06.02.2024
In der Kinder- und Jugendarbeit über den Krieg sprechen
Agnes Scharnetzky hat sich für das Magazin corax mit der Frage beschäftigt, wie das Thema Krieg im Rahmen von Kinder- und Jugendarbeit besprochen werden kann.
Für die freundliche Genehmigung, den Beitrag hier zu teilen, danken wir dem corax. Erstveröffentlichung: Corax, Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen, ISBN 1869-9910, Ausgabe 2/2023
Hier ihr Beitrag:
WIE SAGT MAN’S DEN KINDERN [UND JUGENDLICHEN]?
In der Jugendarbeit über Krieg und Frieden sprechen.
Agnes Scharnetzky, Wissenschaftliche Mitarbeiterin John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie
Es gab seit 1946 global gesehen keinen Zeitpunkt ohne Krieg[1] (vgl. bpb Themenmodul Krieg und Gewaltkonflikte). Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dem 24. Februar 2022 war gleichwohl ein wichtiger Impuls für viele (politische) Bildner*innen, sich der Thematisierung von Krieg und Frieden in der Begegnung mit jungen Menschen und in Bildungssituationen neu zu stellen. Auch die politischen Bildner*innen hat der Angriff und Ausbruch des Krieges betroffen gemacht. Gleichzeitig ist es professioneller Anspruch, nicht sprachlos zu bleiben.[2] Ähnliche Impulse gab es sicher auch im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg, dem Irak-Krieg oder dem Afghanistan-Krieg. Es geht in diesen Fällen in Bildungskontexten nicht nur um den Anspruch, geopolitische, sicherheitspolitische Interessen oder historische Hintergründe zu erklären. Gleichermaßen sollen Positionen und Meinungen zu den genannten Aspekten in Bildungssituationen diskutiert werden können und auch Interventions- und Lösungsvorschläge sowie bspw. die deutsche Position und deutsche Beiträge verhandeltwerden. Dabei ist völlig klar, dass sich die Haltungen der Teilnehmenden von Bildungsformaten nicht unmittelbar in der deutschen oder europäischen Außen- und Sicherheitspolitik niederschlagen. Es ist aber höchst menschlich, in einer Situation der Ohnmacht, auch der Angst, Handlungssicherheit zu suchen. Politischen Bilder*innen kommt nicht nur eine moderierende Rolle zu. Sie sind mitverantwortlich für die Einordnung, ggf. Klarstellung oder Richtigstellung, sie sollen teilnehmendenorientiert agieren und dennoch Kontroversität wahren und dabei Überwältigung vermeiden. Sie müssen im Blick behalten, welche Positionen und Argumentationen marginalisiert werden und pädagogisch gestärkt werden sollten, aber auch, wo Impulse gesetzt werden können, Urteilsfähigkeit weiter zu entwickeln und Handlungsfähigkeit zu stärken.
Kriege werden in Bildungsprozessen vor allem dann zum Thema, wenn sie uns indirekt oder unmittelbar selbst betreffen (könnten) – im Blick auf die Bundeswehr im Mali-Einsatz gibt es z.B. relativ wenig Initiativen, aber auch wenige Nachfragen, das politisch bildend zum Thema zu machen. Naheliegend und erklärbar: Krieg (in Abgrenzung zum gewohnten Frieden, in dem die meisten Menschen in Deutschland in großer Selbstverständlichkeit leben) wird thematisiert, wenn er potentiell in die eigene Lebenswirklichkeit hineinragt. Es ist durchaus adressat*innenorientiert, wenn wir die Verunsicherung aufnehmen, die sich aus einem Kriegsausbruch auf europäischen Boden nicht nur bei jungen Menschen ergibt.
Es ist eine immense Herausforderung, der sich Bildner:*nnen stellen. „Das Problem, das in der politischen Bildung in solchen Situationen entsteht, ist die Sprachlosigkeit […]. Niemand blickt wirklich durch und alle denken: ‚Wir müssen erst mehr lesen und uns noch besser informieren, dann können wir uns auch im Rahmen eines Bildungsangebots zu diesem Thema verhalten’. Aber das ist falsch. Auch durch mehr Lesen und mehr Information wird sich das Ohnmachtsgefühl nicht vermeiden lassen.“ (Zitat, 2022 joddid.de)
Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit, die der Friedenspädagoge Uli Jäger in seiner Keynote zur Partnerkonferenz der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung (SLpB)[3] prägnant formuliert hat: Der Krieg in der Ukraine ist in der Wahrnehmung junger Menschen ein besorgniserregendes Ereignis, doch sortiert sich für junge Menschen insgesamt ein in eine multiple Krisensituation. Jugendliche setzen sich nach wie vor auch mit der Pandemie und ihren individuellen und gesellschaftlichen Folgen, der Klimakrise, Armut, Flucht und Migration auseinander. Das macht den Krieg nicht irrelevanter, unter Umständen fühlt er sich noch bedrohlicher an, weil junge Menschen ohnehin unter immensem Druck stehen. Als politische Bildner*innen haben wir also auch die Verantwortung, sie in diesen Verunsicherungen zu begleiten und zu stärken, ihnen Orientierung anzubieten.
In der Auseinandersetzung mit jungen Menschen im Themenspektrum Krieg und Frieden begegnet man nach Jäger drei Bedürfnissen junger Menschen: Information, Sicherheit und Friedenshandeln. Sie können an Fragen illustriert werden, die von Kindern und Jugendlichen auf dem empfehlenswerten Portal www.frieden-fragen.deeingereicht wurden. Es bietet die Möglichkeit, Fragen von Expert*innen der Berghof-Foundation in altersangemessener Sprache und Komplexität beantworten zu lassen. Sowohl die Fragen als auch die Antworten eignen sich in vielen Bildungs- und Lernsituationen – das kann auch ein Zwiegespräch zwischen Tür und Angel sein.
Das erste Bedürfnis macht Jäger an der Frage „Warum hat Putin den Krieg angefangen?“ deutlich: Hier braucht jemand Information. Dieses Bedürfnis sollten Erwachsene ernst nehmen, auch wenn und weil sie nicht alles wissen. Es lohnt, sich mit den Heranwachsenden gemeinsam auf die Suche nach Antworten zu machen, zu recherchieren, dabei auch beim kritischen Umgang mit Quellen zu unterstützen und junge Menschen in ihrer Analysefähigkeit zu stärken. Gleichzeitig können politische Bildner*innen Beiträge leisten, für Kinder und Jugendliche Transparenz herzustellen, wie politische Entscheidungen getroffen werden. Etwa, wie eine „Zeitenwende“-Entscheidung vollzogen wird. Nicht Bundeskanzler Olaf Scholz allein hat über 100 Milliarden Euro verfügt. Es war der Bundestag in Gänze und nach entsprechender Debatte, wenn auch unter großem Zeitdruck, der die Entscheidung getroffen hat. Ähnliches gilt für die Frage von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und die Frage von Waffenlieferungen. Ebenfalls lohnt es sich, nicht nur Beiträge zu Kriegen, sondern auch Friedensbemühungen der Politik und des Staates sichtbar und zugänglich zu machen und deren Instrumente anzuschauen. (vgl. u.a. Arbeitsblatt 4 des Falter Frieden machen der bpb, abrufbar unter: https://www.bpb.de/shop/materialien/falter/250546/frieden-machen/) Diese Maßnahmen und Initiativen in ihrer Gleichzeitigkeit zu Kampfhandlungen der Bundeswehr zu betrachten wirft ein Schlaglicht auf die Komplexität der globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen.
Eine zweite Frage junger Menschen zitiert Jäger: „Ist es wahrscheinlich, dass es einen Weltkrieg gibt?“ Sie steht für das Bedürfnis nach Sicherheit. Kinder haben nachvollziehbar Angst, sie könnten selbst von Krieg betroffen sein. Sie können Kriegsangst entwickeln. Guten Gewissens kann ad hoc geantwortet werden, dass Krieg in Deutschland aktuell ein unwahrscheinliches Szenario ist. Dennoch muss auch ehrlich damit umgegangen werden, dass die Friedenserzählung, die auch mit der europäischen Union verknüpft war, ihr Versprechen nicht halten konnte. (vgl. european-union.europa.eu).
Hoffnung und Mut macht die dritte Frage, die Jäger ausgewählt hat. Sie bringt zum Ausdruck, dass junge Menschen einen hohen friedensstiftenden Handlungsimpuls haben, wenn sie mit Unrecht und Gewalt konfrontiert sind: „Wie kann ich ukrainisch lernen? In meinem Fußballverein ist ein Junge aus der Ukraine.“ Es wäre vermessen und kontraproduktiv, jungen Menschen vorzugaukeln, sie könnten im Handumdrehen alles ändern, aber es ist hochgradig sinnvoll und ratsam, sie in ihrem Bedürfnis nach Friedenshandeln zu bestärken. Für den Einzelnen kann es ein probater Ausweg aus der empfundenen Ohnmacht sein, selbst einen konkreten Beitrag leisten zu können. Dieses Handeln hat dann immer auch eine politische Dimension und Relevanz.
Bildner*innen bewegen sich in diesem Spektrum grundsätzlich in Spannungsfeldern. Sie müssen bereit und in der Lage sein, Ungewissheiten auszuhalten. Der Krieg läuft, die Nachrichtenlage verändert sich ständig, und die Lage ist oft uneindeutig. Dennoch soll gegenüber den Adressat*innen Sicherheit vermittelt werden, um der Angst keinen Auftrieb zu geben. Ebenso ist es zentral, Dilemmata als solche offen zu legen und trotzdem Anhaltspunkte für Orientierung zu geben. Dabei geht es auch darum, systematisch Desinformation zu bekämpfen. Nicht zuletzt ist es gerade in der außerschulischen Jugendarbeit geboten, Lernprozesse offen zu gestalten, auf die Bedürfnisse, Fragen und Wünsche der Teilnehmenden einzugehen und dennoch in der pädagogischen Arbeit mit Heranwachsenden Werte zu erarbeiten, die die Adressat*innen sich aneignen können.
Frieden, aber auch Krieg, in Bildungssituationen zum Thema zu machen berührt immer auch Bildung für Nachhaltige Entwicklung: Ziel 16 der Sustainable Development Goals (SDGs) formuliert „Frieden, körperliche Unversehrtheit und Schutz durch ein stabiles Rechtssystem sind unabdingbare Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung und Wohlstand. Ziel ist die Verringerung aller Formen von Gewalt, Zugang zu Justiz für alle und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und transparente Institutionen“ (vgl. sdgs.un.org/goals). In der Agenda 2030 gibt es viele Impulse, wie das in der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen konkret umgesetzt werden kann, auch speziell mit Blick auf die Jugendarbeit (vgl. bildung2030.at)[4].
Lohnenswert, sich das in diesem Zusammenhang bewusst zu machen. Das Spektrum der Anlässe und Themenfelder, in dem Krieg und Frieden thematisiert werden, erweitert sich. Zudem zieht es die Fragen breiter auf, als nur einen konkreten Krieg oder Konflikt zu betrachten. Es öffnet für verschiedene Konzepte von Frieden und fragt, welchen Frieden meinen wir eigentlich? (vgl. Erklärvideo der bpb, Was ist Frieden?) Aber auch: Welche Wege zum Frieden finden wir? Diese Fragen können auf ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen beantwortet werden – frei nach Gerhart Himmelmanns Demokratiekonzepten, abgeleitet für Frieden: Frieden als Phänomen des individuellen Zusammenlebens – etwa die Abwesenheit von Streit, die Suche nach Ausgleich konkurrierender Interessen im unmittelbaren Zusammenleben, Frieden als Gesellschaftsprinzip, in dem es allgemein anerkannte, gewaltfreie Modi der Konfliktaustragung und -regelung gibt und Frieden als Herrschaftsprinzip, in dem international widerstreitende Interessen diplomatisch ausgehandelt werden und der gegenseitige militärische Angriff geächtet ist.
Sich in der politischen Bildung und der Jugendarbeit diesen Themen zu stellen und den Leitwert Frieden zu thematisieren und zu stärken trägt immer auch zu allgemeinen Bildungszielen bei. Konfliktkultur wird gefördert, Dialogfähigkeit angeregt, Empathie gestärkt. Konkret bei der Behandlung von Friedens- und Sicherheitspolitik wird aber auch der Perspektivwechsel geübt, die Selbstfürsorge angeregt (sich selbst vor Überforderung und der Überwältigung durch Ohnmachtsgefühle zu schützen) und Ambiguitätstoleranz ausgebildet. Frieden wird jungen Menschen als Wert und Ethos nahegebracht (vgl. Jäger 2023).
Wie auch für die politische Bildung gilt für die Friedensbildung, die Fachkräfte sind keine gesellschaftliche Feuerwehr. Wo alle nach Luft schnappen und zuweilen erstarrt sind, müssen auch Bildner*innen und Pädagog*innen innehalten dürfen, um sich zu sortieren. Das kann sowohl gegenüber jungen Menschen als auch gegenüber Auftraggeber*innen und anderen Akteur*innen deutlich und transparent gemacht werden (vgl. Berghof Foundation 2022).
Literatur und Quellen:
Berghof Foundation (2022): 11 friedenspädagogische Denkanstöße für den Umgang mit dem Ukraine-Krieg. https://berghof-foundation.org/news/friedenspaedagogische-denkanstoesse-fuer-den-umgang-mit-krieg-2 (abgerufen am 9.5.2023).
Berghof-Foundation (2022): „Friedensbildung ist keine Feuerwehr.“ Empfehlungen für die Zukunft der Friedensbildung. https://berghof-foundation.org/news/friedensbildung-ist-keine-feuerwehr (abgerufen am 14.5.2023).
Bildung 2030. https://bildung2030.at/ausserschulische-lernorte/jugendarbeit/, (abgerufen am 9.5.2023).
bpb: Was ist Frieden? Erklärvideo im Rahmen der Ausstellung Frieden machen. https://www.bpb.de/mediathek/video/254312/was-ist-frieden/ (abgerufen am 14.5.2023).
Zu den Erfolgen der Europäischen Union: https://european-union.europa.eu/priorities-and-actions/achievements_de#:~:text=Frieden%20und%20Stabilität,Demokratie%2C%20Grundrechte%20und%20Rechtsstaatlichkeit%20ein. (Abbildung)
Jäger, Uli (2023): Mehr Friedensethik in der politischen Bildung? Keynote auf der Partnerkonferenz der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung am 9.11.2023 abrufbar unter https://youtu.be/ULD8hmKKwyk (abgerufen am27.4.2023).
Jäger, Uli (2023): Zeitenwende? Anregungen für eine Friedenspädagogik in Zeiten des Krieges. Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (46. Jg. Heft 1), S. 10–12.
JoDDiD: über den Krieg sprechen. https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/joddid/das-joddid/news/ueber-den-krieg-sprechen (abgerufen am 27.4.2023).
Agnes Scharnetzky (2017): Frieden machen. Falter. bpb. https://www.bpb.de/shop/materialien/falter/250546/frieden-machen/ (abgerufen am ??).
UNO: Sustainable Development Goals (SDGS). https://sdgs.un.org/goals ( abgerufen am 12.5.2023).
[1] Die zugrunde gelegte Kriegsdefinition beinhaltet nur Kriege bzw. Konflikte, bei denen mindestens ein Staat beteiligt ist und mehr als 25 Personen aufgrund von bewaffneten Gefechten verstorben sind. (Vgl. bpb, Themenmodul Krieg und Gewaltkonflikte, http://sicherheitspolitik.bpb.de/de/m1?V=1+21.62+36.91&L=m1-ac-timeline.c; [letzter Zugriff, 27.4.2023]
[2] Die Friedenspädagog*innen der Berghof Foundation haben ihre Überlegungen thesenartig zugänglich gemacht (vgl. https://berghof-foundation.org/news/friedenspaedagogische-denkanstoesse-fuer-den-umgang-mit-krieg-2), auch die John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie hat Austausch initiiert und Impulse zur Verfügung gestellt. (www.joddid.de).
[3] Die Keynote ist videodokumentiert unter https://youtu.be/ULD8hmKKwyk.
[4] Vgl. https://bildung2030.at/ausserschulische-lernorte/jugendarbeit/