Das Jahr 1961 aus studentischer Sicht
Wie schon angedeutet (Absturz der „152“ im März 1959), kam nun das Aus für den Flugzeugbau der DDR. Es war schon lange gemunkelt worden, Gewissheit erhielten wir dann am 17. März von Dr. Barghorn, der bei Mess- und Prüftechnik las und der hauptamtlich im Flugzeugwerk beschäftigt war.
Die offizielle Mitteilung in diesem Werk bzw. in der Presse erfolgte erst einige Wochen später. Die bereits begonnenen Fächer wurden aber noch zu Ende geführt, was sich z. T. noch bis ins 10. Semester 1962 hinzog. Eine Umorientierung bezüglich des Abschlusses erfolgte aber umgehend, da die Fakultät mit dem Semesterende aufgelöst wurde.
Wir (Fachrichtung Flugzeugfertigung) gingen zweckmäßigerweise zu Fertigungstechnik/ Werkzeugmaschinenkonstruktion, wobei ̶ wenn wir gewollt hätten ̶ auch andere Optionen möglich waren. Es bestand kein Zwang. Übrigens, wenn auch in den Publikationen (u. a. auch vom Hannah-Arend-Institut) nichts darüber zu lesen ist, so ganz ohne Probleme ging die Einstellung des Flugzeugbaus nicht vonstatten. Auch an der TUD gab es Proteste, wenn auch in bescheidenem Maße. Da waren schwarze Fahnen am Wohnheim Dürerstraße, wohl auch ein Kreuz, und ̶ wenn ich mich recht erinnere ̶ „Bewährung in der Produktion“).
Im Mai wurde dann der letzte Beleg fertiggestellt und damit das 8. Semester beendet. Anschließend ging unsere Seminargruppe geschlossen für zwei Wochen zum ökonomischen Einsatz nach Pöhl/Vogtland zum Talsperrenbau. Aus anfänglich nicht erwünschter Ferienarbeit von Studenten („Ein sozialistischer Student hat das nicht nötig“) war allmählich infolge des Arbeitskräftemangels in der DDR eine Sache geworden, die neben zusätzlichen Monaten auch noch eine gute Beurteilung brachte. Unsere Arbeitszeit als Tiefbauarbeiter ̶ war das eine Knochenarbeit! ̶ ging von 6 bis 15.45 Uhr. Mit allem Drum und Dran hatte ich ein Netto von 272,50 Mark. Für Verpflegung, Bier u. ä. (Unterkunft war umsonst im ehem. Schloss Pöhl) gingen 105 Mark drauf, so dass noch ein schöner Betrag übrigblieb. Davon konnte noch eine anschließende 11-tägige Radtour (Vogtland-Thüringen-Harz), die ich mit meinem Freund Barghorn jun. unternahm, finanziert werden (107 Mark bei Übernachtungen in Jugendherbergen), und es blieben immer noch 60 Mark übrig. Interessant ist die Einschätzung der Baustelle. Da ist in meinem Tagebuch zu lesen: „Arbeitsorganisation wie überall auf Baustellen: mies. Arbeitsintensität meines Erachtens zu gering. Viel unnütze Arbeit wird getan.“ Offensichtlich hatte man schon damals ein gewisses Gefühl, dass nicht alles so war, wie es immer propagiert wurde. Oder wir waren von der TUD her einfach mehr Leistungsdruck und Disziplin gewöhnt.
Der eigentliche Urlaub führte mich dann für zwei Wochen in die polnische Tatra und noch mal eine Woche mit dem Zelt ins Vogtland. Bei gutem Wirtschaften konnte man sich das als Student durchaus leisten.
Das 9. Semester begann mit der so genannten „Großen Exkursion“. Neun Tage waren wir unterwegs. Von Montag bis Sonnabend Betriebsbesichtigungen bzw. Weiterfahren, und auch der dazwischenliegende Sonntag wurde noch zum Fahren genutzt. Es war also nichts mit viel Freizeit auf dieser Reise. Welche Betriebe wurden besichtigt? Das Industriewerk Ludwigsfelde, das Elektrochemische Kombinat Bitterfeld, das Leichtmetallwerk Rackwitz, das Zentralinstitut für Schweißtechnik in Halle, das Walzwerk Hettstedt und das Industriewerk in Karl-Marx-Stadt (jetzt wieder Chemnitz). Diese Betriebe existieren heute nur noch zum Teil. Das meiste ist zur Industriebrache geworden. Was hat es mit der seltsamen Bezeichnung „Industriewerk“ auf sich? Es war eine Art Tarnbezeichnung für die Betriebe, die Zulieferer für den Flugzeugbau waren (so das Automobilwerk Ludwigsfelde). Auch hier finden sich einige kritische Bemerkungen. In Ludwigsfelde mussten wir ewig warten, bevor wir ins Werk gelassen wurden. Sicherheit ging eben über alles! Dann bekamen wir nur die Fertigung des Motorrollers zu sehen anstatt der erwarteten Triebwerksfertigung oder ̶ als es ihn schon gab ̶ den LKW W 50. In Bitterfeld regte sich wohl schon bei mir eine Art Umweltbewusstsein, denn da steht geschrieben: „Ein deprimierender Eindruck, furchtbar viel Dreck, eine Dunstglocke über Werk und Stadt, giftige Rauchschwaden ziehen umher.“ Später in der Praxis haben wir uns wohl alle an solche Verhältnisse gewöhnt. Da wir in Bitterfeld einen freien Nachmittag hatten, suchten wir uns ein Tagebau-Restloch zum Baden. Einige Tage später schuppte sich unsere Haut beachtlich ̶ wir hatten wohl einen „Phenolsee“ erwischt, es roch schon ein bisschen eigenartig.
Kaum eine Woche von der „Großen Exkursion“ zurück, wurde der Studienbetrieb schon wieder unterbrochen: Auf zum „1. Zentralen Ernteeinsatz der TUD“. Für uns hieß das: Auf nach Langenwolmsdorf zur LPG „Neue Zeit“ und 16 Tage lang zur Kartoffelernte. Früh 3 Uhr aufstehen, 4.30 Uhr ab Hauptbahnhof und 7.15 Uhr an Stolpen. Nicht gerade eine atemberaubende Geschwindigkeit. Mit einem guten Schritt hätte man es in dieser Zeit auch zu Fuß geschafft. Arbeitszeit war von 7 bis 17 Uhr, und gewohnt wurde in den ehemaligen Gesindestuben der Bauernhöfe geschlafen. Es gab 1,13 Mark pro Stunde, Kost und Logis gratis. Das ergab am Ende knapp 150 Mark, von dem ̶ bis auf ein paar Biere ̶ nichts verbraucht wurde bzw. verbraucht werden konnte; denn abends war nichts los und außerdem waren wir nach der Arbeit ganz schön geschafft. Ein erkleckliches Sümmchen also zusätzlich, mit dem ich 100 Liter Gemisch kaufen und mehr als ein Jahr mit meiner RT 125 (125 ccm Hubraum) fahren konnte. So rechnete man eben.
Ach ja, wenn wir auch bei der Arbeit sehr diszipliniert waren ̶ manchmal hatten wir den Eindruck, mehr zu leisten als die Genossenschaftsmitglieder ̶ nach Feierabend wurde „die Sau raus gelassen“, d. h. diverser Unfug getrieben und unsere Redeweise war alles andere als gebildet.
Deshalb gab‘s auch einen Zusammenstoß mit einem Betreuer der TUD, der uns vorhielt, dass wir uns nicht wie sozialistische Studenten verhielten. Aber wir sahen unseren „Kampfauftrag“ (damals übliche Bezeichnung) zum Feierabend als erfüllt an und dabei blieb es. Da wir von der LPG am Schluss unseres Einsatzes hoch gelobt wurden, hatte das „ungebührliche Verhalten“ an der TUD auch kein Nachspiel. Man hatte wohl auch etwas gelernt; denn einige Jahre eher ̶ insbesondere als ich noch an der ABF war ̶ hätte es dieses Nachspiel garantiert noch gegeben.
Schließlich gab´s dann noch einen gewissen Ärger bezüglich der „1000-Mark-Studenten“, die in unserem Wohnheim untergebracht wurden. Es waren bewährte Parteikader aus der Industrie, die bei Weiterzahlung ihres Gehaltes (oder zumindest eines beträchtlichen Teiles davon) in zwei Jahren zum „Dipl.-Ing. des Industrieinstituts“ gemacht wurden. Das schöne Zimmer, in dem wir zu zweit wohnten, musste für die Genossen geräumt werden. Das fuhr uns in die Nase. Zuerst zögerten wir den Umzug hinaus, solange es ging. Als er nicht mehr zu umgehen war, machten wir es so umständlich wie möglich, mit großem Getöse und beschädigten dabei einiges absichtlich, aber wiederum so, dass uns die Absicht nicht nachgewiesen werden konnte. Es war wohl unsere kleine Form der „Taktik der verbrannten Erde“ als Protest gegen diese Maßnahme.