Fehler neu deuten
Eine alte Volksweisheit besagt “Irren ist menschlich. Aus Fehlern wird man klug”. Und doch werden Fehler in Lehr-Lern-Settings häufig negativ konnotiert und der Fokus scheint eher auf den Defiziten der Lernenden zu liegen. Die Ansicht, dass Fehler ein Zeichen von Dummheit sind, ist leider weit verbreitet. Viele Fehler werden häufig mit schlechten Noten sanktioniert. Wenn der Fokus auf den Defiziten und beispielsweise der Anzahl von Fehlern liegt, wirkt sich dies negativ auf die Emotionen der Lernenden aus: Die Angst vor Fehlern führt ggf. dazu, dass sie sich nicht trauen, Fragen zu stellen oder anderen ihre Aufgabenbearbeitung zu offenbaren. Umso mehr Mut braucht es, um über Fehler zu sprechen und sie zu akzeptieren. “Eine Situation des Massregelns [sic!] bewirkt das Wiederbeleben eines alten Vorurteils sich selbst gegenüber” (Lahr 2019). Ein zentraler Baustein für eine potenzialorientierte Sicht auf Fehler ist die Herstellung einer angstfreien und von Wertschätzung geprägten Lernumgebung.
Bekannt ist, dass Bloßstellungen nach Fehlern jeglichen Lernprozess blockieren können. Nur wenn alle Beteiligten akzeptieren, dass Fehler unabdingbare Begleiterscheinungen von Lernprozessen sind, können sie Lernchancen eröffnen und auch als solche wahrgenommen werden (Prediger, Wittmann 2009: 6).
Ein kleiner Exkurs:
Die Klebezettel der Marke “Post-It” sind übrigens auf der Grundlage eines "Fehlers" entstanden: Ein Chemiker hatte zum Ziel, einen innovativen Superkleber zu entwickeln. Sein Ergebnis klebte zwar, ließ sich jedoch ebenso unkompliziert wieder von der Oberfläche ablösen. Einer seiner Kollegen erinnerte sich an den “fehlerhaften” Superkleber, als ihm ständig Lesezeichen aus seinem Notenheft fielen. Er bestrich kleine Zettel mit dem Kleber und erfand so - auf der Grundlage des vermeintlichen Fehlers seines Kollegen - die Ursprungsversion der heutigen Post-It Klebezettel. Auch die Entdeckung des Penicillins, von Amerika und vom Telefon beruhen auf Fehlern. Wäre alles nach Plan verlaufen, gäbe es diese und viele weitere Entdeckungen nicht.
Die Beispiele verdeutlichen, dass Fehler vor allem das Potenzial haben, weitere Auseinandersetzungen und infolge Lernen und Entwicklung in Gang zu bringen. Eine potenzialorientierte Fehlerkultur konzentriert sich nicht auf Fragen wie: Wer hat den Fehler gemacht? oder Wie kann dieser Fehler sanktioniert werden? Vielmehr geht es bei einem produktiven Umgang mit Fehlern darum:
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zu akzeptieren, dass jedem Menschen - also auch einem selbst - Fehler passieren,
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sich sachlich und bewusst mit Fehlern auseinanderzusetzen sowie aus ihnen zu lernen und
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Verständnis für das Zustandekommen des Fehlers zu entwickeln und im Zuge dessen richtige Vorstellungen oder Vorgehensweisen aufzubauen, damit ähnliche Fehler zukünftig vermieden werden.
Die Lernenden sollten nicht für ihre Fehler (vor anderen) bloßgestellt oder bspw. in Form schlechter Noten für diese bestraft werden. Vielmehr sollten Fehler als Hinweise auf individuelle Lern- und Entwicklungsbedürfnisse betrachtet werden. Statt der Angst vor Sanktionen und Strafen, sollte die Freude und Neugier am Lösen von Problemen gefördert werden. Der Fokus sollte nicht auf den Fehlern der Vergangenheit liegen, sondern darauf, was diese Fehler und über die Erreichung zukünftiger Lern- und Entwicklungsprozesse aussagen. Ein Fokus auf das, was bereits gelungen ist und welche Bedingungen zum Erfolg beigetragen haben, motiviert und hebt die bisherigen Anstrengungen und Erfolge der Lernenden wertschätzend heraus (Waibel, Wurzrainer 2016: 46). Zur Formulierung zukünftiger Lernzielen, die auf Grundlage der Fehler erörtert werden können, eignet sich beispielsweise die SMART-Methode: Das Lernziel sollte dabei so formuliert sein, dass es spezifisch (präzise), messbar (nachvollziehbar und überprüfbar), anspruchsvoll (herausfordernd), realistisch (erreichbar) und terminiert (auf einen konkreten Zeitraum oder Zeitpunkt bezogen) ist.
Waibel und Wurzrainer stellen die Unterschiede zwischen einer defizitären und einer potenzialorientierten Sicht auf Fehler gegenüber (ebd.: 47):
Formulierungen, Glaubenssätze und Fragestellungen |
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… bei problemorientierter Sicht- und Arbeitsweise (Fehler als Defizit-Aufzeigende) |
… bei potenzialorientierter Sicht- und Arbeitsweise (Fehler als Helfer und Schätze) |
Wie war es in der Vergangenheit? Warum so viele Fehler? |
Was soll in der Zukunft ander sein? Was soll so bleiben wie es ist, und was muss sich verändern?” |
Was läuft falsch? |
Was gelingt schon? |
Wer oder was ist Schuld (an den Fehlern)? |
Wo gibt es Fortschritte und welche sind das? Wie wirken sich die positiven Veränderungen und erreichten Lernziele aus? |
Lehrende sind Expert*innen und kennen die Lösung (für alle Probleme, Fragen und Fehler) |
Mögliche Lösungen werden gemeinsam erörtert |
Analyse der Defizite und Aufstellen von Förderprogrammen |
Ressourcen und Potenziale erforschen und an diesen anknüpfen |
Lernen und Entwicklung als lineare und abgeschlossene (Teil-)Handlungen |
Lernen und Entwicklung als Prozesse mit zahlreichen Wechselwirkungen (Verstehende Perspektive) |