Das Jahr 1959 aus studentischer Sicht
Was erschien mir neben den rein studienmäßigen Dingen – die inzwischen von der Entwicklung längst überholt sind – an anderen Dingen aufschreibenswert?
Da haben wir die Notiz „Gastvorlesung von Pater Tondi über die ökonomischen Hintergründe der Politik des Vatikans“. Wer war Pater Tondi? Ein ehemaliger Angehöriger des Vatikans, der in den Ostblockländern ausgesandt worden war, um den Marxismus zu studieren, um ihn dann besser widerlegen zu können. Irgendwie war er dabei aber zu der Erkenntnis gelangt, dass der Marxismus richtig sei und hatte sich vom Katholizismus abgewandt. Seine Vorlesung im Großen Hörsaal am Zelleschen Weg war eine kleine Sensation. Es brauchte niemand geworben werden, der Hörsaal war auch so brechend voll, und die letzten bekamen keinen Einlass mehr. Was mag aus ihm geworden sein, wenn er den Zerfall des Ostblocks noch miterlebt hat? Nochmals gewendet?
Dann lesen wir „Konterrevolutionäre Gruppe an der TH entlarvt“, allerdings ohne jeden weiteren Hinweis. Was mag es damit auf sich gehabt haben? Wie wir heute wissen, und wie mir selbst im letzten Jahr der DDR widerfuhr, wurde manches, was eigentlich nur das Einfordern von verfassungsgemäßer Demokratie war, manchmal sogar der Stabilisierung der DDR dienen sollte, bereits als „konterrevolutionär“ gebrandmarkt, wenn es der gerade gültigen offiziellen Linie nicht richtig entsprach.
Einige Male steht etwas geschrieben über Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen, die ich hatte, weil ich in Dresden nicht polizeilich gemeldet war. Wie ist das zu verstehen? Meine Mutter und ich, wir hatten in meiner Heimatstadt Großröhrsdorf eine für die damaligen Verhältnisse moderne, geräumige (70 Quadratmeter) und preiswerte (27 Mark Miete) 3-Zimmer-Wohnung, die ich gerne bis zum Studienabschluss und einer abzusehenden Verehelichung halten wollte. Es war nach Vaters Tod für zwei Personen schon schwer genug, dem ständigen Drängen des Wohnungsamtes nach Umzug in eine kleinere Wohnung zu widerstehen – für eine Person wäre es aber nicht mehr möglich gewesen. Irgendwie habe ich es geschafft, ohne vom Einwohnermeldeamt oder von der TH wegen Ordnungswidrigkeiten belangt zu werden. Ein zweites Disziplinarverfahren wollte ich mir auch nicht mehr leisten, hatte ich doch eines – mehr oder weniger politisch motiviert – an der ABF schon hinter mir. Heutzutage braucht man einer Wohnung wegen nicht mehr solche "Klimmzüge" zu machen, muss aber viel mehr in die Tasche greifen. So ändern sich die Zeiten.
Da gibt es noch eine Sache, die ein Disziplinarverfahren hätte nach sich ziehen können – ungemeldete Arbeit in den Semesterferien. Solche Arbeit war zwar nicht verboten, musste aber gemeldet werden und wäre mit dem Stipendium verrechnet wurden. Wer wollte aber auf einen Teil des zusätzlich erwirtschafteten Einkommens verzichten? Arbeitete man bei einem Handwerker, kam man ggf. klar, dass keine Eintragung im SV-Ausweis vorgenommen wurde, in einem Betrieb ging das aber nicht. Dieser SV-Ausweis musste auch jährlich oder so in der TH vorgelegt werden, und der Schwindel wäre herausgekommen. Im Frühjahr 1959 war so ein Zeitpunkt herangekommen, und ich hatte einen guten Tausender „schwarzes“ Geld im SV-Ausweis stehen, wollte ich mir doch ein Motorrad leisten. Was tun? Mit viel Mühe überzeugte ich den Betrieb, in dem ich zuletzt gearbeitet hatte und der zugleich mein Delegierungsbetrieb zum Studium war, mir einen neuen SV-Ausweis auszustellen, in dem nur noch die letzten Wochen meiner Semesterferienarbeit mit einem kleinen Betrag auftraten, der unter der Geringfügigkeitsgrenze lag. Gerettet! Ich hoffe, dass inzwischen auch die Verjährung dieses Schwindels eingetreten ist.
Dann gibt es noch Notizen über Aktivitäten in der GST (Gesellschaft für Sport und Technik), wo damals wohl fast alle Studenten Mitglied waren. Entweder der vormilitärische Charakter war damals noch nicht so deutlich sichtbar oder wir empfanden es nicht so, jedenfalls wurden Sportarten wie Kleinkaliber-Schießen, Segelfliegen, Motorrad-Geländefahrten u. ä. mit Begeisterung betrieben. Das auch Exerzieren und Marschieren dazu gehörten – nun ja, das ertrug man. Ein besonderes Ereignis war dabei eine Nachtübung, verbunden mit einem Geländespiel. 19.30 Uhr Appell auf dem TH-Gelände, dann Lagerfeuer (heutzutage würde wohl das Ordnungsamt einschreiten), gegen Mitternacht Verpflegung, dann Abmarsch quer durch die Stadt nach Hellerau (gut 10 km, wer würde das heute noch tun?), wobei wir auch noch kräftig in den menschenleeren Straßen sangen, Eingraben im Hellergelände und Geländespiel (blaues Armbändchen gegen rotes, es galt, dem Gegner das Bändchen abzureißen), das bei mir mit "schöne Keilerei" vermerkt ist. Fazit: Wir hatten Spaß an Dingen, die heute – es sei dahingestellt, ob zu Recht oder zu Unrecht – oftmals ein bisschen verteufelt werden.