Eine "kurze Geschichte von Unschuld und Unglück": Zur intersektionalen Verschränkung von Armut, Risikodenken und Männlichkeitskonstruktionen in Identitätsromanen der Sattelzeit
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die These, dass sich Armut nicht vorrangig als messbarer sozialer Fakt, sondern als ein diskursiv erzeugtes, soziokulturell und historisch variables Konstrukt beschreiben lässt. Seit der ‚Sattelzeit‘ (ca. 1750 - 1850) wird Armut im deutschsprachigen Raum v. a. durch Narrative geprägt und kann selbst als narrativ generiert beschrieben werden. Gezeigt wird, dass spezifische ‚Armutsnarrative‘, die unsere Vorstellungen von Armut bis heute prägen, vor allem über die Frage nach der Beeinflussbarkeit strukturiert sind. Die diskursive Wahrnehmung von Armut als individuelles Risiko, d. h. als vermeid- und behebbarer Zustand, wird unter dem Vorzeichen der bürgerlichen Gesellschaft zudem klar männlich kodiert, während die riskante Überwindung von Armut ein zentrales Element bei der narrativen Genese von Männlichkeit bildet. Das Projekt untersucht diese Zusammenhänge nicht nur anhand des diachronen Vergleichs repräsentativer Sachtexte zur Armutsproblematik vom späten 18. bis mittleren 19. Jahrhundert, sondern widmet sich darüber hinaus der Analyse fünf zeitgenössischer, breit rezipierter ‚Identitätsromane‘. Es wird deutlich, dass literarische Ausgestaltungen der Thematik die Armutsnarrative auf verschiedenen Beobachtungsebenen aufnehmen, ästhetisieren sowie ambiguisieren können und so auf subversive oder affirmative Weise an der diskursiven Konstruktion von Armut beteiligt sind.