn der Aspirantur am 1. Februar 1989 etwa eineinhalb Jahre verloren, die mir später gefehlt haben. Wie kam zu diesem Wandel bzw. der anfänglichen Hinhaltetaktik und Ablehnung? Neben politischen Gründen, deren Aufzählung hier zu weit führen würde, spielten wohl auch Neid und Missgunst eine Rolle.
Ziel inhaltlich erreicht, aber keinen offiziellen Abschluss mehr errreicht
Auf rund jahrzehntelanger Arbeit im Betrieb, speziell auf dem Gebiet der Rationalisierung, wozu auch die MÖ gehört, kam ich mit der Arbeit gut voran, sodass Prof. Soucek im November 1990 urteilte: „Unter DDR-Bedingungen, Dissertation ja – heute?“ (Bei mir vorliegend). Was hat es mit der Einschränkung „heute?“ auf sich? Da die DDR im Oktober der BRD beigetreten war, vermutete er wohl Veränderungen auch im Hochschulbereich, wie sie anderswo schon eingetreten waren (z. B. die „Abwicklung“ des Mähdrescherwerkes).
Nachdem ich eine wichtige Anregung von Prof. Soucek (evtl. Auswirkungen von Materialeinsparungen im Betrieb auf die Instandhaltung in den KfL – Kreisbetrieben für Landtechnik) aufgegriffen und in einem KfL entsprechende Untersuchungen vorgenommen hatte, die keine negativen Auswirkungen ergaben, urteilte er im März 1991 „... dass die Dissertation bei intensiver Arbeit noch 1991 fertiggestellt werden kann“ (schriftlich vorliegend). Doch dazu kam es nicht mehr, da die Aspirantur aufgrund geänderter gesetzlicher Bestimmungen im Juni 1991 aufgehoben und alles Weitere mir überlassen wurde. Da mich gleichzeitig ein schwerer Schicksalsschlag traf, hatte ich andere Sorgen, als mich um die Dissertation zu kümmern. Als Ausgleich fand ich einige Auslandseinsätze im Rahmen des SES (Senior Experten Service), wo ich mein Wissen und meine Erfahrung noch einmal nützlich einbringen konnte und mir dabei u. a. die sogenannten Umdrucke zur Vorlesung Vorrichtungskonstruktion von Prof. Berthold (Belegfach im 7. Semester) sehr nützlich waren.
Wie die gewonnenen Erkenntnisse bewahren? Die Zeit läuft!
Das maschinenschriftliche Manuskript der Dissertation (etwa 100 Textseiten und eine Vielzahl von Bildern, Tabellen und Diagrammen) interessiert heute niemanden mehr. Um die wichtigsten Ergebnisse bezüglich des untersuchten Mähdreschers E 516/517, anteilig auch zur Gesamtheit des Mähdrescherbaus in der DDR seit 1952, vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren, habe ich eine Kurzfassung von 22 Seiten mit 11 leicht verständlichen Diagrammen ausgearbeitet. Vordergründig wird nachgewiesen, dass sich mögliche Materialeinsparungen degressiv einem Grenzwert nähern und damit die eingangs genannten Forderungen von Partei und Regierung ad absurdum geführt wurden. Ich konnte auch nachweisen, dass über einen Zeitraum von 40 Jahren eigentlich eine gute Arbeit bezüglich Materialeinsparung geleistet wurde, messbar an Kennzahlen wie dem Materialausnutzungskoeffizienten und dem Masse-Leistungs-Verhältnis.
Beiläufig wurden noch weitere Erkenntnisse gewonnen, von denen ich nur die ABC-Analyse nennen möchte, die entweder in der Vorlesung „Industrielle Fertigung“ von Prof. Seidel (Belegfach im 9./10. Semester) oder „Organisation und Planung“ von Prof. Lange (Prüfungsfach, 9. Semester) erwähnt wurde. Was hat es damit auf sich? Bei geschickter Auswahl kann man mit 10 % aller Einzelteile einer Maschine 90 % der anfallenden Kosten erfassen und so auf die Gesamtheit schließen. Das trifft auch für den Materialverbrauch zu.
Um den Umfang meiner Untersuchungen ein bisschen zu verdeutlichen: Entwicklungszeitraum 1974–77, Fertigungszeitraum 1978–1990/91, 19.000 gefertigte Mähdrescher (geplant 26.300 Maschinen bis 1995). Er bestand aus etwa 5.000 Einzelteilen mit Original-Zeichnungen, die zu Baugruppen unterschiedlicher Aggregationsstufe zusammengefasst wurden. Im Fertigungszeitraum erfolgten 3.500 Konstruktionsänderungen, die 12.500 Einzelteile bzw. Baugruppen betrafen. Einschließlich reiner technologischer Änderungen (z. B. durch Zuschnittoptimierung) ergaben sich daraus 33.350 technologische Belegänderungen. Diese Primärbelege waren alle noch auffindbar und konnten von mir ausgewertet werden. Somit war ein unverfälschter Nachweis für alle darauf aufbauenden Schlussfolgerungen möglich.
Vielleicht gelingt es mithilfe dieser Veröffentlichung, einen Weg zu finden, wie die Erkenntnisse bewahrt werden können. Für meine Mitwirkung bleibt nicht mehr viel Zeit, denn in Kürze begehe ich meinen 90. Geburtstag.
Bischofswerda, 4. Juni 2025