Wanderjahre III: 1962 Ungarn
Das Jahr 1961 hatte uns in Berlin die Mauer gebracht, und damit war es nicht mehr wie in Jahren davor möglich, im Westen Urlaub zu machen. So orientierten wir uns nach Osten. Mit Erhard Jahn, einem Mitstudenten aus unserem Wohnheim in der Schandauer Straße 76 in Dresden, bereitete ich eine Tramptour nach Ungarn vor.
Damals bedeutete das auch, eine Einladung vorzuweisen, damit man das Visum nach Ungarn bekam. Über Joachim Andrä, einen anderen Mitstudenten, besorgten wir uns eine Anschrift am Balaton, Edl Roman, Balatonalmadi, Joszef Attila Ut 9, und bekamen auch eine briefliche Einladung und auf dieser Grundlage auch per Post von der ungarischen Botschaft aus Berlin das Visum. Das war die Grundlage für eine sog. Reiseanlage zum Personalausweis, für eine Reise nach Ungarn durch die CSSR, ausgestellt vom Volkspolizei-Kreisamt Dresden. Außerdem holten wir uns noch den Internationalen Studentenausweis von der FDJ der TU Dresden. Zu dieser Zeit hatte ich gerade meine spätere Frau kennengelernt, die ein Zelt besaß. Da sie ohnehin im Sommer wegen des Praktikums wenig Zeit hatte, borgte sie uns das Zelt. Allerdings sollte ich damit etwa Mitte August zurückkommen, damit noch ein paar gemeinsame Ferientage für uns blieben ...
Da es nur begrenztes offizielles Tagesgeld fürs Ausland gab, besorgten wir uns Devisen, indem wir öfters ins Dresdner Centrum-Warenhaus gingen, wo die tschechischen und ungarischen Touristen zu finden waren. Mit denen tauschten wir „schwarz“ ... Mit einer Internationalen Fahrkarte von Dresden über Prag und Budapest bis Keszthely am Balaton und zurück, für rd. 30.- Mark, starteten wir am 1. Juli mit dem D-Zug, fuhren bis Prag. Hier folgte bei regnerischem Wetter eine Stadtbesichtigung, zur Karlsbrücke an der Moldau, zum Hradschin und zum Wenzelsplatz. Am Abend ging die Fahrt weiter, über Brünn = Brno entlang der österreichischen Grenze und Preßburg = Bratislava kamen wir in Budapest an. Nach zwei Jahren war ich nun wieder an der Donau, diesmal auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhanges“. Nach einem Stadtbummel zur Kettenbrücke fuhren wir am Abend weiter nach Balatonalmadi, kamen am Morgen des 20. Juli dort an und bezogen Quartier bei Familie Edl. Er war ein echter Ungar, etwa 40 bis 50 Jahre alt, sie hatten drei Mädchen und räumten für uns ihr Schlafzimmer, um etwas Pensionsgeld dazu zu verdienen. Wir bekamen so etwas wie Halbpension, morgens Frühstück, abends warmes Essen, denn tagsüber waren wir meist im Schwimmbad des Balaton. Wir blieben hier wie „gebucht“ bis 6. August.
Die erste Nacht brachte uns schon eine neue Erfahrung: Flöhe = bolha. Eigenartigerweise fielen sie aber nur über Erhard her. Bald hatten wir die Fangtechnik raus: Eine Schüssel voll Wasser, alle Sachen darüber ausschütteln. Dann nackig am Fußboden umherlaufen, damit die letzten Flöhe noch vom Fußboden an die Beine sprangen, dann in die Schüssel gestellt und die Flöhe abgelesen oder ins Wasser geschüttelt, dass sie nicht wegspringen konnten. In dieser Zeit lernten wir fleißig mit dem Szotar, dem Wörterbuch, ungarische Redewendungen und Vokabeln, außerdem hatten wir im Bad viele Bekanntschaften, mit denen wir ihre Sprache übten. Zwischenzeitlich machten wir am 25. Juli mit dem öffentlichen Bus einen Ausflug nach Veszprem, der alten Königstadt, sowie am 2. August Juli einen ersten Trampversuch nach Tihany, der Halbinsel am Balaton mit der Kirche. Hier hatten wir wieder einen Regentag erwischt, abends mussten wir im Regen zwei Stunden von Tihany nach Balatonfüred laufen, von dort nahmen wir den Nachtbus zurück.
In Balatonalmadi lernten wir die Nationalspeisen kennen, wie Halaszle = Fischsuppe, Pörkölt = Schweinegulasch, Letscho, Langos, es gab aber auch Pilsner Urquell, etwas warm, und Tokajer Furmint, einen lieblichen Weißwein. Wenn wir aßen, verlangten wir immer „sok kenyer = viel Brot“. Im Arany Hid = Goldene Brücke gab es täglich Tanz, und Roman wollte uns immer dazu bewegen, mit Nachbars Mädchen dort zu tanzen „einmal muss man...“, aber wir drückten uns davor. Im Bad lernten wir auch Eva kennen, eine Oberschülerin aus Budapest, mit der wir uns dann für später bei der Rückreise in Bp. verabredeten. Außerdem war da Maria Molnar „C“, angeblich eine Künstlerin aus Budapest, die sang und zeichnete. Bei Familie Edl erlebten wir auch einen Abend mit „Liebesmahl“ für den Hausherren, Pörkölt, gegen 22 Uhr, und zum Abschied waren wir mit ihnen noch am letzten Abend in der „Csarda“, wo der Zigan auf dem Zimbal spielte und scharfe Gulyas = Gulasch serviert wurde.
Am 6. August begannen wir dann unsere Rundreise durch Ungarn. Zuerst kamen wir bis Badacsony, wo wir bei Ziganmusik aßen, anschließend in die Grotte nach Tapolca fuhren und am Abend in Keszthely auf dem Zeltplatz waren. Am 7. August besuchten wir das Balaton-Museum und das Thermalbad Heviz, wo man in einem Schwefelwassersee zwischen Seerosen schwimmt. Am 8. August verließen wir Keszthely und trampten zum Ostufer des Plattensees, sahen den ersten Puszta-Brunnen und zelteten am Ufer in Balatonboglar. Hier wollten wir abends noch einen Besuch bei Anna Strauss machen, eine Bekannte, Zahnarzttochter. Aber sie war aus, tanzen in Balatonlelle im Vörös Csillag = Roter Stern. Also haben wir den gesucht und gefunden. Bei Bier wurde es Mitternacht. Am SeptemberAugust waren wir zu Besuch bei Zahnarzt Strauss geladen, mit ihm und seinen beiden schönen Töchtern machten wir einen Ausflug zur Csillagvar = Sternburg
Am 10. August verließen wir den Balaton Richtung Süden, kamen über Kaposvar aber nur bis Boldogasszonyfa. Aber mit dem Zelt war das im Sommer kein Problem. Erhard schwärmte immer aus und suchte einen geeigneten Zeltstandort, und wir zelteten meist wild. Am Morgen des 11. August nahm uns dann gleich ein LKW mit bis Szigetvar. Hier lieferte Zrinyi dem türkischen Sultan Soliman II 1566 eine heroische Schlacht, verlor und fiel, und Ungarn wurde über 150 Jahre besetzt. In dieser Zeit entstanden die zahlreichen Minaretts und Moscheen. Wir besichtigten die Burgausgrabungen, dann nahm uns der Laster weiter mit bis Barcs an der Drau, der Grenze zu Jugoslawien. Hier badeten wir „unter Aufsicht“ direkt im Grenzfluss Drau, wanderten anschließend auch zur Grenze-Brücke über die Drau, aber danach nahmen wir den Zug und fuhren zurück nach Szigetvar. Hier bekamen wir im Garten von Frau „Professor“ = Lehrerin Quartier, es gab „Hinkel“, und abends wurden wir zu Eis und Tanz geladen. Überhaupt mussten wir feststellen, dass wir 1962 zu einem Zeitpunkt in Ungarn waren, wo das Land noch nicht überlaufen war, so dass in Gastfreundschaft noch voll gegeben wurde. Wir wurden immer weiter „durchgereicht“, beköstigt und bewirtet. Am 12. August wurden wir geweckt: „Junge Burschen aufstehen“, und waren bei Zahnarzt Dr. Nagy Gyula in Szigetvar zum Mokka geladen. Erhard befreundete sich hier mit Klari, Szabo Klara, ein schönes Madchen, die hier auch zu Besuch war, und uns zu Besuch nach Mariagyüd und Villany einlud. Mittag gings dann weiter mit dem Zug nach Szentlörinc. Das war eine Zigeunergegend. Wir bekamen einigen Kontakt, tauschten auch Adressen aus, auch mit dem Ergebnis, dass ich später dann in Deutschland Briefe mit der Bitte um einige gebrauchte Sachen zum Anziehen bekam. Im Ort war gerade Erntefest. Es wurde getrunken, musiziert, dann wurde noch eine Zigeunerin von den Einheimischen zu zweifelhaften Fotos überredet, und dann zogen wir weiter. Unterwegs drückte das viele Bier, und an einem idyllischen Weinhaus wurde erst mal „Luft“ geschaffen. Erleichtert zogen wir weiter, einem Maisfeld entlang, und scherzten, daß der Bauer ein kilometerlanges „Kukorica“-Feld angelegt hatte. Und tatsachlich war es ca. 6 km lang. In der Dämmerung kamen wir in Helesfa an und schlugen unser Zelt auf.
Am Morgen des 13. August, ein Jahr nach dem Mauerbau, hielten wir erst einmal eine Gedenkminute, dann begann wieder ein schwerer Fußmarsch, etwa 10 km bei über 40 Grad, Staub, kaum Schatten, kein Wasser. Endlich waren wir in Abaliget, in der berühmten Tropfsteinhöhle, anschließend im Bad, wo mit uns ein Interview mit der Presse „Nepszabadsag“ = ungarisches Neues Deutschland gemacht wurde. Das erschien zwar nie, aber der Reporter nahm uns mit bis Pecs. Hier vermittelte er uns einen Bekannten, der uns zum Bierabend einlud. Der Ungar hielt uns wohl für Westdeutsche, denn er zog über die Ostdeutschen her „nicht mal die Polka können s‘ tanzen“. Überhaupt war alles ein großes Missverständnis, denn beide Parteien glaubten, sie wären die eingeladenen Gäste. Und als Erhard „meg harom sör = noch drei Bier“ bestellte, war der Ungar sehr erstaunt über unsere angebliche Großzügigkeit. Da ging uns allen ein Licht auf, und der Abend endete.
Am 14. August besichtigten wir Pecs = Fünfkirchen, stiegen auch auf das Minarett. Und am Nachmittag lernten wir im Künstlercafe tatsachlich auch eine Künstlerin kennen, die uns einen Stadtreporter vermittelte. Der machte für den „Dunantuli Naplo“ ein Interview, das auch tatsachlich dann erschien, über „Fritz, den Riesen mit dem Vollbart und Erhard, seinen immer lächelnden Kameraden“. Inzwischen war nämlich mein Bart gewachsen. Am Abend trampten wir weiter nach Harkany, schlugen das Zelt auf und gingen noch ins Thermalbad. Am 15. August fuhren wir mit dem Bus nach Siklos und besichtigten die Burg. In Mariagyüd, einem berühmten Wallfahrtsort, trafen wir Klari wieder. Wir besichtigten die Wallfahrtskirche, sahen Gläubige auf den Knien um den Altar rutschen, hörten sie Choräle singen. Mittags gabs bei Klaris Oma Hühnersuppe und gebratenes Huhn. Nachmittags waren wir wieder in Siklos im Bad. Auf dem Rückweg nach Harkany zum Zelt trafen wir dann noch am Maisfeld eine Zigeunerin, der wir mühsam beibringen mussten, dass wir Künstlerfotos machen. Nach langer Überzeugung „Film-Müves“ hatten wir sie endlich für einen Halbakt gewonnen.
Am 16. August trampten wir von Harkany nach Villany zu Klaris Eltern und zelteten dort. Dann besichtigten wir einen riesigen Weinkeller und wurden zur Verkostung eingeladen. Der bekannte Lindenblättrige reifte hier in Fässern. Als wir wieder ans Tageslicht kamen, hat uns die Hitze fast umgeworfen. Dennoch mussten wir noch zu Friedrich Klein, seinen Bienenhonig verkosten. Abends dann gabs Letscho und eine lustige Nacht.
Am 17. August zogen wir dann endlich weiter nach Osten und erreichten bei Mohacs die Donau, nahe der jugoslawischen Grenze. Die Ungarinnen wuschen noch die Wäsche in der Donau und hängten sie am Ufer auf. Zum Zelten fuhren wir mit der Fähre ans andere Ufer. Am 17. August besichtigten wir die Stadt, die Moschee und fuhren dann mit dem Dampfer „Kossuth“ donauaufwärts nach Baja, wo die letzte ungarische Brücke war. Dann trampten wir ostwärts, gegen Abend nahm uns noch ein Lokocsi = Pferdewagen ein Stück mit, und dann war es dunkel. Mit dem Nachtbus erreichten wir Szeged an der Theiß, bekannt durch Gulasch und Halaszle = Fischsuppe. Am Morgen nahmen wir erst ein Bad an der Theiß, nicht in, denn die war dreckig. Daneben gab es aber ein Badebecken. Wir besichtigten den Dom, stiegen auf den Turm und mussten schnell die Sachen packen, denn das Schiff fuhr. Es folgte eine Fahrt theißaufwärts durch die Nacht, Sternenhimmel, ruhiges Wasser, am Ufer Lagerfeuer der Fischer und Angler, alles sehr romantisch. Am 20. August kamen wir in Csongrad an, aber es war Feiertag und „der Hund begraben“.
Wir brachten den Tag über die Runden, und Mitternacht ging unser nächstes Schiff weiter. Am 21. August kamen wir in Szolnok an. Nun wandten wir uns wieder Richtung Osten. Diesmal nahm uns „Onkel Raymond Regulski“ mit, ein Pole von Radio Warschau, der nach Rumänien wollte. Wir ließen uns am Abend in Hajduszoboszlo absetzen. Erhard als Quartiermeister suchte im Dunklen einen Zeltstandort. Bald kam er wieder, er hatte einen schönen Park mit Wiesenkuhlen gefunden. Wir bauten unser Zelt dort auf, hatten eine ruhige Nacht, und als wir am Morgen des 22. August erwachten, lagen wir auf einem alten Friedhof zwischen eingefallenen Gräbern.
Den Vormittag verbrachten wir im Thermalbad („die Mutter ist immer dabei“), dann trampten wir weiter ostwärts durch die Hortobagy-Puszta nach Debrecen, und nach einem kurzen Stadtbummel nordwärts bis Tokaj. Am Theißufer bauten wir das Zelt auf, dann suchten wir im Ort eine gute Weingaststätte, fanden jedoch nur eine normale, in der es nicht einmal Tokajer gab. Am 23. August bestiegen wir erst einmal den Tokajer Berg, mit Blick zur tschechisch-russischen Grenze, danach besuchten wir das Weinmuseum und trieben unsere Scherze mit den Museumsstücken (Schwerter, Revolver etc.), stiegen auf die Kanzel und predigten und kamen zu einer Weinstube. Dann trampten wir los, Richtung Westen, kamen bis vor Miskolc. Am 24. August trampten wir wieder nach Norden, besichtigten das Schloss der Hohenzollern in Edeleny und kamen bis nach Aggtelek, wo wir Europas größte, ca. 20 km lange Tropfsteinhöhle besichtigten, die bis unter die tschechische Grenze reicht. Wie wollten wieder zurück, nach Miskolc, aber es wurde schon Abend, die Bauern kamen von den Feldern, das Vieh wurde eingetrieben, und endlich in der Dämmerung hielt ein Grenzer-Jeep, der uns mitnahm. In der Studentenstadt in Miskolc fanden wir Quartier.
Am 25. August machten wir noch einen kurzen Abstecher nach Miskolc-Tapolca ins Thermal-Grotten-Bad, danach nahmen wir den Bus und kamen bis nach Lillafüred ins Bükk-Gebirge. Hier fanden wir einen Bauwagen, den die Straßenbauarbeiter übers Wochenende verlassen und nicht abgeschlossen hatten, denn es war Sonntag. Hier quartierten wir uns ein. Der 26. August begann erst einmal damit, dass Erhard seine vielen Flohstiche kühlen musste, denn wieder hatten sie nur ihn befallen. Danach besichtigten wir das Schloss des Grafen Eszterhazy und kamen anschließend quer durch das Bükk-Gebirge bis Eger, bekannt durch seinen Rotwein Bikaver = Stierblut. In Eger stiegen wir auf das höchste Minarett Ungarns. Hier gibt es viele ausgewanderte Schwaben. Dann schlugen wir unser Zelt auf der Burg auf. Am 27. August besichtigten wir die Burg, die Stadt mit dem Dom, trampten dann westwärts, nahmen in Gyöngyös noch ein Bad, und dann nahm uns wieder ein Grenzerwagen mit bis Budapest. Hier kamen wir in der Nacht an, und um nicht lange einen Zeltplatz suchen zu müssen, suchten wir uns im Stadtplan im Zentrum einen grünen Fleck aus: die Fischer-Bastei. Unterhalb der Mauer zelteten wir.
Als wir am Morgen des 28. August aus dem Zelt sahen, hatten wir den besten Panoramablick über die Donau und die Stadt, aber über uns standen schon die Touristen auf der Mauerbrüstung. Wir schlossen schnell unser Zelt und mischten uns unter die Bastei-Touristen, besichtigten das Denkmal von Stefan l, dem ersten ungarischen König, und die Matthias-Kirche und verschwanden zur Stadtbesichtigung, zur Donau und zur Kettenbrücke. Viele Jahre später, im September 1998, anlässlich der kirchlichen Trauung von Dieter Bunk mit lldigo, einer Ungarin, war ich mit meiner Frau Christel wieder im Matyas-Templom ... Wir besuchten die Vaczi-Ut, den berühmten Boulevard und das National-Museum, und als wir am Abend nach ausgedehntem Stadtbummel wieder zu unserem Zelt kamen, stand ein Polizist davor: Er hatte den ganzen Tag Wache gestanden, da wegen der Zigeuner Gefahr bestanden hatte. Freundlich erklärte er uns, dass der Standort wegen der Touristen ungünstig wäre und wir einen anderen Platz suchen sollten. Glücklicherweise bot uns in der direkten Nachbarschaft jemand an, auf dem Terrassendach zu zelten.
Wir zogen um, und am Abend trafen wir uns mit Eva, der Balatonbekanntschaft, und ihrem Freund Joszika auf der Margareten-lnsel im Grandhotel, wo wir fürstlich „Schweineschnitzel a la brasso“ speisten. Die nächsten Tage verbrachten wir mit Eva, die uns ihre Stadt zeigte: den Gellert-Berg mit dem Panorama über die Stadt. Inzwischen hatte ich einen Vollbart und galt als „tipikus nemet = typischer Deutscher“, als Fridjes Barbarossa, während vollbärtige Ungarn als huligan = Halbstarke galten. Am Abend waren wir bei ihren Eltern eingeladen, es gab Pflaumenknödel, und wir waren so unverschämt, um die Wette zu essen, es müssen etwa zehn bis 20 Stück gewesen sein, die jeder verdrückt hat. Erst viel später hat sich das schlechte Gewissen gemeldet, und in jenem Jahr 1998 habe ich im Telefonbuch von Budapest Eva Kostyal noch immer unter ihrem Mädchennamen und in der gleichen Wohnung gefunden, und Christel und ich haben sie besucht. Sie war inzwischen, nach 36 Jahren, auch Oma und lebte mit einem Partner zusammen in der elterlichen Wohnung ... Am 31. August besichtigten wir zusammen noch das Parlament, sonnten uns auf den Donautreppen, besuchten das Nationaltheater und bis zum Abend das Stadtwäldchen mit Zoo und Vidam-Park, einen kleinen Prater. Dann kam der Abschied...
Am 1. September fuhren wir mit dem Donaudampfer aufwärts bis Visegrad. Ständig musste die Wassertiefe gelotet werden (nincs fenek, tiz en öt.. = kein Grund, 10 + 5). Wir unterbrachen die Fahrt und stiegen auf die Burgruinen. Dann nahmen wir den nächsten Dampfer bis Esztergom. Hier schlugen wir das Zelt bis 4. September auf. Hier steht die größte Kirche Ungarns, Kardinal Mindszenty war der oberste Kirchenherr, der wegen des Ungarnaufstandes 1956 noch immer Asyl in der amerikanischen Botschaft in Budapest hatte. Wir waren in den Katakomben, sahen den Domschatz, z.B. den Maria-Theresia-Kelch, die Passion des Königs Matthias (7,5 kg Gold, 213 Perlen, Saphire, Rubinen, von 1400), die Burg, die Wasserstadt. Am 4. September trampten wir weiter bis Györ, und nach einer Stadtbesichtigung bis Kapuvar. Am 5. September kamen wir nach Sopron, bestiegen den Rathausturm und sahen schon die österreichischen Berge. Als wir auch noch das Verkehrsschild „Wien 70 km" lasen, zogen wir gen Grenze. Hier wurden wir von den Grenzern festgesetzt und etwa vier Stunden verhört. Nach langen Telefonaten mit der Zentrale in Györ wurde uns dann freundlich mitgeteilt, dass unsere Reiseanlage / Visum nicht zum Besuch Wiens reichte, und wir wurden in Gnaden entlassen. Und das zur selben Zeit etwa, wo ein anderer Dresdner Mitstudent, Gisbert Rother, aus dem Zug von Budapest zur österreichischen Grenze weg verhaftet, mit dem Flugzeug nach Berlin geflogen und wegen Republikfluchtversuch zu Gefängnis verurteilt worden ist (s.a. Wanderjahre II)! Wir kehrten also wieder um und kamen bis Györ. Am 6. September erreichten wir wieder Budapest und blieben hier noch einmal bis zum 11. September; trafen uns am 7. September mit Pötyi, einer netten Ungarin, die uns die Margareteninsel, das Parlament, die amerikanische Botschaft und die Oper zeigte, am 8. September waren wir im historischen Cafe Hungaria und im Nep-Stadion, wo Erhard mit Ferenc Tes das Gehen trainierte. Abends war an der Donau Tanz. Am 9. September sind wir auf den Janos-Berg gefahren, einem Aussichtsort in den Bergen oberhalb Budas. Nachmittags waren wir im Gellert-Bad am Gellert-Hotel, einem Wellenbad. Abends holten wir dann Klari ab, die mit dem Zug aus Villany kam und die Zeitung mit unserem Interview aus Pecs mitbrachte. Mit ihr waren wir dann abends auf dem Gellert-Berg, sahen Bp. bei Nacht. Am 10. September ging‘s mit ihr früh zum Stadtwäldchen, zum Hunyadi-Schloss, zum Denkmal-Sockel, von dem man 1956 beim Ungarn-Aufstand Stalin gestoßen hatte, und ins Szechenyi-Bad. Dann hieß es Abschied von Ungarn nehmen ... Zu dieser Zeit korrespondierten schon unsere beunruhigten Väter Otto Rath und Alfred Jahn. Am 11. September brachte uns der Zug dann zurück in die Tschechei, noch einmal grüßten Visegrad und der Dom von Esztergom. Wir fuhren bis Bratislava = Preßburg, besichtigten die Michalska mit dem Michaelstor und den Martindom und suchten uns am Donauufer eine Zeltstelle gegenüber der Burg. Am 12. September setzten wir die Stadtbesichtigung fort, das Rathaus, die Mestska Galeria mit den Londoner Gobelins und den Raum, in dem 1805 bei Napoleons Siegeszug der Preßburger Friede geschlossen wurde. Danach stiegen wir zur Burg auf, mit Panoramablick über die Stadt und bis Österreich, und zum Slavin-Denkmal. Mittags nahmen wir dann den Zug nach Brno, fuhren an der Morawa entlang, der österreichischen Grenze, mit doppeltem elektrischen Stacheldrahtzaun, umgepflügtem Streifen und Wachtürmen wie in Deutschland. Durch die Vitezstvi, dem Boulevard Brünns, suchten wir den Spielberg, die Festung, wo wir zelteten. Abends machten wir noch einen Rundgang durch die Stadt, die Cesna, alles erleuchtet, denn es war gerade Messe. dann den Märchenbrunnen, den Dom Petrov und stiegen anschließend auf den Rathausturm. Danach besichtigten wir noch die Festung Spielberg, ein Museum mit Dokumenten aus der Besetzung im 2. Weltkrieg, mit Kasematten, in denen die SA folterte. Zum Abschluss gingen wir noch zum Messegelände, und wiederum gegen Mittag nahmen wir den Zug nach Prag und kamen spät abends an, suchten uns in der Nähe des Hradschin eine Obstwiese zum Zelten aus. Die Nacht war sehr kalt, das Gelände sehr hängig, so dass wir ständig nach unten rutschten und schlecht schliefen.
Am Morgen des 14. September wurden wir unsanft geweckt, indem der Obsthüter am Zelt rüttelte, weil er glaubte, wir wären Obstdiebe. Durch die Obstbäume hindurch sahen wir die Prager Burg. Wir liefen uns warm, zur Moldau mit Karlsbrücke und Böttcherviertel und stellten fest, dass sich Stalin auf seinem Denkmal hoch über der Moldau verändert hatte: Er war eingerüstet und sollte abgerissen werden: Die Zeiten hatten sich geändert. Im Nachmittagsonnenschein saßen die deutschen Touristen dann beschaulich auf einer Bank an der Moldau und ließen die Tour ausklingen:
Wir waren insgesamt ca. 3.550 km unterwegs, davon ca. 2.100 mit Verkehrsmitteln und 1.450 per Anhalter. Zusätzlich hatten wir etwa 215 km zu Fuß bei Stadtbesichtigungen und notwendigen Anmarschwegen zur Tramperstelle zurückgelegt.
Am Abend des 14. September brachte uns der Zug zurück zum Ausgangspunkt Dresden, ins Studentenwohnheim ...
Und meine vierjährige Nichte Sabine fürchtete sich vor dem Vollbart ... Während Erhard noch seine Diplom-Abschlussprüfung machen musste, ging ich schon auf Arbeitssuche. Dabei kam ich auch nach Könnern zu Stahlbau Beuchelt. Der Technische Direktor bedauerte aber, mich nicht einstellen zu können, weil er die Planstelle einem anderen von uns Absolventen versprochen hatte, doch da wäre vorübergehend etwas dazwischen gekommen. Viele Jahre später, etwa 1980 in Berlin, habe ich dann von dem v. g. Gisbert Rother erfahren, dass diese Stelle für ihn reserviert worden war, bis er aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er wegen dem v.g. Republikfluchtversuch einsaß ... Weil die Mauer zu war, konnten keine Absolventen mehr in den Westen gehen, und die Planstellen waren alle besetzt. Ich hatte jedoch Glück, dass im letzten Semester in der Hochschule die Vertreter der Baukombinate Vorverträge mit uns abgeschlossen hatten, und so musste mich das Bau- und Montagekombinat BMK Chemie Halle auf Weisung des Ministeriums für Bauwesen einstellen. Nachtrag:
Später bin ich noch zweimal nach Ungarn gekommen. Das erste Mal 1964, als wir per Zug und mit Zelt zum Plattensee gefahren sind. Das für lange Zeit letzte Mal waren wir, damals schon als Familie mit zwei Kindern, 1985 mit unserem Wartburg in der CSSR zum Zelturlaub in der Hohen Tatra. Zu dieser Zeit war aber Ungarn für DDR-Bürger nicht mehr erschwinglich, so dass wir in der CSSR das Auto vollgetankt haben und bei Kosice mit Tagesproviant über die ungarische Grenze sind, über Miskolc nach Budapest und am Abend über Györ wieder zurück in die CSSR gefahren sind ...