Politische Bildung in Aktion/Bewegungen
Darf man Adressat:innen politischer Bildung im Rahmen von Bildungsprozessen zu realem politischen Handeln "verführen"? Zu dieser Frage wird in der Disziplin seit vielen Jahren gestritten. Insbesondere die schulbezogene politische Bildung tut sich in diesem Zusammenhang schwer, schließlich besteht die manifeste Gefahr der Überwältigung. Gleichwohl weist der 16. Deutsche Kinder- und Jugendbericht noch einmal nachdrücklich auf das Potential hin, das sich für die demokratische Bildung junger Menschen im Kontext sozialer und politischer Bewegungen ergibt. So heißt es darin beispielsweise: "Selbstinitiierte und selbstorganisierte Handlungsräume in Jugendkulturen und sozialen Bewegungen eröffnen nachhaltige Bildungsprozesse durch selbstbestimmtes, informelles Lernen, d. h., die Lernprozesse werden von den Subjekten autonom eingefordert und angestoßen, um eigene Fragen und gesellschaftliche Problemlagen zu verstehen und zu bearbeiten, sowie nach kollektiven politischen Handlungsmöglichkeiten zu suchen bzw. diese zu erproben und weiterzuentwickeln. Lernende organisieren sich selbst entsprechend ihrer Anliegen und Bildungs- räume, bringen ihre eigene Expertise als Betroffene ein und organisieren kooperative, subjektorientierte Lernformate (z. B. in Workshops, Seminaren, Sommerschulen, Camps und Konferenzen bis hin zur Gründung eigener Bildungsträger und Demokratischer Schulen). Diese Bildungsprozesse führen einerseits zu Veränderungen der Individuen und andererseits erzeugt die konstitutive Eigendynamik der kollektiven Praktiken neue Normen, Denk- und Handlungsweisen – entweder situativ oder aufgrund von Erfahrungen und in Auseinandersetzung mit neuen Kontexten" (16. KJB: 271). Aber: "Politische Bildungschancen in diesem Raum sind jedoch keineswegs Selbstläufer. Politisches Engagement und politische Aktionen führen nicht zwangsläufig zur Reflexion des eigenen Handelns, einer kritischen Betrachtung der eigenen Positionierung und einer konstruktiven Auseinandersetzung mit gegnerischen Akteuren. Der Dynamik politischen Handelns ist es durchaus inhärent, Positionen zuzuspitzen, durch eigene Betroffenheit und Leidenschaften Solidarität zu mobilisieren. Urteile und Standpunkte können sich auf personeller Ebene durch den Wunsch nach Zugehörigkeit zu einem sich in Bewegung befindlichen Kollektiv herausbilden und fußen nicht zwingend auf einer gründlichen Analyse und rationalen Abwägung von Argumenten. Gerade unter der Perspektive, dass soziale Bewegungen und Protestformationen Orte der Wissensproduktion sind, die wiederum nicht nur innerhalb der Bewegung an Machtbeziehungen und Hierarchien gekoppelt sind, sondern gleichfalls zu ideologischen Elementen gerinnen können, müssen auch die Hinweise darauf, wie soziale Bewegungen politische Bildungsprozesse verhindern können, berücksichtigt werden". (Ebd.: 272)
Unser Kollege Dirk Lange von unserem Partnerinstitut für die Didaktik der Demokratie in Hannover hat zu den Paradoxien und Herausforderungen, die sich im Kontext der politischen Bildung in Aktion oder in sozialen Bewegungen ergeben, eine kleine Einfühungslecture entwickelt, die wir Ihnen nicht vorenthalten möchten.
Literaturempfehlungen und Projekthinweise:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter, Berlin. online verfügbar
Der 16. Deutsche Kinder- und Jugendbericht liefert zu diesem Thema im 8. Kapitel ein eigenes Kapitel über Proteste, soziale Bewegungen und Jugendkulturen, welches dieses Thema aktuell und auf Kinder und Jugendliche bezogen gut zusammenfasst.
Kenner, Steve (i.E.): Politische Bildung in Aktion, Univ.-Diss., Hannover.
Wir erwarten in Kürze eine spannende Publikation von Steve Kenner mit dem Titel: "Politische Bildung in Aktion", in der er sich mit Bildungserfahrungen von Schüler:innen im Kontext selbstbestimmter politischer Partizipation auseinandersetzt und die am Institut für die Didaktik der Demokratie an der Universität Hannover als Dissertationsschrift eingereicht wurde.
Pohl, Kerstin (2019): Mit der Klasse zur Demo? Chancen und Gefahren realen politischen Handelns im Kontext politischer Bildung. online verfügbar
Unter dem Titel "Mit der Klasse zur Demo?" hat unsere Kollegin Kerstin Pohl von der Universität Mainz einen Aufsatz vorgelegt, in dem sie sich mit den Ambivalenzen einer aktionsorientierten politischen Bildung beschäftigt und der über die Seite der Bundeszentrale für politische Bildung online zur Verfügung steht.
Widmaier, Benedikt/ Nonnenmacher, Frank (Hrsg.) (2011): Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung, Schwalbach/ Ts.
Benedikt Widmaier und Frank Nonnenmacher haben bereits 2011 ein schönes Buch mit dem Titel "Partizipation als Bildungsziel" herausgegeben, in dem sie sich mit der Frage beschäftigen, welche Chancen aber auch Paradoxien sich in einer partizipationsorientierten politischen Bildung ergeben. Denn Partizipation wird heute eine Bedeutung zugeschrieben, die weit über Begründung und Legitimation von Demokratie hinausreicht. Partizipationsmöglichkeiten gelten als grundlegende Voraussetzung für gelingende Bildungs- und Entwicklungsprozesse. Für die politische Bildung, die sich neben der Vermittlung von politischem Wissen und der Schärfung des politischen Urteilsvermögens als drittes Bildungsziel auch die politische Partizipation auf ihre Fahnen geschrieben hat, wirft dies einige Fragen auf. Dabei gewinnt der politisch-pädagogische Zusammenhang zwischen Bildung und Aktion wieder an Bedeutung, der in der Geschichte der politischen Bildung schon einmal kontrovers diskutiert wurde.
Literatur zur weiteren Vertiefung:
Bunk, Benjamin (2016a): Pädagogik(en) der Bewegungen. Oder: Die (Re-)Produktion subalternen Wissens? In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen (Sammelbesprechung), 29. Jg., H. 4, S. 145–150.
Bunk, Benjamin (2016b): Bildungstheorie und Bewegungsforschung. Überlegungen zu Bildungsprozessen in sozialen Bewegungen. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 29. Jg., H. 4, S. 30–37.
Deutsche Vereinigung für politische Bildung (2016): Handlungsorientierung – Politische Bildung durch politische Aktion?, POLIS 02/2015.
Düx, Wiebken/ Prein, Gerald/ Sass, Erich/ Tully, Claus J. (2009): Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement. Eine empirische Studie zum informellen Lernen im Jugendalter. Wiesbaden, 2. Auflage.
Gloe, Marcus/ Oeftering, Tonio (2015): Widerstand als Aufgabe und Ziel politischer Bildung? Ein Bericht der Tagung „Kompetenz zum Widerstand – eine vernachlässigte Bildungsaufgabe“ vom 24.-26. März 2015 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. In: Politisches Lernen, H. 3-4/ 2015, S. 19-21.
Kenner, Steve / Wohnig, Alexander (2020): Zwischen Anerkennung und Frustration. Erfahrungen junger Menschen mit politischer Partizipation und politischem Protest. In: Szukala, Andrea/ Oeftering, Tonio (Hrsg.): Protest und Partizipation. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Baden-Baden, S. 109-130.
Szukala, Andrea/ Oeftering, Tonio (2020): Protest und Partizipation: Eine neue Agenda für die politische Bildung? In: Dies. (Hrsg.): Protest und Partizipation. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Baden-Baden, S. 7-25.