Das Jahr 1958 aus studentischer Sicht
Am 3. Februar ging es endgültig an die TH in das Wohnheim Dürerstraße, das bis zum Studienabschluss meine studentische Heimat blieb. Allerdings gab es öfters einmal Umzüge innerhalb des Hauses.
Es begann mit einem 12-Mann-Zimmer und endete mit einem 2-Mann-Zimmer, damit war ich am Ziel meiner Träume. Bemerkenswert ist dabei noch, dass man sich die Möblierung des Zimmers teilweise selbst organisieren musste, wenn man es ein bisschen wohnlich und zweckmäßig haben wollte. Irgendwie haben wir das wohl so getan, dass dann in einem anderen Zimmer etwas fehlte, jedenfalls zog das einen Zusammenstoß mit der Heimleitung wegen der Umsetzung des Mobiliars nach sich. Unsere Seminargruppe Flugzeugfertigung mit Chef Dr.-Ing. Vandersee, ein alter Fuchs aus den Junkers-Werken, bestand anfangs aus 13 oder 14 Studenten, alles Jungen. Auch in den anderen Fachrichtungen (Konstruktion, Triebwerk, Aerodynamik) sowie in den älteren Semestern gab es kaum Mädchen, man konnte sie an zwei Händen abzählen. Das Diplom erhielten 1963 noch elf von uns. Die anderen waren z.T. von sich aus gegangen, als sie merkten, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen waren, bzw. wegen völlig ungenügender Studiendisziplin, die natürlich auch zu Leistungsschwäche führte, exmatrikuliert worden. Dieser Selektionsprozess erfolgte bereits in den ersten Semestern.
Aus der Zeit des 4-Mann-Zimmers bin ich mit Heinz Peinl aus Greiz bis zum Auszug aus dem Wohnheim 1962 zusammengewesen. Ebenfalls bis über die Studienzeit hinaus hielt eine Bekanntschaft mit Günter Freitag aus Breitenbrunn, der allerdings schon verstorben ist, sowie mit Wilfried Barghorn. Sein Vater, auch ein alter Fuchs aus dem deutschen Flugzeugbau, war übrigens einer unserer Dozenten (Messtechnik und Austauschbau).
Das Wohnheim Dürerstraße zeichnete sich durch eine Besonderheit aus – eine eigene Mensa. Diese war wohl eingerichtet worden, weil bei uns viele Ausländer untergebracht waren (Araber, Indonesier, Ostasiaten). Die Chinesen waren dann ganz plötzlich verschwunden, zurückgerufen von ihrer Regierung, als es zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China zu ernsten diplomatischen Verstimmungen gekommen war, die dann sogar zu kriegerischen Auseinandersetzungen führten. Das wurde damals natürlich nicht öffentlich gemacht, es sprach sich dennoch irgendwie herum. Für die Ausländer gab es Vollverpflegung, wobei das Abendbrot immer aus einem warmen Gericht mit Reis bestand. Da immer reichlich Reis gekocht wurde und übrig blieb, hatten wir die Chance, kostenlos Reis mit Soße zu essen, sozusagen als Sättigungsbeilage (damaliger DDRSprachgebrauch). Außerdem standen immer ein Napf mit Fett und ein Korb mit Brot da, so dass man zur Not ohne eigenes Abendbrot auskommen konnte. Einer von uns – genannt „Bernenmann“ – war immer knapp bei Kasse; er hat sich manchmal tagelang auf diese Weise durchgeschlaucht. Aber es kommt noch besser: Es gab mehr Berechtigungen für Vollverpflegung als Ausländer im Heim. Die restlichen Berechtigungen waren an deutsche Studenten ausgegeben worden. Sobald man das spitz bekommen hatte, versuchte man, sich mit einem Studenten, der eine solche Berechtigung besaß und demnächst ausziehen würde, gut zu stellen, um dessen Berechtigung übernehmen zu können. So ergatterte ich im September eine solche Berechtigung. Dadurch wurde das Leben viel bequemer und das Portemonnaie wurde deutlich geschont, denn die Vollverpflegung kostete wesentlich weniger als Eigenversorgung.
Dann stand wieder Fasching vor der Tür. Vorlesungen wurden nicht besucht, dafür aber großer Rabatz im Heim gemacht. Im Unterschied zur ABF wurde das hier geduldet, ein Rest von akademischer Freiheit, den es an der ABF so nicht gab.
Im März fand wieder ein außerplanmäßiger Arbeitseinsatz im Tagebau Klettwitz (jetzt ein See bzw. in Vorbereitung dazu) statt, denn die Förderbrücke war zusammengebrochen und mittels zusätzlicher Arbeitskräfte musste die Kohleversorgung aufrechterhalten werden. So wurden Studenten angesprochen, die über praktische Erfahrungen verfügten und die leistungsmäßig einen Ausfall verkraften konnten. Auch im März fand in Großröhrsdorf das „1. Treffen der Spielmannszüge, Sportorchester und Schalmeienkapellen“ statt. Das begeisterte mich so stark, dass ich gemeinsam mit weiteren Sportfreunden den Spielmannszug Großröhrsdorf gründete und etwa zehn Jahre aktiv mitwirkte.
Am 10. März wurde auf einer Hochschulkonferenz die militärische Ausbildung der Studenten beschlossen. Das drückte sich deutlich in der GST-Arbeit aus. Im Juni/Juli ging’s zwei, drei Wochen ins GST-Lager nach Riesa-Canitz. Im September fand ein Bereitschaftsappell mit Fackelzug statt und am nächsten Tag (4 Uhr Aufstehen) ein Geländespiel mit „saumäßiger Organisation“. Waffen putzen und an der Mai-Demonstration im Blauhemd oder GST-Uniform teilzunehmen war selbstverständlich. Es folgten die ersten Prüfungen bzw. Klausuren: Mathematik bei Herrn Prof. Landsberg, Konstruktionslehre bei Herrn Prof. Tränkner, Russisch bei Frau Memet, Kinematik und Projektionslehre bei Herrn Prof. Lichtenheldt, aufgrund seines jovialen Wesens „Papa Lichtenheldt“ genannt, Sport und Dialektischer Materialismus.
Ein weiteres Großereignis im Mai war der Entfall der Lebensmittelkarten, im Westen natürlich viel eher, aber zum damaligen Zeitpunkt wussten wir das nicht, verbunden mit einer Erhöhung des Grundstipendiums von 180 auf 190 DM. Warum das? Bei bestimmten Lebensmitteln konnte man in der HO zusätzlich zur Kartenration mehr kaufen, allerdings zu etwas höheren Preisen. Diese Preise galten nun grundsätzlich, und die 10 DM waren als Ausgleich gedacht. Ende Mai war Vorlesungsschluss und bereits am folgenden Sonntag (!) ging’s wieder – wie schon im Jahr zuvor – in den Tagebau Koschen für zwei Wochen. Diesmal war die Arbeitsproduktivität geringer und die Arbeitsmotivation fehlte. Hatte sich die Situation binnen Jahresfrist so verschlechtert oder war das Auge geschulter geworden?
Sei’s wie es sei, es zeichnete sich ab, was später die DDR in den Ruin trieb. Kaum zurück von der Kohle, fand das GST-Lager statt und dannwaren noch zwei Wochen Zeit, um wieder bei RAFENA zu arbeiten, bevor es ins FWD (Flugzeugwerke Dresden) für vier Wochen ins Praktikum ging. Dann waren gerade noch zwei Wochen für den Urlaub übrig, bevor am 8. September das neue Semester begann. Irgendwie war ich von der vielen körperlichen Betätigung im Sommer noch so energiegeladen, dass mir sofortiges Stillsitzen nicht behagte. Eine Woche lang fuhr ich täglich mit dem Fahrrad von Großröhrsdorf nach Dresden und zurück. Das waren täglich 55 Kilometer, verbunden mit erheblichen Steigungen.
Kaum war der Studienbetrieb wieder richtig angelaufen, gab es schon wieder eine Unterbrechung von zwei Wochen – Arbeitseinsatz in Goldenbow/Kreis Hagenow in Mecklenburg. Aufgrund schlechten Wetters war das Einbringen der Hackfruchternte in Gefahr und damit die Ernährung ebenfalls. Die gesamte TH wurde kurzfristig „ausgeräumt“ und mit studentischer Hilfe sowie Einsätzen der NVA und Betriebe eine Nahrungsmittelknappheit verhindert. Dieser Einsatz war zwar nicht der effektivste von allen Arbeitseinsätzen, aber der interessanteste (siehe nachfolgende Erzählung).
Im Dezember fanden wieder Klausuren statt: Mathematik, Englisch (Herr Linse) und Mechanik (Herr Göldner, damals noch nicht den Professortitel innehabend). Am 4. Dezember gegen 11 Uhr ein weiteres Großereignis: Die „152“ fliegt! Keiner ahnte, dass ein Vierteljahr später mit ihrem Absturz der Traum vom Flugzeugbau in der DDR ausgeträumt sein sollte. Am 19. Dezember war Vorlesungsschluss, dann ein paar freie Tage über Weihnachten, bevor ich wieder bis Mitte Januar bei RAFENA war, um im Schwerpunktbereich Revolverdreherei mitzuhelfen.
Bei so viel Arbeitseinsätzen neben dem Studium – gab es da überhaupt noch Zeit fürs Vergnügen? Neben Kinobesuchen und Tanzveranstaltungen (sowohl in Dresden als auch in Großröhrsdorf und Umgebung) gab es im April und im Dezember je einen Semesterball im Parkhotel Weißer Hirsch.
Himmelfahrt wurde ausgiebig in „Diesbar“ gefeiert, mit Ausgaben von 16 DM. Die zwei Wochen Urlaub in der Jugendherberge Lubmin am Greifswalder Bodden zusammen mit meinem Freund Johannes waren auch sehr schön. Fast allein in der Jugendherberge und bei ausgezeichnetem Wetter und 20°C Wassertemperatur an der Ostsee eine wirkliche Erholung. Dabei kostete der Urlaub alles in allem nur 148 DM, wobei ein guter Teil für Bier draufging. Ein Kinobesuch kostete 1,05 DM (die 5 Pfennige waren eine Kulturabgabe) und ein Tanzabend 1,60 bzw. 2,10 DM. Für die Übernachtung mussten wir etwa 5 DM und für Mittagessen (mit Kaffee) 18,20 DM zahlen. Das waren noch Zeiten!