Mein Dresden und die HfV
Die Studentenjahre sind die dynamischste Periode im Leben des Menschen, da sie mit der Zeit der immer noch ausgeprägten kindlichen Psyche beginnen und mit der Schaffung einer Persönlichkeit enden. Noch einzigartiger ist die Tiefe der Erlebnisse des Studenten, der sich entschieden hat, seine Hochschulbildung im Ausland zu erhalten und auf diese Weise das Erlernen des Wissens und das Erlangen einer Fachrichtung mit dem Übernehmen einer für ihn fremden Kultur und Mentalität zu vereinigen. Dabei wird das Gemüt des Studenten auf eine einmalige Weise bereichert, als ob er zwei Lebenszeiten erlebt. Diese Bestätigung des Sprichwortes der alten Römer, „so viel Sprachen du sprichst, so viel Leben du erlebst“, habe ich selbst empfunden – dank der Entscheidung, meine Hochschulausbildung in Dresden abzuschließen.
Mein Studium begann zu einem sehr komplizierten und mit Spannung beladenen historischen Zeitpunkt für Europa und die Welt. Im Jahre 1968 wurden die Weltfestspiele der Jugend und Studenten durchgeführt, die in Sofia stattfanden. Im selben Jahr hatte die Tschechoslowakei entschieden, einen eigenen Entwicklungsweg zu gehen und um das zu verhindern, haben die Streitkräfte der Länder des Warschauer Vertrages die Tschechoslowakei besetzt und so haben sie eigentlich die Streitkräfte der NATO-Länder nur daran gehindert, dasselbe zu tun. Im selben Jahr haben französische Studenten durch ihren Aufstand auf die wachsenden sozialen Probleme Frankreichs aufmerksam gemacht. In einer solchen historischen Lage begann meine Reise, zusammen mit den anderen bulgarischen Studenten, in die Deutsche Demokratische Republik, nach Dresden. Da wir nicht durch die okkupierte Tschechoslowakei reisen konnten, mussten wir von Sofia über Bukarest, die Ukraine, Polen und Berlin fahren – nach fast einer Woche Fahrt kamen wir dann in Dresden an.
Zuerst war ich zutiefst von den immer noch vorhandenen Spuren des Zweiten Weltkrieges beeindruckt! Von diesem Krieg wusste ich nur aus Dokumentar- und Spielfilmen und aus vielen Büchern, aber jetzt standen vor mir die immer noch Furcht einflößenden Narben des Krieges – die ruinierte Frauenkirche, das fast vollkommen zerstörte Schloss, die stark zerstörte Semperoper. Unerträglich war für mich der Anblick der Fundamente der von Bomben zerstörten und verbrannten Häuser, die überall da in der Stadt auftauchten, wo man die obere Schicht des Bodens für Bautätigkeit entfernte. Dieser schreckliche Hauch des Krieges vereinte sich mit der einzigartigen Schönheit des Elbebogens beim Hafen, mit der unsterblichen Harmonie des hier gebauten aristokratischen Architekturkomplexes und mit der ruhigen, die Seele ermunternden, ganzheitlichen Landschaft der Stadt, die als ein windloses Meer den zentralen Teil umfasste.
Ich kann nicht die allseitige Unterstützung vergessen, die ich als bulgarischer Student vom Auslandsamt der Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“ und besonders von Frau Großmann bezüglich meiner Beherbergung im Studentenwohnheim und der ersten Schritte für die Sicherung meines Studiums hier erhalten habe, wie der Kauf von Lehrbüchern und Lehrbriefen, die Anmeldung in Bibliotheken, vertraut machen mit den Standorten von Hörsälen und Labors.
Als Student, der schon in seiner Heimat zwei Jahre studiert hatte, war für mich die Demokratie in den Beziehungen zwischen Studenten und Dozenten und Professoren hier eine angenehme Überraschung. Aus der ruhigen Atmosphäre während der Vorlesungen und Übungen, dem Vortragen von Problemvorlesungen und nicht nur Ablesen des Lehrstoffes, hat sich bei mir das spezifische Ingenieursdenken für meine Fachrichtung „Elektrische Bahnen und Anlagen“ entwickelt. Hier in Dresden habe ich verspürt, was das bekannte „deutsche Verbinden von Theorie und Praxis“ heißt – nach der Vorlesung in der Hochspannungstechnik traten wir ins Labor ein und man hat uns den soeben vorgetragenen und offensichtlich „trockenen“ Lehrstoff praktisch demonstriert.
Mit einem besonderen Vergnügen erinnere ich mich an die Studentenmensa der HfV „Friedrich List“, an die offenen und sehr bequemen Fahrstühle (= Paternoster), die ich zum ersten Mal sah, an das Angebot von Frühstück, Mittagessen und Abendbrot mit geschmackvollen und kalorienreichen Speisen der typisch deutschen Küche. Für diejenigen, die den größten Hunger hatten (darunter auch ich), gab es freie Zusatzportionen. In meinem Herzen ist der angenehme Umgang mit den Angestellten der Studentenküche geblieben – besonders mit einer alten Frau mit schneeweißem Haar, die den Luftangriff durch die Angloamerikaner am 13. Und 14. Februar 1945 überlebt hatte und dabei so verletzt worden war, dass sie ihren Kopf nicht ganz aufrecht halten konnte. Alle Studenten hat sie wie eigene Söhne und Töchter angesehen, für jeden hatte sie ein schönes und nur für sie bestimmtes Wort, jeden hat sie nicht nur freundlich bedient, sondern man fühlte, wie die Güte dieser Frau über die Seele des Studenten ausgeschüttet wurde. Die Mensa war der Ort lebhafter Diskussionen und freundlicher Späße während des Mittagessens und die manchmal sehr langen andauernden Gespräche mit meinen bulgarischen Mitstudenten nach dem Abendbrot.
Unvergesslich sind auch meine Erinnerungen an die Studentenwohnheime am Zelleschen Weg – zweistöckige Gebäude mit komfortablen Zimmern – mit Fenstern, die zu einem großen Park gerichtet waren. Ich hatte alles zur Verfügung, was für einen bescheidenen Studentenhaushalt erforderlich war – gemeinsame Küche, Bad, Waschraum, Außenschränke für Kleidung und Schuhe, geschlossener Raum für Fahrräder, passende Gasheizung.
Meine Einstellung als Hilfsassistent noch im zweiten Studienjahr betrachte ich als eine der größten Errungenschaften meines Lebens, denn ich hatte bei den Übungen meiner Mitstudenten zu helfen. Diese Arbeit wurde mit 280 DDR-Mark monatlich bezahlt und das gab mir die Möglichkeit, viele Bücher sowie Hilfsmittel für Sport und Fotografie zu kaufen, die ich zum Teil bis heute benutze – 33 Jahre nach meiner ersten Rückkehr aus der DDR.
Die wichtigste Möglichkeit der Freizeitgestaltung war für mich der Besuch der unzähligen Museen und Galerien in Dresden und Umgebung. Unendlich viele Stunden habe ich im Zwinger, im Albertinum, im Verkehrsmuseum, im Japanischen Museum, im Karl-May-Museum, in den Museen in Pillnitz verbracht. Es ist unmöglich, all diese mir heiligen Stätten aufzuzählen, in denen das unauslöschliche Feuer der Kunst in Dresden und in seiner Umgebung aufbewahrt wird.
Eine absolute Neuheit für mich, den bulgarischen Studenten, war das Karnevalsfest, das „Fasching“ genannt wird. Bis zu diesem Ereignis habe ich niemals eine solche vortreffliche Form der Unterhaltung gekannt, die ein natürliches Bedürfnis aller Generationen ist – auf ungezwungene Weise die Grenzen zwischen Studenten und Professoren, zwischen Jung und Alt, zwischen Mädchen und Jungen zu verwischen. Im Fasching kleidet sich jeder so, wie er sich wünscht zu sein oder nicht zu sein, jeder hat das an, was er mit der Kleidung symbolisieren möchte und als Symbole werden auch der Körper und die Stimmung (die in der Regel amüsant ist), benutzt.
Nach dem Abschluss des ersten Studienjahres konnten wir entweder die Spezialisierung „Mathematik-Ingenieure“ wählen oder weiterhin die klassische Fachrichtung „Elektrische Bahnen und Anlagen“ studieren. Diese Spezialausbildung war ganz neu und gab uns die Möglichkeit, tiefgründig die angewandte Mathematik, die Programmierung von Anwendungen, die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Bedienungstheorie zu erlernen. So hat sich einer meiner Träume erfüllt – dass ich mich mit Kybernetik beschäftige! Außerdem ergab sich die Chance, eine Diplomarbeit bei einem der von mir am meisten geachteten Wissenschaftler, Professor Strobel, vorzubereiten und zu verteidigen. Ich hatte große Schwierigkeiten bei der Programmierung und der Einschätzung bestimmter theoretischer Fragestellungen, und um die Arbeit erfolgreich zu beenden, bat ich um eine Verlängerung des Abgabetermins der Diplomarbeit. So konnte ich Neujahr 1972 nicht zusammen mit meinen Eltern in Sofia verbringen. Aber mit der Hilfe von Dipl.-Ing Peter Horn und dem außergewöhnlichen Professor Strobel konnte ich die Probleme erfolgreich lösen und meine Diplomarbeit verteidigen.
Ich erinnere mich an das Überreichen meiner Urkunde als Diplom-Ingenieur-Mathematiker als einen der Höhepunkte meines Lebens! Es geschah, dass zwei von den ausländischen Studenten die höchsten Leistungen hatten – mein Freund und Mitstudent, der Vietnamese Ho Kim To, und ich, der Bulgare. Anlässlich des Studienabschlusses habe ich das schönste Geschenk bekommen, das man immer bei sich hat – ein Kunstfotoalbum mit Schwarzweiß-Aufnahmen vom alten und neuen Dresden, von seinen bemerkenswertesten Schöpfern und Bürgern und mit einer Widmung, die mir die Erkenntnis gebracht hat, dass ich in der HfV „Friedrich List“ nicht nur meine Hochschulbildung erhalten, sondern auch mich als Persönlichkeit entwickelt habe. Ich wurde auch für ein Forschungsstudium vorgeschlagen, aber die damalige bulgarische Regierung hatte das Gesetz für den Militärdienst von Hochschulabsolventen geändert und so musste ich den regulären Militärdienst in Bulgarien als Soldat und später als Offizier der Artillerie durchziehen. Daher glückte das so von mir gewünschte Forschungsstudium nicht, aber es blieb der Wunsch, eine Doktorarbeit in Dresden zu verteidigen.
Vier Jahre später, am 1. Januar 1976 reiste ich wieder nach Dresden als Aspirant des schon weltbekannt gewordenen Professors Horst Strobel. Das erste Ereignis, nach dem Einführungsgespräch mit meinem wissenschaftlichen Leiter, hatte auch symbolische Bedeutung. Bulgarien und Rumänien sind Nachbarländer, und der Zufall wollte es, dass ich den Schreibtisch von Monika Petrescu-Vassile, einer charmanten und leutseligen Rumänin, die ihre Dissertation schon brillant verteidigt hatte, teilen sollte. Am Anfang waren meine Zimmerkollegen Dr.-Ing. Amos und später Dr.-Ing. Günter Otto sowie Dipl.-Ing. Jürgen Krimmling, der auch erfolgreich seine Dissertation verteidigt hat und jetzt Professor für Verkehrssysteme- und Prozessautomatisierung in der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ der TU Dresden ist.
In der Zeit zwischen meinem Studium und der Ankunft für die Aspirantur wurde das Simulationslabor des Wissenschaftsbereichs Automatisierungstechnik gegründet, ausgerüstet mit der damals in der DDR modernsten Technik: Großrechner, Simulationseinrichtungen für verschiedene Transportprozesse, einer hoch spezialisierten Bibliothek und mit einem kleinen Raum für Sitzungen, der auch als Lesesaal diente. Geholfen haben mir alle meine Kollegen, aber ich muss die scharfsinnigen Ratschläge von Dr.-Ing. Manfred Kosemund, das jederzeit bekundete Entgegenkommen von Dr.-Ing. Walter Ullmann, die weisen Hinweise des damaligen Aspiranten Axel Winkler hier unterstreichen.
Periodisch organisierte Professor Strobel Betriebsausflüge, die für mich unvergesslich sind, da sie für das gegenseitige Kennenlernen der Kollegen, für die Festigung des Kollektivs und für die ausgezeichnete Realisierung der gemeinsamen Aufgaben einen großen Beitrag leisteten. Diese Ausflüge wurden mit viel Geschmack und sehr abwechslungsreich organisiert. Irgendwo sind wir eingekehrt, um den einmalig gemachten sächsischen Kaffee mit Cognac zu trinken, und der Abend wurde in einer Gaststätte in ungezwungener Atmosphäre verbracht.
Die Beziehungen zwischen den bulgarischen Aspiranten in Dresden waren freundschaftlich und kameradschaftlich. Dazu haben auch die ausgezeichneten Bedingungen für Arbeit und Erholung beigetragen, die die Regierung der DDR für uns geschaffen hatte.
Ich kann nicht die bemerkenswerte Assistentin und Sekretärin von Prof. Strobel, Frau Franz, unerwähnt lassen. Sie kannte die Bedürfnisse, die Leiden und die Freuden von uns allen, den Aspiranten und den Forschungsstudenten; mit Taktgefühl, operativ und klar, hat sie uns bei der Lösung unserer vielfältigen und teilweise komplizierten Probleme geholfen. Mit besonderem Stolz erinnere ich mich an meinen Freund und Kollegen, den jetzigen Prof. Dr.-Ing. Jürgen Krimmling, mit dem wir gemeinsam viele Probleme erlebt und überwunden haben, viele Freuden und Erfolge hatten und in einem Dienstzimmer gemeinsam mit Prof. Günter Otto gearbeitet haben. Während der Aspirantur habe ich sehr viele Studenten und Aspiranten kennen gelernt, auch im Rahmen der Zusammenarbeit im Internationalen Studentenbund. Mit einem von ihnen, dem jetzigen Dipl.-Ing. Peter Simchen, der Leiter eines Unternehmens beratender Ingenieure ist, unterhalte ich immer noch sehr freundliche Kontakte.
Die Verteidigung meiner Doktorarbeit war ein einmaliges Ereignis für mich! Mein persönlicher Erfolg wäre undenkbar ohne die Unterstützung aller Kollegen des WB Automatisierungstechnik und ohne die wissenschaftliche Betreuung von Prof. Strobel. Unvergesslich bleibt auch die traditionsgemäße Feier mit dem ganzen WB in einer gemütlichen Gaststätte anlässlich der Verteidigung.
Und es ist nicht zufällig, dass sowohl meine Tochter als auch mein Sohn Studenten in Dresden sind!