Ungarn gingen zum Studieren auch an deutsche Hochschulen
60 Jahre Universitätsarchiv: Wie sich die Migration ungarischer Studenten - auch nach Dresden - im Archiv der TUD wiederspiegelt
Im Archiv der Eötvös-Loránd-Universität Budapest wurde vor mehr als zwei Jahrzehnten damit begonnen, die Migration ungarischer Studenten an europäischen Universitäten in einer Datenbank zu erfassen. Das Projekt ist für die ungarische Bildungsgeschichte von besonderer Bedeutung, da das Land bis Mitte des 17. Jahrhunderts keine eigenen Universitäten besaß. Die Studenten aus dem multiethnischen und multikonfessionellen historischen Ungarn gingen daher zum Studium in fast alle Regionen Europas, wodurch enge Beziehungen zu vielen ausländischen Universitäten entstanden und ein intensives europaweites »Networking« sich entwickelte.
An dem Projekt haben unter meiner Leitung zahlreiche Doktoranden und Archivare mitgewirkt und in etwa 230 Institutionen aus 27 europäischen Ländern die zur Verfügung stehenden Bibliotheks- und Archivquellen untersucht. Unsere Forschung konzentriert sich auf den Zeitraum von den mittelalterlichen Anfängen bis 1919. Es entstand eine elektronische Datenbank, in der alle im Gesamtgebiet des historischen Ungarns geborenen Studenten erfasst sind. Infolgedessen bietet die Datenbank für die heutige ungarische, slowakische, ukrainische, rumänische, serbische, kroatische, slowenische, österreichische und deutsche Geschichtsschreibung ebenso wichtige Angaben wie für die Forschung all jener Länder, in denen die besuchten Universitäten lagen. Allein aus der Zeit bis 1525 (Beginn der Türkenherrschaft) sind mehr als 12 100 Immatrikulationsdaten vorhanden, aus der Zeit zwischen 1525 und 1800 mehr als 27 250 und aus dem letzten Abschnitt des »langen 19. Jahrhunderts « (1801 bis 1919) rund 59 900, so dass insgesamt die Daten von beinahe 100 000 ausländischen Universitäts-Immatrikulationen zusammengestellt wurden. Unser Forschungsprojekt stellt in Konzeption und Dimension bislang das Einzige seiner Art in Europa dar und kann daher mit Recht einen Anspruch auf europäische Aufmerksamkeit erheben.
Die aus ungarischer Sicht wichtigsten Ziel-Institutionen waren die Universitäten des Habsburger bzw. des Heiligen Römischen Reiches. Fast die Hälfte der ungarischen Studenten ging nach Wien und andere habsburgische Universitäten, etwa ein Viertel zog es an deutsche Universitäten nördlich der Alpen. Das entspricht etwa 25 000 Immatrikulationen und zeigt deutlich, welche große Tradition die deutschungarischen Unterrichts- und Wissenschaftsbeziehungen besitzen.
Vom ersten Drittel der 16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts war eindeutig Wittenberg die wichtigste deutsche Universität für die ungarischen Studenten. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stand sie an erster Stelle, aber auch später war sie nach Wien die zweitpopulärste Universität. Weitere wichtige deutsche Universitäten dieses Zeitabschnittes waren Frankfurt an der Oder, Leipzig, Heidelberg, Jena, Königsberg, Tübingen, Altdorf, später auch Halle, Erlangen und Göttingen. Gerade unter der gebildeten Schicht der ungarischen und siebenbürgischen Sachsen, wie alle deutschsprachigen Bewohner genannt wurden, war ein Studium an deutschen Universitäten fast obligatorisch.
Die riesigen Veränderungen des 19. Jahrhunderts sind auch in der Studenten- Migration ablesbar und konzentrieren sich auf die Universitäten Berlin, Jena, Leipzig und Halle. Zwischen 1819 und 1849 führt Berlin hinsichtlich des Interesses ungarischer Studenten, während Jena und Halle zurückbleibend etwa in gleicher Größe Studenten anzogen. Eine Konkurrenz für die etablierten Lehranstalten stellten die neu gegründeten Hochschulen dar, die sich (wie z. B. Hohenheim) schnell unter den ersten zehn meistbesuchten Institutionen finden.
Zwischen 1849 und 1867 errang Jena knapp vor Berlin die erste Stelle hinsichtlich der Anzahl ungarischer Immatrikulierter. Das studentische Interesse an Halle und Tübingen (3. bzw. 4. Platz) war fast identisch, zugleich waren aber auch in neun anderen Hochschulen mehr als 50 ungarische Studenten eingeschrieben. In jenen Jahren zog es auch mehr Ungarn nach Hohenheim, Karlsruhe und an die Kunstakademie München. Nach 1867 stand die Berliner Universität in der Beliebtheitsskala der Ungarn ganz vorn. Die größten Zuwächse an ungarischen Studenten verzeichneten aber das Polytechnikum München und die Universität Leipzig.
Anfang des 20. Jahrhunderts ragt die Universität Berlin weit über die anderen Institutionen hinaus, da die Anzahl der eingeschriebenen Ungarn innerhalb weniger Jahre erneut sprunghaft angestiegen war. Auch an den mitteldeutschen Universitäten Leipzig und Halle ließen sich zunehmend Ungarn immatrikulieren. Ebenso wurden die aufstrebenden Technischen Hochschulen in München und Berlin, aber auch in Dresden interessante Studienorte für junge Menschen aus Ungarn. Besonders gefragt waren gleichfalls Studienplätze an der Handelshochschule Leipzig und der Kunstakademie in München. Um 1900 waren an 17 deutschen Universitäten, Hoch- und Fachschulen pro Einrichtung über 100 Studenten eingeschrieben.
Allein die Hochschulen Sachsens waren mit dreizehn Prozent an der Studenten- Migration aus Ungarn beteiligt. Unter ihnen spielt die Universität Leipzig, die seit dem Mittelalter kontinuierlich von Ungarn besucht wurde, mit fast zwei Dritteln aller Studenten eine hervorragende Rolle. Das Renommee der sächsischen akademischen Bildungsstätten, besonders der Universität sowie der Handelshochschule in Leipzig, hatte in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erheblich zugenommen. Überraschend viele ungarische Studenten zog das angesehene Technikum Mittweida an (ca. 16 Prozent), so dass es aus ungarischer Sicht am Anfang des Jahrhunderts die viertpopulärste deutsche Unterrichtsanstalt war. Das Technikum bot eine besonders praxisorientierte Ausbildung für die gewerbliche Wirtschaft an.
Auch die TH Dresden war für Studienbewerber aus Ungarn attraktiv. Bis 1919 sind etwa 100 Kommilitonen nachgewiesen. Möglicherweise ist deren Anteil noch höher, aber Kriegsverluste an Akten erschweren genauere Zahlenangaben. Besonders interessant sind die Studiennachweise der Forstakademie Tharandt, die sich wie ein who is who des ungarischen Hochadels lesen, der hier oft seine Nachkommen Forstwissenschaften studieren ließ. Eher weniger Studenten aus Ungarn zog es an die renommierte Bergakademie Freiberg, die Kunstakademie Dresden und das Technikum in Chemnitz.
Insgesamt hat sich eine hervorragende Forschungszusammenarbeit mit den deutschen Kollegen entwickelt. Gemeinsame Tagungen der mitteleuropäischen Universitätsarchive, wie bereits 1998 an der TU Dresden oder 2008 in Budapest, befördern die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Archive und vertiefen das Projekt des durchaus gefährdeten gemeinsamen Europas.
Dr. László Szögi