Forschung
DFG-Projekt: Das „böse Kind“ und die Wissenschaft: Aggressionsforschung in Deutschland zwischen 1945 und 1989 (Arbeitsbereich Dresden)
Projektleitung: PD Dr. Silke Fehlemann, Bearbeitung: Tamara Mansaray (MA)
„Aggressivität“ verstanden als Trieb, Haltung oder Sozialverhalten könnte auf den ersten Blick als Erklärungsmuster dafür herangezogen werden, warum Menschen sich gegenseitig angreifen, beleidigen oder herabsetzen. Eine solche Grundannahme reduziert jedoch die Relation zwischen aggressivem- und herabsetzendem Verhalten auf eine reine Kausalbeziehung. Herabsetzung und Aggressivität können allerdings im Prozess einer Auseinandersetzung in ein sich selbst verstärkendes Wechselverhältnis treten. Um sich diesem komplexen Zusammenhang zu nähern, geht es in diesem Projekt darum, die Geschichte der Aggressionsforschung aus der Perspektive der Invektivität zu betrachten: Die Aggressionsforschung befasst sich seit etwa 120 Jahren mit der Frage, warum Menschen sich herabsetzend verhalten und wie es darüber hinaus zu gewalttätigen Handlungen kommt. Grundsätzlich wurde hierbei die Frage verhandelt, ob „böses“ Verhalten zur immanenten Grundausstattung des Menschen (Trieb) gehöre oder von außen (soziale Faktoren) in sie hineinwirke. Zwischen 1950 und 1989 erfolgte darüber hinaus eine ubiquitäre Übernahme des Aggressions-Begriffs in die politisch-gesellschaftliche Sphäre. Narrative von „aggressiven Großmächten“ begleiteten damals den Aufschwung des Deutungsmusters „Aggressivität“ in der historisch-politischen Publizistik vom Kalten Krieg bis in die frühen 1990er Jahre – und erleben jüngst wieder einen Aufschwung.
Mit der Analyse der Deutungsmuster von Aggressivität und ihrer fachlichen Anwendungen wollen wir dazu beitragen, Normhorizonte und ihren Wandel zu verstehen. Einen besonderen Blick wollen wir dabei auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg werfen. Kinder wurden auch in der Aggressionsforschung von Anfang an zentral adressiert. Um die Deutungsfigur des „aggressiven Kindes“ zu untersuchen, kann inzwischen auf Forschungen zur historischen Kindheitsgeschichte aufgebaut werden. Ausgehend von diesen Überlegungen wollen wir nachzeichnen, wie das (neue) Wissen über kindliche Aggression in pädagogische aber auch in medizinisch-psychiatrische Praktiken eindrang und sich hier manifestierte. Im Zentrum steht dabei die These, dass die Forschung zur Aggression selbst durch herabsetzende Diskurse und Praktiken invektives Potential entfalten konnte. Wir zeichnen nach, wie die Kategorisierung des „aggressiven Kindes“ eng mit Zuschreibungen von Geschlecht, Schicht und Herkunft/Ethnie durchwoben wurden und wie Diagnosesetzungen (etwa die des psychopathischen Kindes) mit Stigmatisierungseffekten einhergehen konnten. Die sich so im Umfeld der Aggressionsforschung abspielende Resonanzspirale aus Herabsetzung und Aggressionszuschreibung wird rekonstruiert. Mit Hilfe von Fallgeschichten aus psychiatrischen Kinderkliniken sollen aggressionsbezogene Diagnosen und Zuschreibungen eingehender analysiert und auch die Interventionsbemühungen zur Behandlung „aggressiver Kinder“ genauer analysiert werden. Ziel ist es, konkrete invektive Praktiken und Effekte der Aggressionsforschung zu identifizieren und zu klären, inwieweit medizinische Diagnosen als Ordnungskategorien des Aggressiven auf kindliches Verhalten reagierten und in der Folge ihrerseits herabsetzende Potentiale evozierten.
Im Projekt stehen sowohl die Entwicklung in der BRD als auch in der DDR im Blickpunkt. Das Gesamtprojekt ist aufgeteilt in einen Düsseldorfer Arbeitsbereich unter der Leitung von Heiner Fangerau und einen Dresdner Arbeitsbereich unter der Leitung von Silke Fehlemann.