Meine Jahre vor dem Studium – Das Jahr 1955
Die letzte Folge meiner Memoiren endete damit, dass ich nach dem ersten Semester an der ABF in den Weihnachtsferien 1954/55 vom Delegierungsbetrieb einen FDGB-Ferienplatz in den Harz bekam und am 29. Dezember auf dem tief verschneiten Brocken stand.
Am 10. Januar begann die Schule wieder (wir sagten „Schule“, nicht „Studium“ an der ABF) und zwar gleich mit einem „Nachspiel wegen eines zerrissenen Bettlakens mit Dr. Scheibe“. Wahrscheinlich eine Folge der Keilerei am letzten Tage vor den Ferien im Wohnheim. Einige Tage zuvor war ich bereits in die Kaderabteilung des Sachsenwerks zitiert worden und hatte dort eine ordentliche „Kopfwäsche“ bekommen. Offensichtlich hatte die ABF den Betrieb Anfang Januar bzgl. meiner Aufsässigkeit usw. informiert. Viel gefruchtet hat es aber wohl nicht; denn bereits am 20. Januar habe ich vermerkt „Zusammenstoß unseres Zimmers mit dem Heimleiter“. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Unter dem 25. steht „Stipendienkürzung halbamtlich, Zuchthausmethoden im Heim eingeführt“ und unter dem 26. „Stipendienkürzung nun amtlich. Ich sprach zur Diskussion, als einziger Redner Beifall erhalten. Wurde als Reaktionär angesehen. Meine Diskussion wurde am schwarzen Brett veröffentlicht.“ Unter den Folgetagen steht „Harte Diskussionen“ und zusätzlich habe ich noch eine schießbereite MPi dazugemalt. Was hat das alles auf sich?
Es war die Zeit, wo Westdeutschland (der Begriff war in der BRD verpönt) der EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Vorläufer der NATO) beitrat. Die DDR hielt dagegen, u. a. auch mit einer Art Militarisierung des studentischen Lebens. Das drückte sich in verstärkten GST-Aktivitäten aus (Exerzieren, Marschieren, Motorrad fahren). Die „Zuchthausmethoden“ hießen offiziell Rahmenzeitplan. Darin war mehr oder weniger der gesamte Tagesablauf geregelt. Insbesondere wurde auf die Einhaltung der Zeiten für das Selbststudium (mehrere Stunden je nachmittags und abends), auf die Einhaltung der festgelegten Essenszeiten und der Nachtruhe großen Wert gelegt. Das wurde auch unangemeldet kontrolliert. So habe ich unter dem 23. November „Vor Aktiv geladen wegen Nichteinhaltung der Essenszeiten“ vermerkt. Es war auch so gut wie untersagt, innerhalb der Woche nach Hause zu fahren. Es sollte möglichst auch nicht jedes Wochenende gefahren werden.
Durch die Stipendienkürzung sollten Mittel frei werden, mit der in der DDR die Wirtschaft mehr angekurbelt werden sollte, um mit dem Westen gleichzuziehen bzw. um Mittel für die beginnende Aufrüstung zu haben. Leider habe ich mir den Kürzungs-Prozentsatz nicht aufgeschrieben, aber er war erheblich. Die Sache kam aber nicht zum Tragen, da die Kürzung bereits am 15. Februar wieder, also noch vor dem nächsten Zahltag, zurückgenommen wurde. Der Druck war wohl zu groß gewesen!
An meinen Diskussionsbeitrag erinnere ich mich nicht mehr im Einzelnen, habe aber sicher mit einer guten Begründung die Kürzung abgelehnt; denn sonst hätte ich wohl keinen Beifall erhalten. Aber an den – wahrscheinlich bestellten – Diskussionsbeitrag einer Mitstudentin, auch noch einer hübschen, kann ich mich noch genau erinnern. Sie führte aus, dass die Studentinnen z.B. sparen könnten, wenn sie keine Perlonstrümpfe (den Begriff Dederon gab es noch nicht und Nylon war ein verpönter Westbegriff) trügen, die damals noch sehr teuer waren, sondern gestrickte Strümpfe. Sie wurde ausgepfiffen. Das bisschen Erotik, das wir hatten, wollten wir uns nicht nehmen lassen.
Dann kam die Faschingszeit. Eigentlich sollte in der Schule nicht gefeiert werden. Aber wir und auch andere Seminargruppen hatten am Rosenmontag abends schon „aufgetankt“ und am Faschingsdienstag ließ sich nach der dritten Stunde nichts mehr aufhalten. Mit viel Lärm zogen wir treppauf und treppab durch die ABF, um schließlich irgendwo zu „versumpfen“. Das muss so schlimm gewesen sein, dass unter dem Aschermittwoch die Bemerkung „in der Schule geschlafen“ steht.
Anfang März kommt`s wieder dicke. Ich habe vermerkt: „Mitteilung durch Schulfunk: Alle sollen sich verpflichten, wenn es Partei und Regierung für notwendig ansehen, freiwillig zur KVP (kasernierte Volkspolizei, Vorläufer der NVA) zu gehen. Ist unmittelbare Auswirkung der Ratifizierung der EVG durch Westdeutschland.“ In den folgenden Tagen ist wieder von großen Diskussionen die Rede und es fand eine große Demonstration gegen die EVG statt. Die Bedrohlichkeit der Lage habe ich durch einen ins Tagebuch gezeichneten Stahlhelm, ein Paar Stiefel und eine Pistole charakterisiert.
Die Osterferien (Karfreitag bis Sonnabend nach Ostern) nutzte ich an den Werktagen zum Arbeiten in einer Schlosserei; ich brauchte Geld für den vorgesehenen Kauf eines Motorrades. Dem gleichen Zweck dienten Hilfsarbeiten bei einem Dachdecker, Gartenarbeiten bei einer alten Dame in Bühlau (die mich vergleichsweise fürstlich entlohnte, außerdem noch Kaffee und Kuchen bzw. das Abendbrot spendierte), Holz hacken, Fenster streichen, elektrische Eisenbahnen aufbauen u. ä. . Alles unerlaubt, eigentlich hätte ich in dieser Zeit Selbststudium betreiben müssen. Ab und zu fiel bei den Kontrollen auch auf, dass Müller wieder einmal nicht da war. Da galt es, eine gute Ausrede parat zu haben oder es gab Verwarnungen, Verweise o. ä., die aber noch harmlos waren; denn da ich sehr gute Studienleistungen aufzuweisen hatte, sah man von ernsthafteren Bestrafungen noch ab. Im folgenden Jahr sollte sich das ändern.
Im Mai taucht der Rahmenzeitplan noch einmal im Tagebuch auf, zusammen mit „Unterschreiben des Vertrages über drei Jahre“, leider ohne nähere Erläuterung. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder drei Jahre in der KVP dienen oder nach dem Studienabschluss dort arbeiten, wo es Partei und Regierung für notwendig erachten.
Dann haben wir im Juni einen „Tag der Bereitschaft“ (wahrscheinlich Wehrbereitschaft gemeint); denn kurz darauf ist von einem Friedensmarsch in Wachwitz die Rede, bevor am 2. Juli der letzte Schultag war. Wegen des vorgesehenen Motorradkaufes begann ich schon am nächsten Montag mit Arbeiten wieder unerlaubt in den SILESIA-Ofenwerken in Pulsnitz (existieren nicht mehr) und blieb dort bis zum letzten Ferientag (Sonnabend, 3. September). Am folgenden Montag begann die Schule wieder. Ich hatte mir also in diesem Jahr keinen einzigen Urlaubstag gegönnt. Genau genommen, habe ich in zwei dieser neun Wochen sogar eine Art Doppelschicht geleistet; denn ich musste mich parallel noch auf fünf mündliche Prüfungen vorbereiten (Mathematik, Physik, Chemie, Deutsch, Literatur), bevor ich am 16. Juli mein Zeugnis in Empfang nehmen konnte, wobei mir trotz meiner vielen Disziplinverstöße noch eine Sonderehrung zuteilwurde. Am Vortage hatte es bereits einen großen Abschlussball in der Nordhalle (jetzt Armeemuseum) gegeben und kein Mädchen trug gestrickte Strümpfe!
Am 5. September begann das zweite Studienjahr, wobei bereits nach einer Woche schon wieder eine Unterbrechung war Ernteeinsatz im VEG (Volkseigenes Gut) Rennersdorf, wobei wir in Langenwolmsdorf arbeiteten. Vorwiegend Kartoffeln lesen, aber auch ein Nachtdrusch an der stationären Dreschmaschine war dabei (damals erst wenige Mähdrescher verfügbar). Damit ich am Schluss des Einsatzes schneller in meinen Heimatort Großröhrsdorf gelangen konnte, fuhr mich der Dozent Schuster (Geschichte), eigentlich einer meiner Widersacher in puncto Disziplin u. ä ., auf seiner BK 350, das schwerste Motorrad, was wir damals hatten, nach Hause. Das war ein Fahrgefühl; denn Herr Schuster war nicht nur ein schneidiger Dozent, sondern auch ein schneidiger Fahrer! Vom Volksgut wurden wir dann zum Erntefest nach Helmsdorf eingeladen. Diesmal gab`s aber keine BK 350, so dass ich 20 Kilometer nach Hause laufen musste. Früh 6 Uhr war ich da. Es hätte eher sein können, aber da war noch eine "Heemfuhre" dazwischen.
Neben diesem einwöchigen Einsatz gab es auch noch tageweise Einsätze. Der letzte fand am 31. Oktober statt – Kartoffeln lesen auf einer LPG. Wahrscheinlich waren wir aufgrund der fortgeschrittenen Jahreszeit die einzige Rettung, die Ernte überhaupt noch einzubringen.
Am 7. Oktober hatten wir die übliche Demonstration zum Tag der Republik und eine Woche später einen Fackelzug der FDJ vom Rathaus zum Zwinger, wo es wieder einmal zu einem „Zusammenstoß mit Heimdozent Dr. Scheibe“ kommt. Auch im Oktober müssen wir von der Feuerzangenbowle o. ä. inspiriert worden sein; denn wir machten groben Unfug: Mit Unkraut-Ex (NaClO3) herumknallen (konnte auch als harmloser Sprengstoff genutzt werden) und Schwefel im Klassenraum verbrennen. Dass das nicht ohne Folgen blieb, ist klar. Zwar waren immer mehrere daran beteiligt, aber ich wurde als Rädelsführer angesehen.
Im November organisierten wir unser Heimfest im „Gasthof zum Russen“ (ein Wunder, dass dieser Name beibehalten werden durfte), bevor am Sonnabend, den 17. Dezember der letzte Schultag vorüber war. Die noch verfügbaren Werktage bis Weihnachten, einschließlich des Heiligen Abend, nutzte ich wieder zum Geldverdienen, diesmal als Transporter in der Tischfabrik Großröhrsdorf (nicht mehr existent). Es gelang mir auch wieder, über den Jahreswechsel einen Ferienplatz vom Betrieb zu organisieren, diesmal in das Betriebsferienheim „Schäfermühle“ in Waldbärenburg (jetzt Hotel und Gaststätte).
Wie sah`s mit anderen Vergnügungen aus? Die große Zeit der Eroberung der Dresdner Tanzlokale war schon vorüber. Ich hatte inzwischen zu Hause eine Freundin gefunden, ging deshalb nicht mehr so viel Tanzen und wenn, dann in Großröhrsdorf und Umgebung. Ein Vergnügen finde ich noch erwähnenswert – Baden in der Elbe. Vom Wohnheim in Laubegast war sie kaum einen Steinwurf entfernt. Das Wasser war zwar na ja, wir mussten uns hinterher immer duschen, aber das hielt uns nicht ab. Wenn dann ein Schleppzug kam, versuchten wir, uns an das Beiboot des letzten Kahns anzuhängen, bis Pillnitz ziehen und von der Strömung wieder nach Laubegast treiben zu lassen. Die Schiffer sahen das nicht immer gern, schlugen manchmal mit langen Stangen nach uns. Dann hieß es schnell die Finger weg vom Boot.