100 Jahre Schwachstromtechnik
Exzellente Lehre der Grundlagen – 100 Jahre Schwachstromtechnik
Einführung
Die Unterscheidung in Starkstrom- und Schwachstromtechnik erscheint heute nicht mehr zeitgemäß im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung der regenerativen und "intelligenten" Nutzung der Elektroenergie in den smart grids und smart homes. Die Verbindung von Informationstechnik und Elektroenergietechnik ist entscheidend für die Funktionalität und Sicherheit dieser künftigen Systeme. An der Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik (EuI) der TU Dresden werden traditionell wesentliche Grundlagen der Elektrotechnik ohne Unterscheidung in Stark- und Schwachstromtechnik gelehrt. Die Absolventen sind daher auf zukünftige Entwicklungen gut vorbereitet. Neben einer Vielzahl von Lehrveranstaltungen im Fachstudium der verschiedenen Studiengänge wird auf eine fundierte einheitliche Lehre der Grundlagen der Elektrotechnik Wert gelegt. Die Rückbesinnung auf Leben und Werk hervorragender Ingenieurwissenschaftler entspricht dem "Profil der Fakultät", das unter anderem Tradition und Innovation benennt. Im Folgenden soll über die Entwicklung der Grundlagenausbildung in Elektrotechnik mit Blick auf namhafte Fachvertreter berichtet werden.
Die Situation vor 100 Jahren
Eine eigenständige Lehre der Nachrichtentechnik gibt es an der Dresdner Technischen Bildungsanstalt seit 1875. Prof. Gustav Zeuner hatte die Gründung einer Professur für "Theorie und Praxis des Telegraphenwesens" beantragt, die zuerst durch Eduard Zetsche und ab 1883 von Richard Ulbricht übernommen wurde. 1901 wurde versuchsweise eine Telegrafenlinie von Übigau zur Technischen Hochschule (TH) eingerichtet, jedoch mit geringem Erfolg: "Gleich bei den ersten Versuchen zeigte sich, dass die bisherigen Veröffentlichungen über drahtlose Telegrafie nicht genügten, um auf Grund der Angaben einen befriedigenden Betrieb herzustellen. Ja, dass sie geradezu irreführend waren." Das entmutigte auch die Studierenden, die bald dieser neuen Technik enttäuscht den Rücken kehrten.
Heinrich Barkhausens fundamentales Wirken an der TH Dresden
Dies war die Situation, wie sie Barkhausen vorfand, als er 1911 zum außerordentlichen Professor für Schwachstromtechnik berufen wurde. Diese Professur war auf Vorschlag von Professor Johannes Görges eingerichtet worden mit dem Profil: "Elektrotechnische Messkunde, Telegrafie und Telephonie mit besonderer Betonung der theoretischen Grundlagen, Leitungen, Leitungsnetze und Schaltungen für Starkstromanlagen nebst Übungen". Görges hatte weitsichtig erkannt, dass der bisher gepflegte heuristische Zugang zur Schwachstromtechnik nicht mehr ausreichend war, und dass sich dieses Gebiet nur auf einem soliden theoretischen Fundament erfolgreich weiterentwickeln konnte. Dieses Fundament in Lehre und Forschung zu schaffen, war Heinrich Barkhausen vorbehalten. Er selbst schrieb später dazu: "Das war etwas ganz Neuartiges, weil man im Allgemeinen glaubte, dass man mit Wissenschaft auf dem Gebiete der Schwachstromtechnik nicht viel anfangen könnte."
In seiner Antrittsvorlesung sagte Barkhausen: "Wenn von Elektrotechnik die Rede ist, so denkt der Laie meist an irgendwelche imposanten Kraftleistungen: sausende Maschinen; eilende Bahnen; Krane, die ohne jede sichtbare Anstrengung fabelhafte Lasten heben; Wasserfälle, die ihrer Energie beraubt werden, um Licht zu schaffen. Gegen solche Respekt und Bewunderung einflößenden Leistungen der Starkstromtechnik erscheint ihm die Schwachstromtechnik, wobei er an Hausklingelanlagen und allerlei Kinderspielzeug denkt, leicht als etwas Kleinliches ohne größere wirtschaftliche Bedeutung." Barkhausen wusste auch, dass die Klassifizierung der Elektrotechnik in Starkstrom- und Schwachstromtechnik Schwächen hatte. In seiner Antrittsvorlesung vom 27. Juli 1911 sagt er dazu: "Der Name trifft nicht so ganz das Wesentliche der Sache. Dass die auftretenden Ströme klein sind, ist eine Begleiterscheinung, die nicht einmal immer auftritt. … Den Unterschied zwischen Starkstromtechnik und Schwachstromtechnik möchte ich vielmehr darin erblicken, dass es bei der Starkstromtechnik stets auf einen gewissen Energieeffekt ankommt. … Das Anwendungsgebiet der Schwachstromtechnik besteht aber … in der Übertragung von Zeichen."
Der Anfang war alles andere als leicht. Das Institut für Schwachstromtechnik hatte bei seiner Gründung Personalmittel für eine halbe Assistentenstelle und verfügte über insgesamt drei Räume. Auch das Interesse der Studierenden an dem neuen Fachgebiet war zunächst gering. Barkhausen berichtet dazu: "Als ich 1911 hauptamtlich nach Dresden berufen wurde, musste ich den Studenten gut zureden, dass es neben der Starkstromtechnik … auch noch eine Schwachstromtechnik gäbe, die vom Ingenieur eine ganz andere Denkweise erforderte." Dabei kam es besonders auf die Verbindung zwischen Theorie und Praxis an. Barkhausen führte in seinen Lehrveranstaltungen eindrucksvolle Experimente vor und richtete bereits 1911 das "Schwachstromtechnische Praktikum" ein, das unter steter Weiterentwicklung bis zum Ende der sechziger Jahre Bestand haben sollte.
Barkhausen stand sowohl Studenten als auch Mitarbeitern als Partner stets zur Seite, wenn es um die wissenschaftliche Arbeit ging. So wurde gemeinsam ein außerordentlich effektiver Arbeitsstil gepflegt. Ein besonderer Höhepunkt war 1938 die Reise von Heinrich Barkhausen nach Japan. Seine Schüler – insbesondere Dr. Yagi und Dr. Ito – hatten ihn eingeladen und die Reise aufwändig vorbreitet. Durch das Wirken seiner japanischen Doktoranden und die Übersetzung seines mehrbändigen Lehrbuches über Elektronenröhren gilt Heinrich Barkhausen auch in Japan als Begründer der Schwachstromtechnik. Diese Tradition wird dort bis heute gepflegt.
Der Neuaufbau ab 1946
Aus den Schwerpunkten des Schwachstrominstitutes entstanden nach dem Wiederaufbau der TH Dresden ab 1946 weitere Institute:
- Schwachstromtechnik (Heinrich Barkhausen)
- Hochfrequenztechnik und Elektronenröhren (Hans Frühauf)
- Elektro- und Bauakustik (Walter Reichardt)
- Allgemeine Elektrotechnik (Heinz Schönfeld)
Dabei wurde die Barkhausensche Tradition einer exzellenten Lehre gepflegt und weiter ausgebaut. Zwei der Barkhausenschüler haben sich um die Grundlagenausbildung besondere Verdienste erworben:
Heinz Schönfeld lehrt Elektrotechnik
Heinz Schönfeld wurde 1908 in Dresden als Sohn eines Volksschullehrers geboren. Er besuchte das Reformrealgymnasium Dreikönigsschule und studierte 1928–32 Technische Physik an der TH Dresden. Ab 1933 war er ein Jahr lang Assistent bei Barkhausen und von 1934 bis 1945 arbeitete er in der Entwicklung im Zentrallaboratorium von Siemens & Halske in Berlin, habilitierte sich jedoch bereits 1944 an der TH Dresden mit der Arbeit "Die elektrischen Höhenmesser für Flugzeuge". 1946 wurde er Assistent am Institut für Fernmeldeanlagen und Akustik sowie als Dozent für Fernmeldetechnik an der Fakultät für Kommunale Wirtschaft der TH Dresden angestellt. Schönfeld wurde im Jahr 1947 zum ordentlichen Professor für Allgemeine und Theoretische Elektrotechnik berufen und gleichzeitig Direktor des Elektrotechnischen Instituts. Im Jahr 1951 wurde er Dekan der Fakultät Maschinenwesen und Elektrotechnik; ein Jahr später Prodekan der nun selbstständigen Fakultät Elektrotechnik.
Am 9.6.1952 übersiedelte Heinz Schönfeld auf politischen Druck hin nach Nürnberg, wo er fortan als Entwicklungsleiter der Süddeutschen Apparatefabrik SAF Nürnberg arbeitete. Im Jahr 1956 wurde er an die TH Karlsruhe als ordentlicher Professor für Grundgebiete der Elektrotechnik und Regelungstechnik berufen; ein Jahr später starb er.
Heinz Schönfeld war ein außerordentlich engagierter Hochschullehrer. Er setzte erfolgreich die Barkhausensche Tradition fort. Sein Lehrbuch "Die wissenschaftlichen Grundlagen der Elektrotechnik" aus dem Jahr 1951 bildete jahrzehntelang die Grundlage für die Ausbildung von Elektroingenieuren. Seit dem 6. April 1994 trägt der große Hörsaal im Barkhausen-Bau der TU Dresden den Namen Heinz Schönfelds.
Barkhausenschüler Klaus Lunze vertieft die Grundlagenausbildung
Prof. Klaus Lunze studierte ab 1937 Elektrotechnik an der TH Dresden. Sein bedeutendster Lehrer war Heinrich Barkhausen, dessen Vermächtnis er stets mit großer Sorgfalt bewahrte. Ab 1946 war er Assistent und Oberassistent bei Heinz Schönfeld, dessen Lehraufgaben er 1952 übernahm. In der Folgezeit hat er, die Traditionen von Barkhausen und Schönfeld fortsetzend, das Lehrgebiet Grundlagen der Elektrotechnik an der TH und später an der TU Dresden ständig ausgebaut. Ihm ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass die Grundlagenausbildung bis heute einen besonderen Stellenwert an der Fakultät Elektrotechnik einnimmt.
Prof. Lunze war ein außergewöhnlich engagierter und erfolgreicher Hochschullehrer. Seine Lehrbücher erreichten 17 Auflagen; in ganz Deutschland wurde danach gelehrt. Legendär waren auch seine Vorlesungen, in denen er mit ungewöhnlichem didaktischen Geschick und zahlreichen Experimenten viele Generationen von Elektrotechnikstudenten für ihr Fachgebiet begeistert hat. Bei Lunze Elektrotechnik gehört zu haben, war in den sechziger und siebziger Jahren das Markenzeichen eines Elektroingenieurs. Ebenso bemerkenswert war auch seine Disziplin. Keiner seiner Mitarbeiter konnte sich daran erinnern, dass sich Professor Lunze jemals bei einer Vorlesung hat vertreten lassen. Diese Disziplin erwartete er natürlich auch bei seinen Studenten und Mitarbeitern.
Hochgeschätzt war Professor Lunze als Vorgesetzter und Teamführer. Zudem war er 1966 bis 1971 Prodekan und Dekan der Fakultät Elektrotechnik der TU Dresden. Sein Führungsstil war durch Sachlichkeit und Fürsorge für seine Mitarbeiter und Studenten geprägt. Stets rangierte das Menschliche vor dem Administrativen, das Inhaltliche vor dem Formalen. Kollegen und Mitarbeiter haben Prof. Lunze auf Grund seiner besonderen Fähigkeiten als Ingenieur und Wissenschaftler, seiner Führungsfähigkeiten und seiner Ausstrahlungskraft als Hochschullehrer schätzen gelernt.
Professor Klaus Lunze verstarb am 19. Januar 2010 im Alter von 93 Jahren in Dresden.
Qualität der Lehre und studentische Tradition
Die erfolgreiche Aufbauarbeit nach dem zweiten Weltkrieg hatte an der Dresdner TH besonders die Ingenieurwissenschaften des Maschinenbaus und der Elektrotechnik erstarken lassen. Trotz strenger Auswahl stieg die Zahl der Studienanfänger stetig an und eine zunehmend selbstbewusster werdende Studentenschaft der Elektrotechnik begann Anfang der fünfziger Jahre eine eigenständige studentische Tradition zu entwickeln, die "ET-Fine- Bewegung". Die legendäre "ET-Fine-Fahne" wurde als Symbol der Veranstaltungen des zehnten ET-Semesters jeweils eine Woche im Juli auf dem Antennenturm des Barkhausen-Baus aufgezogen.
Bis zum Verbot 1966 durch die SED-Parteileitung veranstaltete der Diplomanden-Jahrgang ET-FINE zusammen mit den Professoren des Grund- und Fachstudiums als Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung. Ein Verbot wäre nur vermieden worden, wenn diese studentische Tradition im Rahmen der FDJ weiter geführt worden wäre. Dies wurde von der Mehrheit der Studentenschaft abgelehnt, da nach ihrer Meinung Freiheit, Witz und Humor nicht mehr gewährleistet werden konnten. Die Witze waren durchaus politischer Natur oder richteten sich auch gegen die verordnete Überbetonung der Sowjetwissenschaft. Ein Beispiel sei in Erinnerung gerufen: In der Mathematikvorlesung im total überfüllten Hörsaal erhielt der renommierte Prof. N. J. Lehmann einen Humpen Bier und ein versierter Diplomand übernahm den Rest der Vorlesung. Da in der Mathematik Grenzwerte eine Rolle spielen, wurde die Entstehung des limes wie folgt erläutert: "Die Chinesen hatten schon immer große Schwierigkeiten mit den Nachbarvölkern – und als sie nicht mehr weiter wussten, bauten sie eine Mauer." Das war eine deutliche Anspielung auf die Berliner Mauer, was die Masse der Studenten mit gewaltigem Beifall beantwortete. Alle Professoren waren sehr stolz, wenn sie auf diese Art für eine humoristische Kurzvorlesung von ihrem Katheder im Hörsaal verdrängt wurden und bedankten sich mit einer Spende für die studentischen Abschlussfeiern.
Bis zur Schließung der Westgrenze der DDR 1961 verließen zahlreiche Studenten nach dem Vordiplom das Land, um an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland das Studium fortzusetzen. Die TH Dresden war die einzige Hochschule aus dem Osten, deren Vordiplom ohne Abstriche im Westen anerkannt wurde.
Das anerkannt hohe Niveau der ET-Ausbildung an der TU Dresden konnte auch nach der III. Hochschulreform in der DDR aufrecht erhalten werden. Über die Qualität der ausgebildeten Diplomingenieure hat sich insbesondere die westdeutsche Industrie nach "der Wende" und anhaltend bis in die Gegenwart ein positives Bild verschaffen können. Im CHE-Hochschulranking belegte die Fakultät EuI zumeist deutschlandweit Spitzenplätze unter den Fakultäten dieses Fachbereichs. Als Fazit kann daher der Fakultät EuI exzellente Lehre in Tradition und Gegenwart bescheinigt werden.
Autoren: Prof. Wolfgang Schwarz, Prof. Adolf Finger