26.01.2023
Nachruf für Prof. Eberhard Krocker
Am 17. November 2022 verstarb Professor Dr.-Ing. habil. Eberhard Krocker, wenige Wochen nach Vollendung seines fünfundneunzigsten Lebensjahrs. Ein langes Leben im Dienste der Wissenschaft hat sich vollendet.
Prof. Krocker war einer der wissenschaftlichen Väter der an der Technischen Universität Dresden als Ingenieurwissenschaft vertretenen Nachrichtentechnik. Sein gesamtes Leben hat er den Wissenschaftsgebieten gewidmet, die man unter der Bezeichnung „Elektrische Informationstechnik“ zusammenfassen kann. 37 Jahre war er Professor an der TU Dresden. 27 Jahre davon war er als Ordinarius und Leiter des Lehrstuhls „Systeme der Informationsverarbeitung“ mit Lehrauftrag für Fernmeldetechnik aktiv. Mit der Ausbildung von Studenten und der Betreuung zahlreicher Diplomarbeiten, Dissertationen und Habilitationen trug er wesentlich zur Entwicklung einer neuen Generation von Ingenieuren und Wissenschaftlern seines Fachgebietes bei. Als Wissenschaftler und Hochschullehrer erwarb er sich und damit auch der Fakultät Elektrotechnik an der TU Dresden nationales und internationales Ansehen.
Geboren und aufgewachsen im schlesischen Hirschberg, besuchte er dort bis 1944 die Oberschule. Sein Vater, selbst Elektroingenieur, verstand es, das Interesse seines Sohnes Eberhard für technische Problemstellungen zu wecken. Nach den Erzählungen des Verstorbenen faszinierte ihn die Nachrichtentechnik lebenslang. Allerdings war diese Faszination nie begrenzt auf ein schmal zu umreißendes Fachgebiet. Einbezogen waren andere schwachstromtechnische Anwendungen genauso wie Probleme der Elektroenergietechnik und der elektrischen Antriebe. Wie für viele Menschen seiner Generation unterbrach der zweite Weltkrieg durch Einberufung zur Wehrmacht und nachfolgende Gefangenschaft seine schulische Ausbildung. Erst nach Kriegsende war ihm die Fortsetzung und der gymnasiale Abschluss möglich. In Thüringen, wo sich seine Eltern nach der Aussiedlung aus Schlesien niederließen, absolvierte er erfolgreich eine Lehre als Kraftfahrzeugelektriker. Doch das sollte erst der Anfang einer umfangreichen fachspezifischen Ausbildung sein.
Als einer der ersten Studenten nach dem Krieg absolvierte er ein Ingenieurstudium an der wieder eröffneten Fachschule Ilmenau. Danach folgte ein Studium der Schwachstromtechnik an der Technischen Hochschule Dresden. Als Schüler der Professoren Barkhausen, Frühauf und Freitag eignete er sich umfangreiches universitäres Wissen an und diplomierte 1953 in der Fachrichtung Hochfrequenztechnik. Seine hervorragenden Studienleistungen waren Anlass für Prof. Freitag, dem jungen Diplomingenieur Krocker eine Aspirantur am Institut für Fernmeldetechnik anzubieten. Dieser griff die Chance zur weiteren Graduierung auf und legte damit den Grundstein für eine langjährige beeindruckende wissenschaftliche Laufbahn.
Fortan widmete sich der Nachwuchswissenschaftler Krocker international aktuellen Fragen der Fernmeldetechnik. Hierzu gehörten zunächst
- die Untersuchung von Verfahren der Sprachkompression zur effektiven Ausnutzung von Übertragungskanälen,
- Tests zur Verständlichkeit bandbegrenzter Sprachsignale und
- die Entwicklung eines ersten Vocoders zur Generierung synthetischer Sprache.
Insbesondere mit den zuletzt genannten Arbeiten schuf er eine Basis für den Wissenschaftszweig Spracherkennung, der seither fester Bestandteil der Forschung an der Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik ist. Am Ende dieser Etappe der wissenschaftlichen Laufbahn von Eberhard Krocker stand eine Dissertation zu „Aufbau und Untersuchung eines Übertragungssystems für synthetische Sprache“, auf Grundlage derer er 1957 zum Dr.-Ing. promoviert wurde.
Nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent schloss sich bald eine sehr erfolgreiche Industriekarriere an. In Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit und des hervorragenden organisatorischen Talentes wurde ihm 1959 der Aufbau und die Leitung einer Arbeitsgruppe für elektronische Vermittlungstechnik im Zentrallaboratorium für Fernmeldetechnik Berlin (ZLF) übertragen. Unter seiner Regie wurden hier
- grundlegende Arbeiten zur Einführung der Elektronik in die Vermittlungstechnik,
- Untersuchungen zu Nachrichtensystemen in Zeitmultiplextechnik und
- vorbereitende Arbeiten zur digitalen Nachrichtentechnik
durchgeführt. Damit hatte der damalige Dr. Krocker maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der nachrichtentechnischen Industrie der DDR und als Chefkonstrukteur für internationale Projekte auch an der Entwicklung der Nachrichtentechnik in den osteuropäischen Staaten.
1964 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die elektronische Vermittlungstechnik. Im Folgejahr erhielt er dann einen Ruf als ordentlicher Professor an die TU Dresden und wurde wenig später Direktor des Institutes für Fernmeldetechnik. In dieser Funktion gestaltete er mit Umsicht und fachlichem Weitblick die Lehre und Forschung zur Vermittlungstechnik und zu deren weiterer Entwicklung. In seinen Veröffentlichungen aus jener Zeit finden sich bereits Hinweise auf alternative Gestaltungsvarianten für zukünftige Nachrichtennetze. So entwarf er beispielsweise die adresscodierte digitale Sprachübermittlung (Adressen-Amplituden-Kode-System, AAKS), die man durchaus als einen Vorläufer der späteren ATM-Technik betrachten kann. Später spricht er an anderer Stelle von der zwangsläufigen Konvergenz der Nachrichten- und Computertechnik im Kommunikationsnetz der Zukunft. Dies ist ja nun schon Realität geworden. Mit seiner Berufung an die Universität wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sowohl Studenten als auch junge Wissenschaftler unmittelbar von den umfangreichen Erfahrungen und dem Überblick ihres Lehrers Prof. Krocker profitieren konnten.
Die Tätigkeit von Prof. Krocker war immer durch Fachkompetenz, Engagement und Integrität geprägt. Es blieb deshalb nicht aus, dass man auch bei strategischen Entscheidungen seine Mitarbeit erwartete und ihn für eine Reihe wissenschaftsorganisatorischer Aufgaben in verantwortliche Positionen berief. So wurde er Ende 1967 mit der Gründung und Leitung der Sektion Informationstechnik der TU Dresden beauftragt, der er bis 1975 als Direktor vorstand. Ab 1984 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates Elektroingenieurwesen des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesens der DDR. Mit seiner Objektivität sowie seiner Fähigkeit, weitsichtig und treffsicher Probleme anzugehen und auch in komplizierten Situationen ruhig und besonnen zu agieren, erwies er den Lehrenden und Studenten des Studienganges Elektrotechnik unschätzbare Dienste. Viele damalige strategische Vorlagen tragen seine Handschrift und hoben sich wohltuend von bürokratischen, kurzsichtigen und egoistischen Zielstellungen ab. Die „Blicke über den Zaun“ und Entscheidungen stets im Sinne des Gemeinwohls sind sicher auch eine Ursache für den beruflichen Erfolg des Verstorbenen.
Großen Anteil hatte Prof. Krocker während seiner aktiven Zeit als Hochschullehrer auch an der Intensivierung der Kooperation von Hochschule und Industrie. Seit 1975 arbeitete er gemeinsam mit jungen Wissenschaftlern und Studenten im Rahmen von Forschungsverträgen für die zentrale Forschungseinrichtung der DDR-Nachrichtenindustrie, das Institut für Nachrichtentechnik Berlin (INT). Die behandelten Komplexe umfassten seinerzeit wesentliche weltweite Forschungsschwerpunkte, wie z.B.
- die Steuerung von analogen und digitalen Vermittlungseinrichtungen durch Mikrorechentechnik,
- die Untersuchung des Einsatzes verteilter Prozessoren in modularen digitalen Vermittlungsanlagen und
- die Gestaltung von Schnittstellen zwischen dem ISDN und Paketdatennetzen.
Schließlich beschäftigte er sich in einem letzten größeren Projekt im Auftrage des Bundesministeriums für Forschung und Technologie mit dem Einsatz des Asynchronen Transfer Modes (ATM) für die Übermittlung hybrider Informationsströme.
Prof. Krocker war sich während seiner beruflichen Laufbahn stets der Notwendigkeit und des Nutzens auch internationaler Zusammenarbeit bewusst. So pflegte er im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten neben Kontakten in die Staaten des ehemaligen Ostblocks auch Beziehungen in die Bundesrepublik (z.B. Universität Stuttgart), nach Japan, Großbritannien und in die USA. Im Rahmen dieser Reisen bot er auch fachspezifische Vorträge / Vorlesungen an.
Ebenso wie in seiner Lehrtätigkeit war Prof. Krocker auch in der täglichen Forschungsarbeit ein ausgezeichneter Leiter und Pädagoge, der nicht nur technische Sachverhalte plausibel darstellen und erläutern kann, sondern der auch in der Lage war, junge Menschen zur selbständigen und kreativen Ingenieurarbeit zu befähigen. Trotz großer wissenschaftlicher Leistungen ist er selbst immer Praktiker und Ingenieur geblieben. Er war nie ein Schmalspurwissenschaftler. Seine zuweilen scheinbar trivialen Fragen wurden auch später noch von manchem Vortragenden gefürchtet. Hierbei wird u.a. seine systematische und klar strukturierte Denkweise deutlich.
Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1992 hat Prof. Krocker 10 Habilitationen (bzw. Dissertationen B zum Dr.sc.techn.) als verantwortlicher Hochschullehrer betreut. Fast 40 Diplomingenieure hat er als Doktorvater zur Promotion geführt. Mit weit über 100 Gutachten war er national und international an erfolgreichen Promotionen und Habilitationen beteiligt, und nicht gezählt werden können die von ihm insgesamt ausgebildeten und geprüften Diplomingenieure.
Geprägt war der Charakter und damit auch die Arbeit unseres Kollegen Prof. Krocker jederzeit von Ehrlichkeit, Offenheit und Geradlinigkeit, von Zielstrebigkeit, Rationalität und dem Bemühen um Effektivität, von Weitsicht, Konsequenz und Standhaftigkeit. Diese Eigenschaften, gepaart mit einer umfassenden humanistischen Allgemeinbildung sowie einem nahezu enzyklopädischen Wissen, insbesondere zur Geschichte und zur Geographie, ließen ihn für uns und vor allem viele junge Menschen zum Vorbild werden.
Nach seinem Eintritt in den Ruhestand hat Prof. Krocker im Nachfolgelehrstuhl Telekommunikation seine wissenschaftliche Heimat gefunden und diesen über mehr als 20 Jahre fachlich begleitet. Er nahm an fast allen regelmäßigen Vorträgen der Doktoranden teil, verfolgte aktiv die entstehenden Forschungsergebnisse und gab wertvolle Hinweise. Von den Doktoranden wurde er als Ratgeber sehr geschätzt.
Wir, die Mitarbeiter und Doktoranden des früheren Lehrstuhls Telekommunikation und des jetzigen Lehrstuhls Kommunikationsnetze werden des Verstorbenen immer ehrend gedenken.
Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Frank Fitzek,
Sen. Prof. Dr.-Ing. Ralf Lehnert,
Prof. Dr.-Ing. habil. Joachim Gurtler