Rassismus(kritik) und soziale (Un)Ordnung - Eine soziologische Filmanalyse (Pauline Dunkel)
Kurzfassung der Projektarbeit von Pauline Dunkel (Soziologie Diplom). Der Volltext der Arbeit kann hier eingesehen werden.
In dieser Arbeit wurde versucht, die unmittelbare Praxis invektiver Differenzierung in dem Film „Der Sommer mit Mamã“ (org. „Que Horas Ela Volta?“) von Anna Muylaert zu erörtern. Dieser zeichnet die Beziehung der Hausangestellten Val zu der sie beschäftigenden Familie nach, die eine Irritation erfährt, als Vals Tochter (Jessica) diese den Sommer über im Haus ihrer Herrschaft besucht. Jessica ist nicht gewillt sich dem im Haus geltenden und auf Klassimus und Rassimus basierenden Regelwerk zu unterwerfen. Konflikte entstehen und spitzen sich zu, vor allem als Val, die zu Beginn stets darauf bedacht ist, Jessica in Schranken zu weisen, im Laufe des Films ebenfalls die herrschenden Ordnungsvorstellungen in Frage zu stellen beginnt.
Die Arbeit fragt danach, wie Differenzierung invektiv zur Konstruktion eines kulturell „Anderen“ (Val und Jessica) praktiziert wird. Daran schließt die Frage an, in welchem Zusammenhang dies im Hinblick auf die Produktion und Reproduktion sozialer Ordnung relevant ist.
Wie kommt das Invektive in den Kulturenvergleich?
Niklas Luhmann stellt in „Kultur als historischer Begriff“ (Vgl. Luhmann, 1999:48f.) fest, dass dem Kulturbegriff die Vergleichsoperation inhärent ist. Aus systemtheoretischer Perspektive ist dieser Vergleich mittels Kultur heterarchisch, findet also auf einer Ebene gleichberechtigt statt, da Kultur nach Luhmann eine Metaebene darstellt, die aufgrund des Vergleichspunktes die Gemeinsamkeit des zu Vergleichenden hervorhebt und alle Phänomene durch Relativierung von Essentialisierung befreit. Tatsächlich sind diese Vergleiche jedoch meist diskursiv hierarchisch aufgeladen, vor allem wenn die Vergleichspunkte positiv oder negativ konnotiert sind und das zu Vergleichende unter dem Deckmantel der Kultur essentialisiert wird. Der Zusammenhang zwischen Invekitivät und Kulturvergleichen scheint demnach signifikant.
Indem er Kultur als durch Kommunikation realisiert sieht, wendet sich Luhmann von einem Kulturverständnis, das die objektive Gegebenheit von Kultur propagiert, ab. Dies geschieht auch in dem interaktionistischen Theoriestrang bzw. den Doing-Ansätzen neueren Datums, in denen dann die performative Komponente von Kultur hervorgehoben wird. Dabei sieht „Doing culture [Hervorh. i. O.] […] Kultur in ihrem praktischen Vollzug.“ (Hörnig/Reuter, 2004:10). Diese praxeologische Auffassung von Kultur wurde der folgenden Analyse zugrunde gelegt.
Wie der Film 'Der Sommer mit Mama' die Konstruktion des 'kulturell Anderen' entlarvt
Im Vorfeld der Filmanalyse wurden einige Filmszenen ausgewählt und anschließend transkribiert. Die Auswahl der analysierten Szenen erfolgte zum einen hinsichtlich ihrer Interaktionsdichte im Hinblick auf Konfliktträchtigkeit bzw. ihres Konfliktpotenzials, zum anderen nach ihrer Relevanz für die Handlung. Um einen Überblick über den Materialinhalt im Hinblick auf die zu bearbeitende Forschungsfrage zu erhalten und eine erste Auswertung mittels induktiver Kategorienbildung vorzunehmen, wurden die transkribierten Szenen thematisch kodiert. Ausgewählte Sequenzen wurden in der Feinanalyse positionierungstheoretisch analysiert, das heißt danach befragt, wie sich invektive Differenzierung mittels kommunikativer Zuschreibungsakte (Selbst- und Fremdpositionierungen) vollzieht.
Im untersuchten Film wird Invektivität in Form von negativ konnotierten Fremdzuschreibungen und positiv konnotierten Selbstzuschreibungen kommunikativ praktiziert. Invektivität bringt hier eine spezifische Subjektkonstruktion hervor. Durch verschiedene Attributionen (im Hinblick auf die Absprache von Intelligenz, Geschmack, Weltgewandtheit) konstruiert die reiche Oberschichtsfamilie das Bild eines unterlegenen kulturell Anderen, das Val und Jessica zugeschrieben wird. Diese Attribute werden qua sozialer und geografischer Herkunft von den Invektierenden (Barbara, Carlos, Fabio; Familienmitglieder für die die Hausangestellte Val arbeitet) als „natürlich“ vorausgesetzt. Indem jedoch die von den Invektivierenden (Barbara, Carlos, Fabio) vorgenommenen Fremdpositionierungen der Invektivierten (Val, Jessica) durch die Positionierungen des Films (Darstellung der Figuren) ins Gegenteil verkehrt werden, entlarvt der Film die Konstruktivität dieser Zuschreibungen und Positionierungen.
Dabei zeigt der Film nicht nur das herabsetzende Potential der Handlungen und Äußerungen der Figuren: Ebenso relevant wie die herabsetzenden Attribute ist das System aus Regeln und Verboten für die Konstruktion von Val und Jessica als 'kulturell Andere'. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei der Pool ein, dessen Nutzung der 'Herrschaft' vorbehalten ist und der für Val und Jessica als "kulturell Andere" Tabu bleibt. Dabei ist ein „kulturell Anderer“ gleichermaßen Bedingung (im Hinblick auf die Legitimation der entsprechenden Regeln) als auch Produkt der sozialen Ordnung, die eine Ungleichbehandlung gemessen an der sozialen Herkunft/Rolle vorschreibt. Hier fungiert Invektivität als „[…] konstitutiver Aspekt von Ordnungsbildung […]“ (Ellerbrock et al., 2017:7). Wenn sich also zunächst Jessica und am Ende des Films auch Val im Pool befinden, zeigt dies auch die Irritation der zuvor herrschenden Positionierungen und Platzzuweisungen.
Dass Jessicas Ankunft diese soziale Ordnung irritiert, liegt unter anderem daran, dass ihre Ankunft dieses subtile System von differenzierenden Regelungen erklärungsbedürftig werden lässt. Gerade zu Beginn des Films kann beobachtet werden, dass den geäußerten Implikationen (mittels Para- und Körpersprache) eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Wahrung einer sich aufgeklärt und humanistisch gebenden Fassade zukommt, die vor allem Barbara im Umgang mit Val zu pflegen scheint. Diese Fassade setzt sich aus Werten und Normen zusammen, die Freundlichkeit, Höflichkeit und vor allem Gleichheit gebieten. Während jedoch vordergründig Egalität vorgegeben wird, enthalten jedoch auch die freundlichen Beteuerungen, Val gehöre schließlich zur Familie, implizite Platzzuweisungen. So kann das auf Ungleichheit basierende Regelsystem durch implizit geäußerte Differenzierungen trotz oder gerade durch die Fassade produziert und reproduziert werden. Die Fassade fängt an zu bröckeln, wenn Negation von Differenzen durch verschiedene Positionierungen praktiziert wird und Regeln zunehmend explikationswürdig (und damit auch kritisierbar) werden. Die Explikation dient dann der Wiederherstellung (oder zumindest der Versuch einer Wiederherstellung) der sozialen Ordnung. Dies wird durch filmische Mittel an der Figur Barbara sinnbildlich verdeutlicht, indem diese auch versucht die fragwürdig gewordene Ordnung mittels Körpersprache wiederherzustellen. So ordnet sie immer dann ihr äußeres Erscheinungsbild (Glattstreichen der Kleidung, der Haare etc.), wenn Differenz negiert wurde.
Doing difference und die aktive Herstellung sozialer Ordnung
Für die Interpretation der Ergebnisse stellte sich eine Kombination des Luhmann’schen Verständnisses des Kulturbegriffs mit dem dargelegten Doing-Ansatz als besonders fruchtbar heraus. Hier zeigt sich die Konstruktion eines kulturell Anderen mittels invektiver Humandifferenzierung (Vgl. Hirschauer, 2014). Die Annahme einer kulturellen Andersartigkeit ist dabei ebenso praktisch konstruktiv wie die Herstellung zweier vermeintlich unterschiedlicher Kulturen mittels impliziten Vergleichsoperationen (hier: Zuschreibung von Attributionen) durch die Akteur*innen des Films selbst. Dem doing difference der Familie (Barbara, Carlos, Fabio) liegt dabei genau ein solches 'objektives' Kulturverständnis zugrunde, das mit Betonung der praxeologisch konstruktivistischen Verfasstheit von Kultur im Zuge der „Praxiswende“ (Reuter, 2004:239) kritisiert wurde. Das Kulturverständnis von Barbara, Carlos und Fabio geht sogar noch einen Schritt weiter und verknüpft von ihnen als Wirklichkeit vorausgesetzte Stereotype nicht nur mit der sozialen, sondern auch mit der geografischen Herkunft. Der Film macht jedoch deutlich, dass eben diese 'objektiven Gegebenheiten' nicht per sé vorhanden, sondern von Barbara, Carlos, Fabio und auch Val aktiv hergestellt werden.
Aus der filmischen Darstellung der Invektiven mittels subtiler impliziter Kommunikation ergeben sich eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten für die Zuschauenden. Denn eben unter dem Deckmantel gemeinsamer Werte können Rassismen und Klassismen praktiziert werden, ohne sich explizit als solche zu offenbaren.
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