Der wenig erfreuliche Aufenthalt polnischer Studenten
1960 folgten Studenten des Instituts für elektrische Energieanlagen der TH Dresden einer Einladung des Partnerinstitutes der Technischen Hochschule Wroclaw zu einem Austausch-Praktikum. Sie wurden von den Assistenten Gert und Helmut begleitet. Diese Reise war ein voller Erfolg für die deutschen Studenten, denen neben fachlichen Eindrücken auch kulturelle Werte vermittelt wurden.
1961 traf die Gegendelegation in Dresden ein ̶ Studenten der Elektroenergieversorgung und Elektroniker. Zu deren Betreuung waren Jan und ein weiterer polnischer Assistent mitgereist. Als deutsche Betreuer wurden Gert und ich vorgesehen. Ein Stadtrundgang in den ersten Tagen machte die Gäste mit dem Stadtzentrum von „Elbflorenz“ vertraut. Dass dabei ein am besten deutschsprechender Elektroniker nach dem Laden fragte, der Mitgebrachtes aus Polen aufkauft, war den damaligen Verhältnissen in Polen anzurechnen. Da solche Geschäfte in der DDR nicht existierten, musste die Frage verneint werden. Ansonsten lebten sich die Gäste gut ein. Meine Mühe, ihnen beim Rundgang mit einigen Worten in polnischer Sprache entgegenzukommen, erwies sich nicht immer als erfolgreich. So hatte ich die Aufforderung „bitte nach links“ („prosze na lew“) wohl nicht ganz richtig ausgesprochen, da mir ein Student freundlich erklärte, es hätte geklungen „links wie ein kleines Schwein“ („prosche ungleich proßje“).
Bald erfolgte die Einweisung der Studentengruppen in die vorgesehenen Praktikumsbetriebe. Alles verlief normal und für die Gäste zufriedenstellend. An den Abenden gingen die polnischen Studenten ̶ es waren drei Elektronikmädels dabei ̶ auch zu den Tanzveranstaltungen der TH-Studenten und schlossen neue Freundschaften. Für die letzten Tage waren Exkursionen durch Sachsen und Thüringen geplant. Doch es kam anders. Am Abend des letzten Praktikumstages klopfte der erste Sekretär der Parteileitung der TH persönlich an unser Fenster. Meine Tochter wurde wach. „Wo ist Dein Vater?“ „Im Kino!“ – „Wo?“ – „Weiß ich nicht.“ „Er soll mich sofort anrufen, wenn er zurück ist. Ich warte in meinem Dienstzimmer in der TH!“
Von einer Telefonzelle rief ich dann gegen 23 Uhr an und erfuhr, dass wir und alle Polen am nächsten Tag 10 Uhr im Rektoratsgebäude zu erscheinen haben. Auch Gert wurde mit eingeladen. Meinem Hinweis, dass die Gäste am frühen Morgen vom Bahnhof Neustadt nach Zittau zu einer geplanten Besichtigung fahren, wurde entgegnet, dass am Bahnhof Neustadt alles geregelt wird. Eine Ansage forderte die Gäste auf, aus dem haltenden Zug auszusteigen und sich zur TH in Marsch zu setzen. In einem Saal im Rektoratsgebäude empfingen uns u. a. der 1. Sekretär der Parteikreisleitung und der 1. FDJ-Sekretär. Dazu wurde ein Mann mit dunklem Anzug und finsterem Gesicht als Mitarbeiter der Bezirksparteileitung vorgestellt. (Wir hatten den Namen nicht gleich mitbekommen und nannten ihn unter uns den "schwarzen Mann"). Die Verhandlung begann. Der „Mitarbeiter“ verlas u.a. einige Sätze, die ein polnischer Student bei jungen Arbeitern von Rafena gesprochen und die offensichtlich ein IM eifrig notiert und weitergeleitet hatte. Beispielsweise: "Ihr müsst alle in die FDJ ̶ wir haben in Polen mehr Freiheit und drei Jugendverbände zur Auswahl" und ähnliche Sätze.
„Das ist die Sprache des Feindes,“ dozierte der „Mitarbeiter“, warf den polnischen Gästen noch andere Vergehen vor und ordnete eine sofortige Ausweisung der polnischen Delegation an. Ein bereitstehender Bus sollte alle aufnehmen und sofort an die Grenze nach Görlitz bringen. Einem Parteiinstrukteur (der mit uns im Semester studiert hatte) wurde die Verantwortung übertragen. Nun stand der polnische Betreuer und Adjunkt von Prof. Trojak, Jan, auf und protestierte heftig. „Wir befinden uns doch nicht im Kriegszustand“" und „Ein Student ist heute für die Kunstakademie beurlaubt, ohne diesen Mann fahre ich nicht zurück“; sagte Jan. Mein Einwand ̶ nur den Verursacher des Zwischenfalls oder nur den Teil der Studenten, die in Rafena waren, auszuweisen, wurde vom Parteisekretär nach Blick auf den „Mitarbeiter“, der den Kopf schüttelte, abgelehnt und von diesem angekündigt: „Mit euch sprechen wir auch noch!“ Die Veranstaltung war damit zu Ende. Bei den polnischen Mädels gab es Tränen. Wir stiegen mit den Gästen und dem Instrukteur in den Bus und fuhren zunächst zum „Goldenen Lamm“, wo Gert ein gutes Mittagessen ̶ Hühnchen und Bier ̶ für die Studenten organisierte. Wir konnten unsere Gäste doch nicht mit leerem Magen wegschicken. Der Instrukteur kämpfte mit sich zwischen Anweisung – sofort nach Görlitz – und unseren drängenden Bitten um den kleinen notwendigen Aufschub.
Inzwischen hatten wir die restlichen polnischen Studenten aufgesammelt. Ein kurzer Stopp am Altmarkt, damit die Studenten noch einkaufen konnten, beendete den Aufenthalt in Dresden. Gert und ich mussten uns verabschieden, der Bus fuhr ab. In Görlitz wurden die Gäste aufgefordert, mit ihrem Gepäck auszusteigen und wie Ausgestoßene über die Grenzbrücke zu laufen. Diese Begebenheit hatte sich bald an den polnischen Hochschulen herumgesprochen. Zwei Jahre danach wurde einem deutschen Gast davon in Danzig berichtet. Trotzdem wurden die Kontakte zwischen Wroclaw und Dresden wieder geknüpft und es kam in der Folge zu guter Zusammenarbeit.
Einem evtl. bösen Nachspiel konnten wir deutschen Betreuer vor allem dadurch entgehen, dass es nach Aussprachen und Klarstellungen in der Wroclawer Parteileitung und einem entsprechenden Anruf in Dresden zu einer weitgehenden Bereinigung der Vorfälle kam, wie wir später erfuhren.