Dresden, der 17. Juni 1953
Walter Ulbricht hatte 1952/53 in der DDR alle Machtfunktionen inne. Es gab aber damals noch einen Staatspräsidenten Wilhelm Pieck und einen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl.
Der Spruch des 17. Juni war: „Spitzbart, Bauch und Brille, sind nicht des Volkes Wille“ (bezieht sich auf die Physiognomie der drei Erwähnten – d. R.). Die Versorgungslage verschlechterte sich von Tag zu Tag, obwohl es bis 1958 Lebensmittelkarten gab. Stromsperren waren der Alltag.
In der Sowjetunion verschärfte sich 1952/53 die Repression. Stalin ging im Januar 1953 gegen die Juden vor und ließ prominente jüdische Ärzte verhaften. Die darauffolgenden Schauprozesse wurden von gewaltiger Propaganda vorbereitet. Die SED-Presse verschärfte durch das Aufbauschen der haltlosen Anklagepunkte in Moskau und die bestehende latente Judenhetze in der DDR die Situation. Stalin starb am 3. März 1953. Die Bonzen trieben die Arbeiter auf die Straße und die mussten um ein riesengroßes Bild von Josef Stalin auf dem Postplatz marschieren. Alle sprachen daraufhin vom Gesslerhut. Ich stand am Rand des Postplatzes und sah, wie Wolfgang und Jürgen, zwei Kommilitonen, die in der SED sind, mit gesenktem Kopf marschierten. Tränen drangen ihnen aus den Augen. Ihr größter Sohn vor oder nach Adolf Hitler war von uns gegangen. Die Prozession nahm ihren Weg in Richtung Prager Straße.
Der Machtkampf in Moskau nach dem Tod von Josef Stalin war voll im Gange und in dem Machtkampf setzt sich die GPU durch. Ihr Chef Berija wurde einer der drei wichtigsten Köpfe der Sowjetunion. Am 10. Juli 1953 wurde Berija verhaftet und wenig später in einem Keller erschossen. In dieser chaotischen Situation ließ Ulbricht, der gar kein Regierungsamt hatte, die Normen für die Arbeiter in den volkseigenen Betrieben erhöhen. Die Bauarbeiter in der Stalinallee traten in den Streik. Es war der 16. Juni 1953. Rias berichtete, aber immer nur aus Berlin. In Bonn war man rastlos. In Berlin starb der Bürgermeister Ernst Reuter. Am 17. Juni griff der Streik auf alle Betriebe in Ostberlin und im Umland über.
In Dresden streikten die Arbeiter. Der Rundfunk in Dresden berichtete nichts. Ich war – da keine Vorlesungen waren – in meiner Bude in Gittersee und arbeitete an einem Studienprojekt. Die Nachbarin meiner Wirtin kam um 17 Uhr nach Hause und berichtete, dass in der Stadt überall Demonstrationen seien, die Straßenbahnen führen nur sporadisch. Ich ging sofort los und kam bis zum Postplatz. Auf und um den Postplatz und auch auf dem Theaterplatz war die Feuerwehr jeweils an Hydranten postiert, auf die Schläuche geschraubt waren. Ich lief in Richtung Schlossbrücke, die voll von Demonstranten war. Von der Neustadt her fuhr ein offener Schützenpanzerwagen auf die Brücke. Vorn war ein schweres Maschinengewehr montiert, dahinter ein zerknitterter unterernährter Iwan. Plötzlich stieß dieser Schützenpanzerwagen mitten auf der Brücke mit einem aus der Altstadt kommenden PKW zusammen. Die Demonstranten schrieen, klatschten in die Hände und riefen: Freundschaft, Freundschaft. Der Iwan bekam Befehl und schoss mit dem Maschinengewehr. Die Schlossbrücke hat in ca. 10 m Abstand gemauerte halbrunde Ausbuchtungen. Ich fand blitzschnell eine dieser Nischen und warf mich hinter die Mauer. Wie ich aus der Gefahrenzone gekommen bin, weiß ich bis heute nicht. Ich kam wieder auf den Postplatz und ging in eine Seitenstraße, an der zerstörte Häuser standen, die noch nicht enttrümmert waren. In der Mitte war die Straßenbahn aber voll funktionsfähig und ich kam zu einer Haltestelle. Alles war aufgeregt. Überall standen Gruppen herum und diskutierten. Ich lief dann über den Hauptbahnhof und durch die Münchner Straße in Richtung Gittersee. Aus einer Seitenstraße der Münchner Straße kam mit hoher Geschwindigkeit ein PKW, raste in die Münchner Straße und erfasste dabei einen Motorradfahrer. Der Motorradfahrer schleuderte 10 – 15 m weit durch die Luft. Ich ging zu dem Motorradfahrer und erkannte in ihm einen Mitarbeiter aus dem Institut für Wärmetechnik, Dr. Heimedinger. Er war tot. Als ich zu dem Kraftwagen ging, montierten die Insassen, es waren Zivilisten, die Autoschilder ab.
Ich ging am nächsten Tag zur Technischen Universität. Außerhalb des damals am Görges-Bau verlaufenden Zauns stand ein sowjetischer Panzer, das Geschützrohr in Richtung TH-Gelände gerichtet. Drei Wochen nach dem 17. Juni steht unser Russenpanzer immer noch mit Geschütz Richtung TH vor uns. Plötzlich kommen blaue Blusen und Hemden, FDJler mit Blumen, und verabschieden unsere sowjetischen Brüder. Brüder hat man, Freunde kann man sich aussuchen.