Politische Bildung als Integrationsangebot?
Was ist Integration? Wer soll wohinein integriert werden, warum und unter welchen Bedingungen? Als politische Bildner:innen gehen wir der Beantwortung dieser Fragen nach. Folglich wird untersucht, welches Wissen, welche Fähigkeiten und Strukturen für das Gelingen von Integration wesentlich sind, damit aus Perspektive der politischen Bildung von gelungener Integration gesprochen werden kann.
Über Integration wird besonders dann nachgedacht und diskutiert, wenn es um Aspekte von Migration geht. Das ist auch in der politischen Bildung häufig der Fall. Da v. a. in den vergangenen zehn Jahren viele Menschen nach Deutschland geflüchtet und eingewandert sind, stand das Thema Integration von Zugewanderten permanent im Fokus. Dabei richtet – und verengt – sich der Blick oft auf Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Sie werden als eine spezielle Gruppe von Personen angesehen. Unter ihnen scheinen v.a. diejenigen vorrangig „integrationsbedürftig“, die fremder Herkunft sind und eine andere politische, kulturelle sowie religiöse Sozialisation durchlaufen haben, als es in Deutschland offenbar durchschnittlich üblich ist. Um dazuzugehören, müssen Zugewanderte und ihre Nachkommen – so die herrschende Vorstellung – bestimmte Bedingungen erfüllen: Sie sollen zum Beispiel an Integrationskursen teilnehmen, auf das Grundgesetz schwören, ihren Glauben nicht zu stark in den Vordergrund rücken oder/und die deutsche Sprache lernen und weitgehend fehlerfrei verwenden. Der Druck, sich immer wieder beweisen zu müssen, führt oft dazu, dass zugewanderte Menschen und ihre Nachkommen sich in Deutschland stets wie Fremde fühlen. Sie gehören so, wie sie sind, nicht dazu und werden nicht als eigenwertige, kompetente Personen wahrgenommen, anerkannt und wertgeschätzt. Vielmehr redet und entscheidet man – so hat es den Anschein – über ihren Kopf hinweg. Ihre Bedürfnisse, Vorstellungen, Fähigkeiten und Erfahrungen werden nicht genügend gesehen. Das und andere Faktoren stellen insbesondere die Bindung von Zugewanderten (sowie ihren Kindern und Kindeskindern) zu Deutschland und der hiesigen Gesellschaft auf den Prüfstand.
Betrachtet man Zuwanderung als einen beispielhaften Zugang zum Thema Integration, wird bereits sehr gut deutlich, worum es hierbei im Kern geht: Integration befasst sich immer mit bestimmten Vorstellungen und Gefühlen von Zugehörigkeit und Bindung sowie von wahrgenommener Fremdheit und Andersartigkeit. Deshalb spielt Integration längst nicht nur vor dem Hintergrund von Zuwanderung, Herkunft, Hautfarbe oder/und Religion eine Rolle, sondern im Leben aller Menschen, und das nahezu täglich. Allerdings ist uns das oft nicht bewusst. Fragen der Integration hat es schon immer gegeben. Sie kommen immer dann auf, wenn Menschen aufeinandertreffen: etwa in der Nachbarschaft, der Schulklasse, auf Arbeit oder/und im Verein, aber auch bei der demokratischen Politik. Wo fühle ich mich (nicht) dazugehörig und warum? Welche Rolle(n) nehme ich in einer bestimmten Situation/ einem Setting ein? Gefällt mir diese Rolle? Gibt es Momente, in denen ich mich benachteiligt und nicht gesehen fühle? Welche Verantwortung trage ich, was kann ich mitentscheiden und inwiefern ist es mir möglich, mein Umfeld mitzugestalten? Womit identifiziere ich mich? Was ist für mich „normal“ und „angemessen“ und warum? Politische Bildner:innen müssen in erster Linie Mittel und Wege bereitstellen, die geeignet sind, um sich mit diesen Fragen in angemessener Form auseinanderzusetzen. Außerdem ist es Aufgabe von politischer Bildung, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Integration jede:n Einzelne:n überall umgibt und betrifft und dass es sich lohnt, genau darüber nachzudenken. Eine solche Reflexion über Teil-Sein, Prozesse von Identifikation und Teilwerdung ist voraussetzungsreich, fordernd und wird in Bildungsprozessen bisher häufig banalisiert und zu kurz gedacht.
Literaturempfehlungen:
Achour, Sabine (2018): Die „gespaltene Gesellschaft“. Herausforderungen und Konsequenzen für die politische Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte: Politische Bildung 13-14, S. 40-46.
Bödeker, Sebastian (2014): Die ungleiche Bürgergesellschaft – Warum soziale Ungleichheit zum Problem für die Demokratie wird. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Dossier Bildung. online verfügbar
Einige nützliche Hintergrundinformationen bezüglich gesellschaftlicher Desintegration in der Demokratie werden in den beiden Texten bereitgestellt.
Foroutan, Naika: Was zu tun ist – für eine gelingende Migrationsgesellschaft. Gespräch mit der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen. online verfügbar
Eine echte Koryphäe auf dem Gebiet der Integrationsforschung ist Prof. Naika Foroutan. Einige ihrer zentralen Gedanken für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft sind hier nachzuhören.
Literatur zur weiteren Vertiefung:
Hufer, Klaus-Peter (2006): Welche politische Bildung braucht die Einwanderungsgesellschaft? In: Behrens, Heidi/ Motte, Jan (Hrsg.): Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaf. Schwalbach/ Ts., S. 408-415.
Lange, Dirk (2009): Migrationspolitische Bildung. Das Bürgerbewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft, Universität Hannover. online verfügbar
Rind-Menzel, Laura (2019): Politische Bildung als Einbürgerungsangebot? In: Bochmann, Cathleen/ Döring, Helge (Hrsg.): Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten, Berlin, S. 327-350.
Bei Integration spielen oft Gruppenkonstellationen und -wahrnehmungen eine zentrale Rolle: Oft ist die Rede von einem imaginierten „Wir“ und den „Anderen“: Um Mechanismen von sogenanntem Othering zu verstehen, ist folgende Literatur sehr eindrucksvoll:
Do Mar Castro Varela, Maria/ Mercheril, Paul (2016): Die Dämonisierung der Anderen, Bielefeld.
Scherr, Albert (2017): Wir und die Anderen. In: Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): Die Konstruktion der Anderen. In: Außerschulische Bildung 02/2017, Bonn, S. 10-15.
Da bei (empfundener) Desintegration des Weiteren (wahrgenommene) Ungerechtigkeits- und Machtverhältnisse eine Rolle spielen, sind folgende Beiträge als Basisliteratur zu empfehlen:
Transfer für Bildung e. V. (2018): „Es geht darum, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen.“ Interview mit C. Riegel. online verfügbar
Wagner, Bernd (2010): Fremdsein und Statuspassage. Perspektiven für Bildungsangebote mit der Zielgruppe Neuzuwandernde. In: Mercheril, Paul (Hrsg.): Spannungsverhältnisse, Münster, S. 173-188.
Yildiz, Erol (2010): Über die Normalisierung kultureller Hegemonie im Alltag. In: Mecheril, Paul/ Dirim, Inci/ Gomolla, Mechthild/ Hornberg, Sabine/ Stojanov, Krassimir (Hrsg.): Spannungsverhältnisse, Münster, S. 59-77.