Meine Jahre vor dem Studium – Das Jahr 1954
Von 1954 bis 1957 studierte ich an der ABF (Arbeiter- und Bauernfakultät, sinngemäß nachgeholte Oberschule – heute Gymnasium – für die jungen Leute, die aus irgendwelchen Gründen, in meinem Falle wegen zu geringem Einkommen der Eltern, diese Schule nicht besuchen konnten).
Nach meiner Schulentlassung 1950 (Grundschule, 8. Klasse, 9. und 10. Klasse gab es noch nicht) lernte ich in der SAG (Sowj. Aktiengesellschaft) Sachsenwerk Radeberg (später VEB Sachsen, dann VEB RAFENA, und schließlich VEB ROBOTRON, als solches nach 1990 „abgewickelt“, wie so viele andere Betriebe) den Beruf eines Werkzeugmachers, damals ein Traumberuf, heute bei weitem nicht mehr so attraktiv.
Im März 1954 findet sich dann ein erster Eintrag über die ABF – ein Gespräch mit einem etwas älteren Bekannten, der diese schon absolviert hatte, und mir riet, auch diesen Bildungsweg einzuschlagen.
Was war die ABF?
An Universitäten und Hochschulen eine eigene Fakultät, wo in drei Jahren (anfangs in nur zwei Jahren, aber das war wohl doch zu kurz) die Hochschulreife, d. h. Abitur (9. bis 12. Klasse) erreicht werden konnte, um dann zu studieren. Damit sollte eine Intelligenz herangezogen werden, die aus der Arbeiterklasse kam und mit dieser verbunden blieb.
Junge (Fach) Arbeiter, die „gut“ waren, wurden entweder daraufhin angesprochen oder konnten sich bei der Kaderabteilung des Betriebes melden. Da ich „gut“ war (Facharbeiterprüfung mit „Sehr gut“ bestanden), wurde ich daraufhin angesprochen. Irgendwie muss ich mich dann ganz schnell entschieden haben; denn wenige Tage nach o. g. Gespräch stet bereits im Tagebuch „Erstmals Vorbereitungslehrgang für die ABF“. Etwa fünf bis zehn Jungfacharbeite hatten sich für die ABF gemeldet (Der Betrieb bildete damals viele Lehrlinge aus, da könnte sich mancher Betrieb heute ein Beispiel nehmen).
Da man der Meinung war, dass wir in den Jahren seit unserer Schulentlassung bereits viel Wissen wieder vergessen hätten, wurde ein solcher Lehrgang organisiert. Er begann im März und dauerte bis zum Juli, insgesamt zehnmal, jeweils mittwochs (Deutsch) und donnerstags (Russisch) nach Arbeitsende. Deutsch wurde von einem pensionierten Gymnasiallehrer gegeben, der großen Wert auf den Konjunktiv legte. „Wenn er mir hülfe, träfe ich sicher das Ziel.“ Das klingt doch viel besser als „Wenn er mir helfen würde, würde ich ...“ – nicht wahr? Spräche (Konj.) ich heute noch so, hielte (Konj.) man mich wohl als von einem anderen Stern. So ändern sich die Zeiten und auch das Leben. Im April fand eine Aufnahmeprüfung für die ABF statt, die aber keine besondere Hürde gewesen sein muss; denn ich habe darüber nicht weiter vermerkt. Im August gab es dann eine Abschiedsfeier in der Brigade. (Brigaden hin, Brigaden her, irgendwie hatte das Brigadeleben manchmal doch seine Reize) und schließlich eine offizielle Verabschiedung für alle Arbeiterstudenten (offizielle Bezeichnung für uns lt. SVK-Buch) im Klubhaus des Betriebes mit anschließendem Jugendtanz. Die letzten Tage im Werkzeugbau habe ich noch viele Überstunden gemacht, um alle angefangenen Aufträge abzuarbeiten. Ich weiß nicht mehr, ob angewiesen oder von mir aus, eine solche Aufgabenhaltung ist uns jedoch später in der DDR abhandengekommen.
Dann kam der 2. September 1954 und damit der Tag meiner Abreise von Großröhrsdorf, meiner Heimatstadt, nach Dresden zur ABF. Einweisung ins Wohnheim: 4-Bett-Zimmer, einfachstes Mobiliar, knarrende Dielen, Ofenheizung und ein Bett, das so durchgelegen war, dass ich Rückenschmerzen bekam. Eine meiner ersten Aktivitäten bestand deshalb darin, auf dem Schutt Bretter zu suchen, diese unter die Matratze zu schieben und damit die „Furzmulde“ (Verzeihung, war aber gängiger Ausdruck dafür) zu beseitigen. Aber einen schönen Blick zur Elbe hatten wir. Übrigens, das Wohnheim ist auch ein Opfer der Jahrhundertflut geworden. Und dabei war es erst vier Jahre zuvor gründlich saniert worden. Am nächsten Tag erfolgte eine Einführung in die ABF. Das Gebäude befand sich in der Teplitzer Str. und war einst. Es erfolgte die Einteilung in Seminargruppen und wir erhielten den Stundenplan.
Welche Fächer hatten wir im ersten Studienjahr? Deutsch, Gesellschaftswissenschaften, Geschichte, Russisch, Körpererziehung, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geographie und Musik.
Eigentlich sollten wir nach dem Unterricht (wir sprachen immer von Schule, nicht vom Studium) nachmittags regelmäßig einige Stunden Hausaufgaben erledigen und weiterführendes Selbststudium betreiben. Dazu sollten wir uns gegenseitig kontrollieren ̶ es gab ein Gruppenaktiv, das regelmäßig Einschätzungen vorzunehmen und monatlich eine Heimversammlung, wo ein entsprechende Auswertung vorgenommen wurden. Als zusätzliche Kontrollorgan gab es noch für jedes Heim einen verantwortlichen Dozenten. Unserer hieß Dr. Scheibe, gab Geographie und war sehr zackig (ggf. Offizier gewesen). Da es anfangs sehr langsam voranging und ich noch ein sehr gutes Vorwissen hatte, hielt ich mich nicht an diese Festlegungen. Das konnte nicht lange gut gehen. Doch darüber später.
Was taten ich bzw. wir in der Freizeit?
Zuerst einmal fuhr ich alle Straßenbahn- und Stadtbuslinien ab. Wozu hatte ich denn eine Monatskarte? Damit hatte ich ein Vierteljahr zu tun. Eine ganze Reihe dieser Straßenbahnlinien existieren heute nicht mehr: Nach Freital und Hainsberg, nach Cossebaude, nach Übigau, nach Trachenberge, nach Pillnitz, nach Johannstadt, zum Schlachthof, nach Kreischa, nach Leubnitz-Neuostra und die O-Buslinie von Weißig zum Nürnberger Ei. Da ich schon immer gern gewandert bin, erkundete ich die Dresdner Umgebung von Laubegast aus, meistens zu Fuß. Es begann mit den Südhöhen (Babsinauer Pappel), dem Wilisch, dem Park Großsedlitz, Schloß Weesenstein und das Elbtal bis Wehlen. Das Maximum war eine Wanderung über Rosenthal bis an die Grenze zur CSR. Der Decnasky Snesnik (Hoher Schneeberg 721m) den man vom Heim aussehen konnte, hatte mich gar zu sehr gelockt. Das mögen an die 50 km gewesen sein. Allerdings sollte es noch etwa 50 Jahre dauern, bevor man die letzten 4 km bis zum Gipfel auch wandern konnte (Öffnung des Grenzübergangs Rosenthal erst in den 90er Jahren).
Natürlich war man als junger Mann auch an anderen Dingen interessiert, zum Beispiel Tanzveranstaltungen. Ganz schnell entdeckten wir „Donaths Neue Welt“ in Tolkewitz, lag ja quasi vor der Haustür (heute ungenutzt, verfällt). Dort gab es regelmäßig Schlägereien und man musste höllisch aufpassen, nicht mit verwickelt zu werden. Weiterhin wurden in den ersten Monaten bereits „abgegrast“: Das Parkhotel im Weißen Hirsch, das Kurhaus Bühlau, der Lindengarten (Liga) auf der Königsbrücker Straße (bekannt durch den Slogan „drei Säle, drei Kapellen, drei Möglichkeiten“, existiert heute nicht mehr in der ursprünglichen Form) und das Volkshaus Laubegast. Im letzteren war donnerstags immer verkehrter Ball, d.h., die Damen forderten die Herren zum Tanze auf, und in fortgeschrittener Stunde gab's eine Tour Herrenwahl. Na ja, war nicht so das Gelbe vom Ei, aber da haben wir gespürt, wie's einem Mädchen zu Mute sein muss, wenn es von einem Jungen zum Tanzen aufgefordert wird, den es nicht mag. Dann gab's noch weitere Vergnügen, die wir als Nicht-Dresdner bisher nicht kannten. Zum Beispiel Radrennen in Heidenau, Pferderennen in Seidnitz und Rummel auf dem Fucikplatz (heute Straßburger Platz). Schließlich wurden noch selbst Klassenfeiern und Heimabende organisiert oder man nahm an solchen Feiern anderer Klassen teil. Das war gewissermaßen die Fortsetzung des Brigadelebens aus den Betrieben. Und natürlich jede Menge Kinobesuche, wobei es immer etwas Besonderes war, wenn man eine Karte für die „Schauburg“ (damals das beste Dresdner Kino) ergattern konnte. Aber auch die richtige Kultur kam nicht zu kurz. Von der ABF wurden Theater- und Konzertbesuche organisiert, wobei die an sich schon billigen Karten (verglichen mit heute) für uns nochmal subventioniert wurden. Das wussten wir damals aber nicht zu schätzen.
Waren wir selbst irgendwie aktiv?
Aber natürlich: Fußballspielen, Leichtathletik, Motorrad-Geländesport im Rahmen der GST (wahrscheinlich auf einer AWO, damals eine sehr bekannte Marke) und jede Menge Skat, verbunden mit „einarmigem Mollenreißen“ in einer der kleinen Kneipen am Elbufer gleich in unserer Nähe. Damals war es auch üblich, Arbeitseinsätze zu leisten, in der Regel unentgeltlich. Da war ein Ernteeinsatz (am Sonntag!) in Meißen, ein Einsatz im sog. Mitschuringgarten (wahrscheinlich im ABF-Gelände) und das Umgraben des Gartens vom Wohnheim. Von einem bezahlten Arbeitseinsatz ist im Tagebuch die Rede – sieben Stunden Kartoffeln entladen für 10 DM, letzteres dick unterstrichen, muss ein vergleichsweise guter Verdienst gewesen sein. Übrigens DM ist kein Fehler, wir hatten diese damals, allerdings war es nicht die DM, die 1989 so sehnlichst herbeigesehnt wurde.
All die aufgeführten Freizeitaktivitäten können vielleicht den Verdacht erwecken, dass wir keine Geldsorgen hatten. Nun, ganz so war es nicht, aber das Stipendium war damals ziemlich großzügig. Der Staat ließ sich die Ausbildung der neuen Intelligenz etwas kosten. Das Stipendium betrug 180 DM, wovon 10 DM für Miete und all die Kosten abgezogen wurden, die wir heute als Nebenkosten bezeichnen. Diese 180 DM entsprachen etwa 60 % des Nettoverdienstes, mit dem ich im Werkzeugbau (Lohngruppe 5 und Leistungslohn, wobei ich schon damals ganz schöne „Prozente“ machte) aufgehört hatte. Dieser Prozentsatz wurde aber im Laufe der Jahre immer niedriger, da das Grundstipendium gleichblieb, die Löhne und Gehälter in der Industrie aber ständig stiegen. 1962, am Ende meines Studentendaseins waren es ̶ auf meine beruflichen Verhältnisse und auf das Grundstipendium bezogen ̶ nur noch etwa 20 %, höchstens 25 %. Kein Wunder, wenn das Interesse zu studieren ständig abnahm.
Zum Schluss komme ich zum heikelsten Punkt des Beginns meines Studentendaseins – der Nichtbefolgung von festgelegten Regeln, der Nichteinordnung ins Kollektiv, der Aufsässigkeit u. ä. ̶ und dabei war ich eigentlich ein fortschrittlich eingestellter und sehr aktiver Mensch. Die Gründe hatte ich schon aufgeführt und hinzu kam, dass meine Heimfahrzyklen immer kürzer wurden, weil mir die – etwas spitz formuliert – Kasernierung irgendwie zuwider war. Es sollte aber nicht jede Woche nach Hause gefahren werden, gleich recht nicht unter der Woche. Ich tat das aber öfters. Freundin zu Hause, das sagt alles. So nimmt es nicht Wunder, wenn bereits unter dem 27. Sept. steht: „Heimversammlung, mächtig durch die Sch ... gezogen.“ Offensichtlich war ich aber nicht der einzige Querulant; denn unter dem 8. Nov. ist vermerkt „Alle haben die Schn ... voll“, und kurz danach steht „kritische Zuspitzung der Lage“. Am 2. Dez. wurde mir ein Verweis angedroht und am 6. Dez. gab's auf einer Seminargruppen-Aktiv-Sitzung „heiße Diskussionen mit Dr. Scheibe“. Es ging Schlag auf Schlag. Am 8.Dez. fand bereits eine Heimversammlung statt. Was fand ich da notierenswert? „Wieder mächtig durch die Sch ... gezogen. Antrag auf Verweis gestellt (Wahrscheinlich von Dr. Scheibe), jedoch nicht durchgesetzt (irgendwie mussten die Mitstundenten bzw. bestimmte Vertreter derselben zustimmen, was diese jedoch nicht taten).“ Ich hatte noch eine Frist zum Bessern bekommen. Ob ich sie genutzt habe, werden wir im nächsten Beitrag sehen. Jetzt war aber erst einmal die Weihnachtszeit herangekommen.
Freudige Überraschung: Von der ABF bekamen wir einen Stollen geschenkt (es gab noch Lebensmittelmarken, da war so ein Geschenk sehr willkommen). Am Sonnabend (war damals normaler Unterrichtstag), den 18. Dez., war der letzte Schultag – und ab ging's nach Hause. Am Tag zuvor mussten wir noch von der ABF bis zum Wohnheim in Laubegast laufen; denn in Folge starken Nebels war der gesamte innerstädtische Verkehr zusammengebrochen. An Schlaf war kaum zu denken. Neben Kofferpacken und den üblichen Keilereien wurde bis spät in die Nacht Skat gedroschen. Im Betrieb (man war ja delegiert, war in gewisser Weise noch Betriebsangehöriger) bekam ich dann 60 DM Prämie für gute Leistungen – eine tolle Überraschung. Auch hatte ich mir aus dem Kontingent des Betriebes an FDGB-Ferienplätzen über den Jahreswechsel noch eine Wintersportwoche im Harz „organisiert“. Am 29. Dez. stand ich auf dem tief verschneiten Brocken (mit Passierschein damals noch möglich). Es sollte 45 Jahre dauern, bis ich zum zweiten Male da oben stand.