Invektive Gattungen: Zwischenruf-Sequenz(en) in der Debatte um Hilfe für Geflüchtete aus Moria im Deutschen Bundestags
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Einleitung
Im Seminar habe ich mich ausgehend von Moralischen Gattungen (Bergmann & Luckmann, 2013) mit der Analyse Invektiver Gattungen beschäftigt und Zwischenruf-Sequenzen im deutschen Bundestag analysiert. Das dafür verwendete Material ist die TV-Aufzeichnung, sowie das stenografische Protokoll der Debatte vom 11.09.2020 um die Unterstützung für Geflüchtete im Zuge des Brandes des Flüchtlingslagers Moria in Griechenland.
Die Gattungsanalyse beschränkt sich dabei nicht nur auf den Zwischenruf an sich, sondern fasst den Ruf als Teil einer Sequenz, deren Muster die Gattung Zwischenruf-Sequenzen bildet. Die Vorteile dieser Definition erschließt sich im Hinblick auf die Deutung(en) der Funktion der Gattung aus einer invektivitätssensiblen Perspektive. Diese bilden den zweiten Teil, der die Sequenzen entweder als Polarisierungen oder meta-invektive Verhandlungsstrategien deutet.
Für die Gattungsanalyse orientiere ich mich an den Strukturelementen von Außenstruktur, interaktiver Realisierungsebene und Binnenstruktur nach Günter (2007) und dem Forschungsstand zu Zwischenrufen als Gesprächssorten in der Politik (dazu Meer 2017). Die Debatte liegt als Steno-Transkript und geschnittene Aufzeichnung vor. Das Steno Transkript enthält den Wortlaut der Rede, sowie, soweit für die Stenograf*innen zuordbar, Zwischenrufe mit Personen-Nennung, Beifalls oder Ablehnungsrufe mit Franktions-Nennung. Diese werden qualitativ nur zwischen Person, „Teile der Fraktion“ und „gesamter Fraktion“ unterschieden. Die Videoaufnahme ist geschnitten, wobei die Kamera meistens eine Halbtotale des Sprechenden am Mikrophon-Pult zeigt. Gelegentlich schwenkt sie auf applaudierende Fraktionen oder sprechende bzw. dazwischenrufende Parlamentarier*innen aus dem Publikum. Bei Redner*innenwechsel sind zumeist die Vorsitzende oder eine Totale des Bundestages zu sehen. Das Video dauert insgesamt 1:20:49 Stunden, das Plenarprotokoll des Sitzungstages ist 116 Seiten lang.
Um sich einen Überblick zu verschaffen wurden zunächst alle Zwischenruf-Sequenzen dieses Punktes aus dem Protokoll entnommen. Dabei wurde gleichzeitig durch Markierungen am Material eine Kollektion (Birkner et al., 2020:23) erstellt und nach Akteuren und Sequenzabfolge sortiert. Aus diesen insgesamt 86 Fällen wählte ich die Rede von Horst Seehofer [CSU/Innenminister], Gottfried Curio [AfD] und Ute Vogt [SPD] aus und transkribierte die Audiospur der Video-Sequenz als Minimaltranskript (ebd.: 26). Seehofer und Curio hatten mit Abstand die meisten Zwischenruf-Sequenzen. Ute Vogt wurde ausgewählt, weil sie die meisten Zwischenrufe in einer Rede für die Aufnahme von Geflüchteten verzeichnet. An diesen drei Fällen wurden die Merkmale der Gattung herausgearbeitet. Abschließend wurde ein Abgleich mit der gesamten Aufzeichnung vorgenommen, um sicherzustellen, dass es keine auffälligen Widersprüche zur Analyse der drei ausgewählten Fälle gibt.
Der zweite Teil geht vom Begriff der Invektivität (Ellerbrock et al., 2017: 6) aus. Dieser, für die Untersuchung der Relevanz von Phänomenen der Schmähung und der Herabsetzung ins Leben gerufen Begriff des Sonderforschungsbereich 1285 der TU Dresden beschreibt Konstellationen, performative Akte und Zuschreibungen in ihrem jeweiligen invektiven Modus, um dabei eine eigenständige Perspektive auf das Konflikthafte des Sozialen zu entwickeln (ebd.:3f).
Aus der Vielseitigkeit des Phänomens ergaben sich zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte mit meiner bisherigen Gattungsbeschreibung im Material, die aus zwei unterschiedlichen Fragerichtungen entstanden sind.
Die Erste, welche Funktion Invektivität für die Ausgestaltung der Zwischenruf-Sequenzen erfüllten (Polarisationsansatz). Die Zweite, welche Funktion die Gattung für die Invektive in der Arena Bundestag (Einspruchssignal) spielt. Je nach Fragestellung veränderte sich damit auch die Bedeutung, sodass ich mich entschieden habe, die unterschiedlichen Ansätze separat aufzuführen.
Gerade weil die Möglichkeiten so offen sind, habe ich weiterführende Perspektiven im Ausblick formuliert.
Gattunganalyse
Die Analyse der Gattung Zwischenruf-Sequenzen ist in drei unterschiedliche Strukturebenen aufgeteilt.
Die soziale Arena der Gattung – die Bundestagsdebatte – ist ein funktionaler Debattenraum, der sich dadurch auszeichnet, dass er weniger der Aushandlung selbst, sondern der Darstellung von Sachlagen und Positionen im parlamentarischen Diskurs gegenüber der Öffentlichkeit dient (Meer, 2017:14). Auch wenn die Debatte aufgezeichnet und übertragen wird, ist sie nicht mit einer medialen Debatten in einer Talkshow gleichzusetzen (vgl. dazu auch Ayaß, 2011). Gerade die Zwischenrufe sind in der Aufzeichnung selten genau zu verstehen, weil nur das in die Mikrophone gesprochene klar verständlich ist. Auf der anderen Seite findet in der Aufzeichnung ein Schnitt auf die Zwischenrufer*innen statt und die erhöhte Lautstärke ist als Stöhrung in der Rede zu vernehmen.
Diese tritt als Kontrast zur juristisch formalisierte Gesprächsordnung auf. Reden werden teilweise abgelesen und Antworten können nur in Form von Zwischenfragen oder in späteren, eigenen Redebeiträgen formuliert werden (Meer, 2017: 14f). In der formalisierten „Hackordnung“ des Sprechens (Roll, 1982), hat sich der Zwischenruf als geduldetes antiritualistisches Ritual herausgebildet (Hitzler, 1990: 620 ff).
Die Abgeordneten, als sprechende Gruppe, erscheinen zunächst als Berufspolitiker*innen, die „im Amt“ sprechen, einheitlich und größtenteils, gerade bei mehrjähriger Tätigkeit, miteinander vertraut. Die Veranstaltung läuft routiniert ab. Auf der anderen Seite treffen dort Sprecher*innen aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammen. Die Sprecher*innen spiegeln ihre politische Funktion und Zugehörigkeit nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich wider. Linksliberal oder konservativ sind nicht nur Einstellungen, die sich inhaltlich, sondern auch in der Art und Weise wie gesprochen, reagiert und dazwischengerufen wird, unterscheiden. Da die Debatte öffentlich übertragen wird, kann davon ausgegangen werden, das Politiker*innen versuchen die Einstellungen und Erwartungen ihrer Wähler*innen zu repräsentieren. Die drastischen Zwischenrufe gegenüber der AfD passen zum antifaschistischen Identitätsanspruch der Links-Partei (und deren Wähler*innen), während bspw. Joachim Stemp (FDP) „auf die erbärmlichen Provokationen des Abgeordneten Curio“ (Plenarprotokoll 19/174, 2020: 21863), nicht eingehen möchte. Das Verhalten von Antragsverteidiger*innen und Ablehner*innen hängt auch vom Gegenstand – geflüchtete Menschen oder Finanzhaushalt – ab und ob man aktuell der Regierung oder der Opposition angehört.
Die Elemente professionspraktisches Verhalten und Sprechen, repräsentiertes Milieu und politische Konstellation verhalten sich nicht nur in der Analyse zueinander, sondern vermutlich auch in der Abwägung durch den oder die Politiker*in in der konkreten Situation. Es muss davon ausgegangen werden muss, dass die Sprecher*innen ihr dahingehendes Verhalten reflektieren, wenn nicht sogar gezielt planen und inszenieren.
Die Zwischenruf-Sequenzen bilden die einzige synchrone Form des Austausches in der Debatte. Der oder die Zwischenrufer*in muss sich dabei gegen die durch das Mikrofon verstärkte Rede, durchsetzen. Wie der Name schon andeutet, zeichnet sich der Ruf durch eine kurze, prägnante Aussage, meist nicht länger als ein Satz, aus. Dieser erfolgt zeitnah zur affektierenden Äußerung der/des Redner*in (A) durch den/die Rufer*in (B). Diese Affektbausteine (Christmann & Günther, 2013:250) sind gerade für die Deutungen unterschiedlich interpretierbar, zunächst aber durch politische Begriffe oder Anschuldigungen allgemein zu beschreiben. Diese lassen sich ähnlich wie bei Entrüstungskommunikation in einer Triade zwischen Entrüstungsobjekt, Entrüstungssubjekt und einem mehrfach adressierten Publikum beschreiben (ebd.: 244-271).
Oft realisieren sich mehrere Zwischenrufe auf dieselbe Aussage. Außerdem müssen sich die Rufenden meistens noch gegen das zustimmende Klatschen aus der Fraktion von A durchsetzen. In der Video-Aufzeichnung sind die Zwischenrufe selten klar zu verstehen, gerade wenn sich Zwischenruf(e) und Beifall vermengen, ist lediglich ein Stimmengewirr unterschiedlicher Lautstärke und Dauer vernehmbar. So ist man auf das Steno-Transkript zur Sitzung angewiesen, wobei die chronologische Reihenfolge der Vermerke von Applaus und Zwischenruf im Abgleich mit dem Video-Material nicht immer ganz stimmig sind (vgl. zu dieser Thematik Burkhardt, 2003:455ff). Die Zuschauenden der Übertragung, die als „Publikum zweiter Ordnung“ angesprochen werden, erleben die Zwischenrufe meist nur verkürzt. Zuschauende und jenes Saalpublikum sind aber dennoch in die Sequenzen involviert.
Dafür müssen zunächst die unterschiedlichen Gruppen ausdifferenziert werden. Die parlamentarische Öffentlichkeit (Bleses, 2020: 498) die im Nachhinein aktiv über das Gesehen spricht und wertet. Dazu gehören u.a. Journalist*innen, andere Politiker*innen und Aktivist*innen.Dem gegenüber steht das passive, angerufene „Deutsche Volk“, das im inklusiven wir (Burkhardt, 2003: 406ff) als konstruierter, abstrakter Souverän, dessen vermeintlicher Wunsch und Wille sowohl von A als auch von B heraufbeschworen wird. Davon teilweise losgelöst – oder wie in der Moria Debatte nicht zugehörig – existieren die von der politischen Entscheidung betroffenen Subjektgruppen in den jeweils konstruierten Figurationen. Gerade diese Gruppe ist es, über die gesprochen wird. Dabei bildet die Uneinigkeit an der Figuration – „Schutzbedürftige“ oder „Brandstifter“ – dieser Gruppe einen Anlass für Zwischenrufe.
Da die Gattung viele potentielle, aber nicht notwendige Strukturelemente aufweist, eignet sich die sequenzielle Unterteilung in Stufen, um die strukturelle Abfolge innerhalb der Gattung zu skizzieren.
Die Sequenzen beginnen mit einer affizierenden Aussage in der Rede. Im Beispiel des Plakates ist es die Interpretation der Notlage als eine bewusst herbeigeführte Strategie der Geflüchteten zur Migration nach Deutschland. Diese wird prosodisch durch die Betonung des Begriffs „infam“ verstärkt.
Neben dieser zur Verdeutlichung gewählten stark invektierenden Zuschreibung, gibt es auch Ausgangspunkte, die weniger drastisch sind. So etwa der Vorwurf an den Innenminister, zynisch über das Schicksal von Menschen zu sprechen, der an seiner Interpretation der Situation als „globales Problem“ festgemacht wird.
- „Horst Seehofer (Bundesinnenminister/ CSU) [#14:22]: Es ist kein lokales Geschehen.
- Horst Seehofer (Bundesinnenminister/ CSU) [#14:22]: Ein globales Problem
- Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [14:23]: {rufend aus dem Off} [Wir reden über Menschenleben,]
- Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [14:23]: {rufend aus dem Off} [ Herr Seehofer!]
- Horst Seehofer (Bundesinnenminister/ CSU) [#14:23]: [werden wir auch nur international und europäisch lösen.] […]“ (Videoaufzeichnung, Moria-Debatte, 2020)
Die Aussage aus dieser ersten Stufe zeichnen sich weniger durch eine bestimmte Form, als durch die Tatsache, dass sie politisch mehrdeutig ist, aus.
Das zeigt sich in den unterschiedlichen Reaktionen der zweiten Stufe. So findet im Plakatbeispiel der entrüstete Zwischenruf des Abgeordneten Birkwald [die LINKE] parallel zum zustimmenden Klatschen der AfD Fraktion statt. Unterbrechen die Zwischenrufe zu einem affektierenden Baustein (Christmann & Günther, 2013:243) bevor dieser vollends vorgetragen ist, wird dieser zumeist unter Rufen und Klatschen zu Ende gebracht.
Die Zwischenrufe sind sich prosodisch als schnelle, laut gesprochene/gerufene Aussagen ähnlich. Die moralische Klammer (ebd.: 251f) wird dabei schon durch die Geste des Dazwischenrufens gesetzt. Wenn die Rufenden von der Kamera gezeigt werden, sieht man diese z.T. mit empörten Gesten wie einem gehobenen Zeigefinger und einem angespannten Gesichtsausdruck. Es sind aber ebenso heitere, ironische Zwischenrufe möglich. Diese treten oft in Form von rhetorischen Fragen auf. Dabei sitzen Rufende meist zurückgelehnt in ihren Sitzen.
Selten kommt es in dieser zweiten Stufe zu einer direkten Antwort auf den Zwischenruf. Dies geschieht in der gesamten Debatte nur zweimal, entwickelt sich zum Austausch von zwei bzw. drei Argumenten, bevor der/die Redner*in zu Stufe drei übergeht.
In dem meisten Fällen tritt nach dem Ruf die dritte Stufe ein. Diese schließt die Sequenz ab, indem der/die Redner*in die eigentliche Rede fortsetzt. Die Klatsch- und Rufgeräusche verstummen meist kurze Zeit später, wenn klargemacht werden kann, dass es keine Reaktion (mehr) auf das Gerufene gibt. Dafür liest der/die Redner*in demonstrativ vom Skript ab oder signalisiert dies prosodisch, durch Handgesten (bspw. ein gehobener Finger) oder durch laute Betonung des Satzanfanges.
Ein inhaltlicher Austausch zwischen Redner*in und Rufer*in findet, ausgenommen der zwei Beispiel, nicht statt. Das Übertragungspublikum kann in den wenigsten Fällen den Inhalt der Rufe verstehen. Was die „tatsächliche Wirkung des Zwischenrufes“ (Hitzler, 1990:627) war, ist allerdings aus der Analyse des Materials nicht erkennbar.
Deutungen und Ausblick
Aus einer invektivitätssensiblen Perspektive sind unterschiedliche Deutungen der Zwischenruf-Sequenzen möglich. Sie finden zwei vorgestellte Deutungen, sowie einen Ausblick auf weitere interessante Forschungsperspektiven für Zwischenruf-Sequenzen.
Diese Deutung geht von der Ausdifferenzierung politischer Positionen als Ziel der Parlamentsdebatte aus (vgl. Burkhardt, 2003:200-236). Die Verteilung von Rederechten, verschiedener Parteien im Parlament trägt diesem Ziel in chronologischer Form Rechnung. Die Zwischenruf-Sequenzen erfüllen als eigenständige Invektive Gattung die Funktion (Ellerbrock et al., 2017:15f) der synchronen Differenzierung zum politischen Gegner. Anders als in den nicht-öffentlichen Ausschüssen, in denen sachliche Argumente ausgetauscht und mehrheitsfähige Lösungen erarbeitet werden können, werden in der öffentlichen Debatte unterschiedliche Positionen durch (radikale) Polarisierung sichtbar gemacht. Durch die Analyse der Zwischenrufe als Sequenzen wird klar, dass Zwischenruf und Rede auf eine gegenseitige Polarisation durch Invektive aufbauen.
Mit Blick auf das invektive Potential von affizierender Aussage und Zwischenruf, lassen sich verschiedene invektierte Subjekte mit jeweiliger Formsprache unterschieden. Zum einen die externen Subjektgruppen, wie beispielsweise die EU, die griechische Regierung oder die Geflüchteten. Zum anderen die Anwesenden, direkt angesprochenen Parteien, Ministerien oder verantwortliche Personen (die Kanzlerin, der Minister, etc.). Diese Gruppen werden über alle Reden und Zwischenrufe ohne besonderes Muster angewandt. Dabei zeigen sich unterschiedliche Formsprachen zwischen den einzelnen Akteur*innen. Ein auffällig „radikaler Sprachgebrauch“ (Jahnen, 2019:122) ist in den Sequenzen mit AfD-Abgeordneten zu beobachten. Reframings mit rassistischer und extremistischer Bildsprache wie „Bootsbetrüger“ oder „Umsiedlungsfanatiker“, werden nur von AfD Politikern als invektive Formsprache verwendet. Die Zwischenrufe, die auf diese Aussagen folgen, sind dabei gleichfalls „radikaler“.
Mathias Birkwald, der in der Debatte der CDU ironisch heiter dazwischenruft: „Wir nehmen ihr „C“ ernst“ (Plenarprotokoll 19/174“, 2020:21868), bezeichnet im Beispiel sichtlich erregt (gehobener Zeigefinger im Bild) Dr. Gottfried Curio als „Menschenfeind“ (ebd.: 21861). Weiter wird er die Rede unter dem Niveau der Zimmertemperatur (ebd.: 21862) und als Beweis für die Verfassungswidrigkeit (ebd.: 21862) der AfD bezeichnen. Auch Frequenz und Anzahl der Zwischenruf-Sequenzen sind insbesondere in Curios Rede mit am höchsten. Von den 86 Zwischenrufen ereignen sich 15 bei Dr. Curios Rede, der Median liegt bei zwei Zwischenrufen pro Redner*in (Durchschnitt 6), wobei es auch Reden ohne Zwischenrufe gibt. Die meisten dokumentierten Zwischenrufe stammen von der LINKEN durch die Abgeordneten Birkwald und Brandt bei den Reden von Seehofer und Curio.
So lässt sich über die Formsprache der Zwischenruf-Sequenzen eine Polarisierungstendenz herausarbeiten, die ihre radikalste Ausgestaltung zwischen Links-Partei und AfD findet. Bleibt die AfD ihrer Sprache weitestgehend treu, affizieren deren Invektive soweit, dass andere Parlamentarier*innen ebenfalls mit „radikaleren“ Invektiven antworten. Die Debatte erlebt eine emotionale Polarisierung die der Logik des Populismus (Brinkmann & Panreck, 2019) entspricht. Diese verstärkt sich in der untersuchten Debatte, da dort jeweils der identitäre Anspruch der Parteien diametral auseinandergeht. Invektive können dann der emotionalisierten Repräsentation der jeweiligen Wählergruppen dienen.
Die häufigste Zwischenruf-Partei ist die LINKE, die aber gleichzeitig ihr direktes politisches Ansinnen nicht durchsetzen kann. Anstatt Hilfen zu beschließen, wird der Antrag in die Ausschüsse verwiesen. Die AfD wird durch die Zwischenrufe der liberalen Parteien als „Anti-Flüchtlingspartei“ (Hambauer & Mays, 2018: 150f) und „Anti-Establishment Partei“ (Lewandowsky, 2015: 119) hervorgehoben.
Konzentriert sich die Deutungsperspektive stärker auf die Frage, wie mit Invektivität in Parlamentsdebatten umgegangen wird, treten die Zwischenruf-Sequenzen als meta-invektive Gattung in den Vordergrund. Der Zwischenruf als antiritualistisches Ritual (Hitzler, 1990: 620ff) wird zur Anschlusskommunikation, die sich auf das invektive Potential der affizierenden Aussage in der Rede bezieht. Dabei versteht sich die Geste des Dazwischenrufens, sowie die Invektive in den Rufen, als Aushandlungsformen. Deren Verhandlung erfolgt im medialen Diskurs oder in seltenen Fällen durch eine Rüge des Vorsitzenden. Dabei kann die Polarisierungshypothese hier so gedeutet werden, dass die Konstruktion der Disproportionalität (Christmann & Günther, 2013:252), bei radikaleren Aussagen die Dramatisierung (ebd.: 252) des eigenen Einspruchs durch starke Invektive erfordert.
Zwischenrufe sind dann eine mehrfachadressierte Sprech-Handlung (Hitzler, 1990: 625f), die andere Abgeordnete und die Parlamentarischen Öffentlichkeit (Bleses, 2020: 498) darauf aufmerksam machen will, dass hier eine illegitime Aussage getroffen wurde. Diese Disproportionalitäten lassen sich durch zugebilligte Verantwortlichkeit (Goffman & Herkommer, 1971: 198f), die die Rufer*innen implizieren, unterschieden.
Auf heimtückische Aussagen (ebd.: 200) wird im Zwischenruf mit direkten Anklagen wie im Menschenfeind-Beispiel reagiert. Ein anderes Beispiel wäre hierfür, dass Michael Kuffer [CDU/CSU] in die Zwischenfrage der LINKEN nach der Verantwortung der Bundesregierung „unverantwortliche Schaufensterpolitik“ (Plenarprotokoll 19/174, 2020: 21867) hineinruft. Inhaltich impliziert der Zwischenrufe dabei stets einen absichtsvollen Verstoß gegen die politische (Schaufensterpolitik) oder demokratische Ordnung (Menschenfeindlichkeit), indem die „eigentliche Absicht“ ausgerufen wird.
Unfähigkeiten (Goffman & Herkommer, 1971:201) werden durch Fragen oder Ergänzungen im „belehrenden Ton“ dazwischengerufen. Etwa wenn Corinna Rüffer [Bündnis 90/Die GRÜNEN] Horst Seehofer zuruft, „Was ist denn mit alten und behinderten Menschen?“ (ebd.: 21859), wenn dieser die Aufnahme von 1000 behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen lobt. Oder Sjemtje Möller [SPD] ebenfalls dazu ruft: “Wir würden auch mehr nehmen!“ (ebd.: 21859).
Die Heiterkeit gerade dieser zweiten Form der Reaktion legt die Vermutung der Inszenierung aus der Rollenpraxis der Politiker*innen nahe, die versuchen im Zwischenruf relevant zu werden (Hitzler, 1990:629f). Dennoch ist es in dieser Debatte gerade dort, wo es um das unmittelbare Überleben von Menschen geht, angemessen, von einem „Einspruchssignal“, jenseits des politischen Kalkül zu sprechen. Auch hier zeigt sich wieder der Vorteil der gattungsanalytischen Fassung der Sequenz, um Vergleichbarkeiten zwischen invektiven Aussagen und meta-invektiven Zwischenrufe ziehen zu können. So eröffnet sich die Fragen, wie sich die Zwischenruf-Sequenzen im anschließenden Antrag über das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken von jenen zu Moria unterscheiden.
Beide Formen erzeugen, im Vergleich zur meta-invektiven Kritik im Redebeitrag, fast keine direkte Anschlusskommunikation. Dies muss aber nicht bedeuten, dass die Rufe keinen Einfluss auf die Anwesenden und die Redner*innen haben.
Nach der formalen Beschreibung der Gattung wurden zwei Deutungsperspektiven auf die Funktion von Zwischenrufen in der Moria Debatte gegeben. Während die Erste die invektiven Potentiale, sowohl der Reden, als auch der Zwischenrufe in eine Polarisierungslogik des Politischen einordnet, bezieht sich die Zweite auf die Möglichkeit der Gattung, meta-invektive Kritik zu artikulieren. Für eine tiefere Untersuchung sind sowohl die Anschlusskommunikation der Parlamentarischen Öffentlichkeit als auch ein historischer und thematischer Vergleich mit anderen Debatten interessant.
Ein nächster Schritt könnte die Auswertung des medialen Echos der Debatte sein. Wird dort auf die Zwischenrufe eingegangen, oder spielen nur die Reden eine Rolle? Wie polarisiert sind Zwischenruf-Sequenzen, wenn es um Bauverordnungen geht? Welche Zwischenruf-Sequenzen ereigneten sich 1978 in der Debatte um vietnamesische Bootsflüchtlinge? Gibt es hier eine Veränderung der politischen Kultur?
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Tagesschau Youtube-Kanal: Moria: Bundestag debattiert über Brand in Flüchtlingslager, https://www.youtube.com/watch?v=5KsC8uKzvZc&t=1293s&abchannel=tagesschau abgerufen am 12.02.2021