Für alle das gleiche Raster
Singa ist seit vielen Jahren Dozentin und bemüht sich, den Lehramtsstudierenden nicht nur die Prinzipien inklusionssensiblen Unterrichts zu vermitteln, sondern ihnen diese auch vorzuleben. Singa möchte bestmöglich auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Studierenden eingehen und ihnen die Mitgestaltung der Veranstaltungen ermöglichen. Beispielsweise führt sie in ihren Lehrveranstaltungen häufig Gruppenarbeiten durch und lässt die Studierenden zu selbstgewählten Schwerpunkten des Seminarthemas referieren. Bei Prüfungs- und Bewertungssituationen greift Singa jedoch auf einheitliche Maßstäbe für alle zurück. Sie befürchtet Konflikte, wenn nicht alle nach den gleichen Maßstäben bewertet werden. Auch ein Kollege sagte neulich: “Wie willst du das bitte machen? Das ist viel zu viel Arbeit und führt nur zu Diskussionen. Oder wie willst du das rechtfertigen, dass die eine Person so bewertet wird und die andere so?”
Cedric ist Student für das Lehramt an Grundschulen mit Mathematik als Kernfach. Er findet die fachwissenschaftlichen Veranstaltungen in Mathematik sehr anspruchsvoll und gibt er sich große Mühe. Cedrik will in Hausarbeiten und Klausuren möglichst gute Noten bekommen. Jedoch empfindet er die Bewertungen einiger Dozent*innen als ungerecht: Eine Hausarbeit von Cedrik wurde wegen Fehlern in Rechtschreibung und Zeichensetzung mit 4,0 bewertet, obwohl der Inhalt nach Aussage seines Dozenten “locker eine 2” gewesen wäre. Außerdem besuchen die Lehramtsstudierenden weniger fachwissenschaftliche Veranstaltungen in Mathematik als die Mathematikstudierenden. Cedric hat das Gefühl, dass ihm darum manchmal wichtige Grundlagen fehlen, die für die Mathematikstudierenden selbstverständlich sind. In Klausuren wird trotzdem von allen das Gleiche verlangt und es wird keine Rücksicht auf die Lehramtsstudierenden genommen.
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Ist die individuelle Bewertung tatsächlich so konfliktreich?
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Welche Möglichkeiten der individuellen Bewertung gibt es (an der Universität)?
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Welche Bewertungsmaßstäbe gibt es?
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Wann ist eine Bewertung fair?
Ist die individuelle Bewertung tatsächlich so konfliktreich?
Nicht, wenn die Lernenden mit dieser Form der Bewertung vertraut sind. Das Besondere an einer individuellen und prozessbezogenen Form der Bewertung ist, dass der Vergleich mit anderen hier keine Rolle spielt. Während beispielsweise Klausuren alle Lernenden (meist zum gleichen Zeitpunkt) zu den gleichen Inhalten abfragen, orientiert sich die Leistungserhebung bei individuellen Ansätzen an der einzelnen Person und ihrem Lernfortschritt. Am Beispiel eines Diktates wird der Unterschied besonders deutlich. Hat eine Person 14 Rechtschreibfehler, ist dies im Vergleich zu den anderen Lernenden vermutlich eine eher schlechte Leistung und wird mit einer schlechten Note “bestraft”. Hat die Person in vorherigen Diktaten jedoch 20 oder mehr Fehler gemacht, hat sich ihre Leistung im Vergleich zu den bisherigen Diktaten gesteigert. Dies würde sich bei einem individuellen und prozessbezogen Maßstab positiv auf die Bewertung auswirken Hierfür ist unabdingbar, dass den Lernenden transparent ist, inwiefern ihre individuellen Lernfortschritte in die Bewertung einfließen. Dazu muss in der Rückmeldung darauf Bezug genommen werden.
Welche Möglichkeiten der individuellen Bewertung gibt es (an der Universität)?
Durch die geltenden Studien- sowie Modulprüfungsordnungen werden Art und Umfang der zu erbringenden Prüfungsleistungen festgelegt. Daher ist es durchaus möglich, dass bei der Gestaltung von Prüfungsleistungen im Studium nicht allzu viele Freiheiten bestehen. Eher offene und individualisierbare Prüfungsleistungen sind Portfolios und Arbeiten, die im Rahmen von Projekten entstanden sind. Aber auch bei Seminararbeiten, mündlichen Prüfung und Referaten können die Interessen der Studierenden einbezogen werden. Möglich ist beispielsweise, dass sich die Studierenden aus einer Fülle möglicher Themen, das auswählen, zu dem Sie ihre Prüfungsleistung erbringen wollen. Die Themen könnte einerseits die Lehrperson vorgegeben. Die Themen könnten andererseits aber auch gemeinsam mit den Studierenden erarbeitet werden. Ein paar Anregungen, wie in der universitären Lehre individualisiert und prozessbezogen bewertet werden kann, finden Sie auch unter “Was kann helfen?” im Abschnitt “Anders prüfen”. Dort finden Sie auch Informationen zum sogenannten Nachteilsausgleich in der Lehrer*innenbildung. Weitere Hinweise zur Organisation und Durchführung von Prüfungsleistungen an der TU Dresden finden Sie auch in den jeweiligen Studiendokumenten für die verschiedenen Lehramtsstudiengänge.
Welche Bewertungsmaßstäbe gibt es?
Bei der Bewertung einer Leistung - zum Beispiel eines Referates in einem Seminar - können verschiedene Bewertungsmaßstäbe angewandt werden. Sie werden auch Bezugsnomen genannt. Es gibt die soziale, die sachliche sowie die individuelle Bezugsnorm. Jede Bezugsnorm hat andere Auswirkungen auf die Bewertung sowie das Verhalten sowie die Selbstwirksamkeitserwartung der Lernenden. Erfahren Sie mehr zu den Bezugsnormen, ihren Auswirkungen sowie einem produktivem Umgang mit Fehlern.
Wann ist eine Bewertung fair?
Bereits bei der knappen Beschreibung der Bezugsnomen sollte deutlich geworden sein, dass vor allem die soziale Bezugsnorm negative Auswirkungen auf die Motivation und das soziale Miteinander der Lernenden haben kann. Bei einer insgesamt leistungsstarken Lerngruppe würden diejenigen, die im Vergleich zu den anderen schlechter abschneiden, die schlechtesten Noten bekommen. Wären diese Personen jedoch in einer insgesamt eher leistungsschwachen Lerngruppe, bekommen sie gute Noten. Die Bewertungsgrundlagen bei einer sozialen Bezugsnorm sind nicht transparent - vielmehr sind sie willkürlich. Sie machen die Fortschritte einer Person nicht deutlich und wirken sich demotivierend und demoralisierend auf die lernende Person und die ganze Lerngruppe aus. In der Fachliteratur wird häufig die sachliche Bezugsnorm als besonders ‘fair’, transparent und motivierend eingeschätzt, da bereits vor der Leistungserhebung die Bewertungsgrundlagen anhand der Inhalte festgelegt werden. Bei dieser Bezugsnorm fehlt jedoch der Blick auf die individuelle Entwicklung und die individuellen Entwicklungspotenziale einer Person. So birgt vor allem die individuelle Bezugsnorm das Potential, die Motivation der Lernenden zu steigern. Insbesondere für inklusive Lehr-Lern-Settings entfaltet sie ihre Stärken, da die vorherigen Leistungen sowie der Lern- und Entwicklungsprozess einer Person die Bewertungsgrundlage darstellen. Sie wirkt sich besonders motivierend auf die Lernenden aus. Es lohnt sich also, sowohl die sachliche, wie auch die individuelle Bezugsnorm anzuwenden und eine Balance dieser beiden herzustellen: Eine Mischung dieser wirkt sich leistungsfördernd und motivierend aus. Eine individuelle Bezugsnormorientierung und weniger soziale ‘Aufwärtsvergleiche’ fördern die Selbstkonzeptentwicklung von Lernenden und tragen zur Stützung des Selbstwertes bei (Martschinke 2008).
Wichtig bei jeglichen Leistungserhebungen ist, dass den Lernenden die Bewertungsmaßstäbe bereits vorab transparent sind. Auch die Mitbestimmung der Lernenden bei den Bewertungsgrundlagen und -inhalten und die Orientierung an ihrer Lebenswelt wirken sich nicht zuletzt neben der Leistung und Motivation der Lernenden auch positiv auf die Lehrenden-Lernenden-Beziehung aus.
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Welchen Mehrwert sehe ich für mich, aber auch für die Studierenden, wenn ich bei der Prüfungsleistung ein prozessbezogenes und individuelles Vorgehen wähle?
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Inwiefern kann ich die Studierenden bei der Gestaltung der Lehrveranstaltung im Allgemeinen sowie bei der Prüfungsleistung im Besonderen mitbestimmen lassen? Können sie zum Beispiel bei den Themen und Inhalten sowie dem Prüfungsdatum mitbestimmen?
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Welche Möglichkeit habe ich, individuelle Leistungen in die Prüfungsleistung einfließen zu lassen?
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Was müsste ich dann bei der Planung, Umsetzung und Auswertung meiner Lehre beachten und gegebenenfalls anpassen?
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Welchen (Mehr-)Aufwand hätte ich dadurch? Wäre es wirklich mehr Aufwand oder vielleicht sogar weniger?
Routinefalle
Ein Patentrezept oder einen “perfekten Test” gibt es nicht. Wiederkehrende Muster und Vorgaben bei Prüfungen geben zwar Orientierung, sorgen jedoch nicht für Abwechslung. Sein gewohntes Vorgehen zu ändern kann zweifelsfrei beunruhigen. Doch wer nie "über den Tellerrand" blickt, kommt auch nicht in den Genuss neuer Entdeckungen, Erkenntnisse und somit Möglichkeiten der Selbsterweiterung.
Gleichbehandlungsfalle
Wenn alle nach dem gleichen Raster bewertet werden, vernachlässigt dies die individuellen Bedürfnisse und Entwicklungsprozesse der Lernenden. Der Fokus liegt auf der "breiten Masse", während einzelne Lernende aus dem Blickfeld geraten und sprichwörtlich "aus dem Netz fallen".
Ohnmachtsfalle
Wenngleich bisher vor allem wissensbasierte Prüfungsformate durchgeführt worden sind, bedeutet das nicht, dass daran nichts geändert werden kann. Werden bestehende Strukturen und Prozesse blind als legitim und unveränderlich angenommen, tappen Sie in die Ohnmachtsfalle.