Der einzigartige Nachlass des Prof. Kurt Beyer
In der heutigen Zeit stellt es geradezu eine Ausnahme dar, dass eine herausragende Wissenschaftlerpersönlichkeit über einen langen Zeitraum seines Lebens eng mit einer wissenschaftlichen Wirkungsstätte verbunden ist.
Prof. Kurt Beyer gehörte zu dem Kreis der Dresdner Professoren, die von Studienbeginn an in einem dauerhaft engen Kontakt mit ihrer Hochschule, der damaligen Technischen Hochschule Dresden, standen. Die intensive Verbindung zu seiner Hochschule riss über einen Zeitraum von 50 Jahren nicht ab.
Der zwischen 2010 und 2011 übernommene Nachlass von Prof. Beyer kann aus diesem Grund einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der TH Dresden von Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts leisten.
Das 60-jährige Bestehen des Universitätsarchivs sowie der 60. Todestag von Prof. Beyer im Mai 2012 sind der Anlass, diesen Bestand der Öffentlichkeit vorzustellen und gleichzeitig historische Forschungen zu unterstützen.
Erste Unterlagen wurden dem Archiv der TU Dresden im Jahr 2010 durch die Nachkommen von Prof. Beyer zur Übernahme angeboten. Die im Haus von Prof. Beyer vorgefundene Fülle und der Umfang der Dokumente waren selbst für die erfahrene Archivarin überwältigend. Mehr als 60 Jahre überdauerten die Archivalien mit Schriftwechsel, Zeichnungen, Plänen und Fotoaufnahmen in Holzkisten die Zeiten. Da Beyer bereits zu Lebzeiten die Kisten zum Schutz der Unterlagen anfertigen ließ, konnte das darin gelagerte Archivgut alle widrigen äußeren Umstände gut überstehen.
Der Umfang und die Vollständigkeit dieses Wissenschaftlernachlasses ist selten und kann daher als einzigartig eingestuft werden. Dank gilt an dieser Stelle vor allem den nächsten Familienangehörigen, die eine unkomplizierte Übernahme der Unterlagen ermöglichten. Der umfangreichste Teil des Nachlasses wurde in 45 Umzugskisten übergeben und nahm damit die Größenordnung eines Wohnungsumzuges an.
Die Übergabe spaltete sich in seine Fachbibliothek und andererseits in die archivalische Überlieferung auf. Der hier vorgestellte Teil beinhaltet vor allem die Archivalien aus der Tätigkeit von Beyer zwischen 1900 und 1952. Inhaltlich sind die Korrespondenzen, seine wissenschaftlichen Ausarbeitungen, Vorlesungsvorbereitungen, Fotoaufnahmen sowie Zeichnungen und Entwurfsarbeiten seines Büros hervorzuheben.
Viele dieser Dokumente ergänzen in hervorragendem Maße die Überlieferungen im Universitätsarchiv oder können helfen, vernichtete Schriftstücke und Informationen aus den Jahren vor 1945 zu ersetzen.
Geboren am 27. Dezember 1881 in Dresden, wuchs Beyer als Einzelkind in bürgerlichen Verhältnissen in Dresden- Neustadt auf. Der Kontakt zum Elternhaus war unterschiedlich ausgeprägt. Die Beziehung zu seiner Mutter war innig und liebevoll. Im Gegensatz dazu hatte er zu seinem Vater, Stallmeister und Tattersall-Besitzer (Reitsaal), nur wenige Verbindungen.
Die Schulzeit verbrachte er an der 4. Bürgerschule Dresden und anschließend von 1892 bis 1901 als Schüler der Drei-König-Schule zu Dresden-Neustadt.
Von 1901 an studierte Beyer Bauingenieurwissenschaften an der damaligen Technischen Hochschule. 1903 erfolgte die Vorprüfung unter Abteilungsvorstand Prof. Helm. Die damals von den Abteilungen jährlich gestellte Preisaufgabe konnte Beyer im Jahr 1904 mit Bravour lösen und erhielt dafür den 1. Preis. Die Diplomprüfung legte er im Dezember 1905 mit dem Prädikat »mit Auszeichnung bestanden« ab. Zwei Jahre später folgte der Abschluss seiner ausgezeichneten Promotion. Auf Grund der herausragenden Studienleistungen wurde Prof. Mehrtens auf Beyer aufmerksam und beschäftigte ihn von 1906 bis 1908 als Assistenten.
Im Jahr 1908 erhielt Beyer die Möglichkeit, im damaligen Siam das Eisenbahnnetz mit aufzubauen. Auf eigenen Wunsch verließ er seine Stellung bei Mehrtens und ging als beratender Ingenieur nach Siam. Damit begann für den jungen Beyer ein sehr arbeitsintensiver und zugleich auch ein abenteuerlicher Lebensabschnitt.
Neben dem Entwurf und dem Bau vielfältiger Brücken v. a. für die Eisenbahn der Nord- und Südlinie, war Beyer u. a. mit dem Architekten Karl Döhring an unterschiedlichen Bahnhofsbauten oder an Bauten für die königliche Familie beteiligt. Brücken- und Eisenbetonbauten auf den Malaiischen Inseln folgten.
Erkrankungen von Europäern waren damals nicht selten. Auch Beyer litt unter schweren Malaria-Anfällen und musste eine mühevolle Rückreise nach Deutschland antreten. Damals war er überzeugt, dass er später nach Siam zurückkehren würde. Der beginnende 1. Weltkrieg und die Einberufung zum Heeresdienst machten diesen Vorsatz zunichte.
Beyer wurde von 1914 bis 1918 zum Kriegsdienst verpflichtet. Anfangs in Dresden, wo er seine Regierungsbaumeisterprüfung ablegte sowie später in Hanau, Galizien, Berlin und in der Türkei. In der Berliner Bautenprüfstelle des Kriegsministeriums, die unter der Leitung von Prof. Gehler stand, arbeitete er als Gruppenführer. Hier lernte er den Architekten Paul Baumgarten kennen, der später im Umfeld von Alfred Speer Karriere machte.
Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst durch den Soldatenrat in Konstantinopel und einer schwierigen Heimreise nach Dresden, wurde Beyer 1919 zum ordentlichen Professor für Statik der Baukonstruktionen und der technischen Mechanik an der TH Dresden berufen. Damit nahm er eine Nachfolgestellung seines verehrten Lehrers Prof. Mehrtens ein.
Neben den vielen Toten und Verwundeten, die der 1. Weltkrieg hinterließ, waren viele heimkehrende Studierende und Mitarbeiter mittellos geworden. Um die nicht selten Hunger leidenden Studenten zu unterstützen, wurde bereits 1919 an der TH eine Hochschul-Wirtschafts-Genossenschaft sowie eine Hochschul-Einkaufs- und Konsumgenossenschaft gegründet. Beide sozialen Einrichtungen unterstützte Beyer schon damals aktiv.
In den 1920er Jahren entstand eines seiner wissenschaftlichen Hauptwerke: »Die Statik im Eisenbetonbau«. Die Arbeiten zu diesem Werk kosteten Beyer viel Zeit und Kraft. Eine Vielzahl an Problemen und Hindernissen ließen die Veröffentlichung der Publikation durch den Verlag Konrad Wittwer erst im Jahr 1927 zu.
Neben seiner Tätigkeit in Lehre und Forschung war Beyer bestrebt, die Fühlung zur Praxis zu erhalten. Beyer nutzte häufig Sommerurlaube, um bei der MAN praktisch tätig zu sein. In dieser Funktion war er am Bau der Rückpumpenspeicheranlage in Niederwartha, der Elbbrücke in Meißen sowie am Bau der Flügelwegbrücke in Dresden beteiligt. Ab 1928 verstärkte sich seine Mitarbeit bei der Entwicklung und dem Bau von Großgeräten für den Braunkohletagebau. Auch als Fachgutachter wurde Beyer zunehmend bei Fragestellungen hinzugezogen. Die Arbeiten nahmen einen so großen Umfang an, dass Beyer ein eigenes Büro am damaligen Bismarckplatz aufbaute. Bis zu 13 Angestellte fanden hier eine Betätigung. Beschäftigt wurden nur aus seiner Sicht förderungswürdige Studenten, Assistenten oder Promovenden. Der weitere Werdegang seiner »Schützlinge« lag Beyer sehr am Herzen. Mit den meisten seiner Assistenten und Mitarbeiter hatte er noch über viele Jahre regen Briefkontakt und enge Verbindungen.
Der Ruf seines Büros war bald so gut, dass seine Mitarbeiter auch in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten aussichtsreiche Anstellungen in der Wirtschaft annehmen konnten. Trotz des Arbeitspensums schien Beyer sein damaliges Wirkungsfeld sehr zu befriedigen. Angebote der Industrie sowie Rufe namhafter Hochschulen schlug er zu diesem Zeitpunkt aus.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten traten auch im Leben von Beyer zunehmend Veränderungen ein. Beyer beklagte sich über Bevormundungen von Berliner Ministerialbehörden, die geringe Wertschätzung der Hochschule durch die Gauleitung Sachsens sowie die steigende Arbeitsfülle im Rahmen des 4-Jahr-Planes. Die Einsetzung eines Rektors im Jahr 1934 wurde auch von ihm kritisch gesehen.
Die abnehmende Zahl sowie die sinkenden Vorkenntnisse der Studenten bereiteten ihm ernsthafte Sorgen. Zusätzlich übernahm er im Jahr 1937 die Aufgaben seines verstorbenen Freundes Prof. Trefftz. Seine Mitarbeiter wurden nun verstärkt zu Übungen oder Pflichtveranstaltungen der NSDAP hinzugezogen. Durch die bestehende Aufgabenfülle war Beyer vorläufig noch in der Lage, viele dieser »Begehrlichkeiten« abzuwehren.
Mit Kriegsausbruch verpflichtete man nun auch Beyer, militärische Übungen abzuleisten. Kurzfristig wurde er zur Wehrmacht eingezogen und überschritt mit der 10. Armee am 1. September 1939 die Grenze nach Polen. Beyer hatte sich zwar 1937 noch freiwillig zum Militärdienst gemeldet, bereute diesen Schritt aber umgehend. Nur durch den Nachweis kriegswichtiger Aufgabenstellungen, konnte er seine Entlassung bereits im Oktober 1939 erwirken. Obwohl die Mehrzahl der Mitarbeiter und Studenten zum Heer eingezogen waren, versuchte er weiterhin Kontakt mit ihnen zu halten. Neben dem Schriftwechsel wurden von ihm und seinen Kollegen Studienunterlagen für Kriegsteilnehmer ausgearbeitet. In zahlreichen Briefen sind anfangs noch Euphorie und Zuversicht auf einen »ruhmreichen Endsieg« zu erkennen. Diese Einschätzung schlägt ab 1941 in unterschwellige Skepsis auf ein baldiges Kriegsende um. Nachrichten über Verwundungen oder von im Feld Gefallenen nahm Beyer mit Bestürzung auf. Fassungslos äußerte er sich über die ihn erreichenden Nachrichten aus Westdeutschland zu den ersten und zum Teil verheerenden Luftangriffen auf Städte wie Hamburg und Lübeck. Auch im privaten Bereich ergaben sich für Beyer viele Veränderungen. Der Tod seiner geliebten Mutter im Jahr 1923 traf Beyer sehr. Frau Dr. Müller übernahm die Stellung als Haushalthilfe und, wie er sie über viele Jahre nannte, »Pflegemutter«. Nach Ablehnung des Rufes nach München reifte die Entscheidung, in Dresden dauerhaft zu bleiben und er ließ sich ein Haus am Elbhang in Dresden-Niederpoyritz bauen.
Nicht mehr ganz jung und für Außenstehende unerwartet, heiratete er im März 1938 Käte Meißner, eine Verwandte seiner Pflegemutter. Die drei Kinder des Ehepaares Beyer wurden zwischen 1938 und 1941 geboren. Mit fortlaufendem Kriegsverlauf wuchsen gleichzeitig die Sorgen um die Gesundheit und die Ernährungslage der Familie.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches im Mai 1945 wurde Beyer umgehend wieder im Hochschuldienst eingesetzt. Die Beschäftigung erfolgte auf Grund der Tatsache, dass Beyer zu keiner Zeit Mitglied der NSDAP war und als politisch unbelastet galt.
In den Monaten nach Kriegsende hatten die Sicherung und erste Aufbauarbeiten an Hochschulgebäuden sowie die Wiederherstellung funktionierender Verkehrswege der Stadt Dresden besonderen Vorrang. Bis 1950 wurde Beyer zur Mitarbeit in der Landesregierung Sachsen im Bereich Bauwesen hinzugezogen.
Sein ausgebombtes Büro wurde in seinem Haus weitergeführt und war bereits 1946 in der Lage, Zeichnungen für den Aufbau der zerstörten Carolabrücke vorzulegen. Ebenfalls war es Beyer gestattet, die Arbeiten zur Entwicklung von Großgeräten für den Braunkohleabbau fortzuführen.
Das enorme Arbeitspensum sowie die entbehrungsreichen Kriegsjahre gingen nicht spurlos an Beyers Gesundheit vorbei. Nach schwerer Krankheit starb Prof. Kurt Beyer in der Nacht zum 9. Mai 1952 in seinem Wohnhaus.
Jutta Wiese