Abhauen oder bleiben?
Universitätsjournal 18/2019
Die Geschichte der TU Dresden hat auchihre spektakulären Facetten, die geradeangesichts des 30. Jahrestages des Mauerfallsins Gedächtnis gerufen werden sollten und die auf vielfältige Weise mitder Gegenwart verwoben sind.
Studentenprozess 1959
Als 1959 der wohl auch international am nachhaltigsten wahrgenommene politische Prozess gegen Studenten in der DDR endete, bedurfte es schon seherischer Kräfte, um vorauszuahnen, dass rund 30 Jahre später die Mauer fällt. Der vor über 60 Jahren stattgefundene Dresdner Studentenprozess hatte exemplarisch den Widerspruch der DDR-Gesellschaft zwischen postuliertem Anspruch und Realität offenbart. Studenten aus der Technologie und der Elektrotechnik hatten sich zu einer oppositionellen und widerständigen Gruppe zusammengefunden, um mit einem am Vorbild der Budapester Studenten von 1956 orientierten 16-Punkte-Programm die Gesellschaft in Richtung
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verändern. Dabei diskutierten sie ihre Vorstellungen von einem modernen Staat, wobei auch alternative Vorstellungen zur Form der Bundesrepublik auf der Tagesordnung standen. Die Mitglieder der Gruppe vertraten ein breites politisches Spektrum von links bis eher konservativ. Mit hohem Risiko hatten sie versucht, weitere Verbündete in und außerhalb der Universität zu gewinnen. Sie suchten dabei vergebens Unterstützung auch bei westdeutschen Organisationen und staatlichen Stellen, zuletzt waren sie um Konspiration und organisatorische Sicherheit bemüht und ahnten nicht ohne Grund Infiltration und Überwachung vom Staatssicherheitsdienst. Die anschließenden Verfahren im April 1959 gegen 14 Studenten vor dem Dresdner Bezirksgericht wurden von der gesamtdeutschen und auch internationalen Öffentlichkeit verfolgt. So nahmen Westberliner Studenten als Abgesandte der dortigen Studentenschaft als Prozessbeobachter am Prozess teil, der nicht den Erwartungen der Initiatoren entsprach und dessen Folgeprozess gegen weitere mitangeklagte Studenten deshalb unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Die verhängten unverhältnismäßig hohen Zuchthausstrafen sollten abschreckend auf mögliche Nachahmer wirken.
Fluchtursachen
Im März 1961 war der TH Dresden vom Ministerrat der DDR der Status einer Universität zuerkannt worden. Der Festakt zur offiziellen Umbenennung fand keine zwei Monate nach dem Mauerbau am 5. Oktober 1961 während einer ganzen Festwoche mit Prominenz und internationalen Gästen statt. Selbst aus dem Westen war mit dem TH-Absolventen Graf von Wedel aus Wiesbaden ein Ehrengast zugegen. Trotz politischer Reglementierung war das Studium in Dresden ebenso in der Bundesrepublik anerkannt. Gelobt und manchmal bewundert wurden neben den guten Studienbedingungen die sozialen Vergünstigungen und das breite kulturelle Angebot. Aber auch Dresden war von der wieder steigenden Westflucht betroffen, die nicht nur der lockenden Freiheit geschuldet war. Die außerordentlich hohen Steigerungsraten der westdeutschen Industrie und der damit
einhergehende Bedarf an gut ausgebildeten Ingenieuren und Technikern sicherte eine rasche Arbeitsaufnahme bei guten Gehältern. Die Dresdner Professorenschaft, selbst während des vergangenen Jahrzehnts von renommierten Abwanderungen gen Westen nicht verschont, debattierte über die Auswirkungen von diesem Massenexodus. Am 4. September 1960 warnte Werner Albring, der angesehene Ordinarius für angewandte Strömungslehre, »dass ein großer Prozentsatz unserer Absolventen nach dem Westen gegangen« sei.
Mit der Schließung der Grenze zu Westberlin am 13. August 1961 und dem nachfolgenden Bau der Mauer war einerseits bewiesen, dass sich die DDR im offenen und freien Wettbewerb nicht behaupten konnte, andererseits war eine Tatsache geschaffen worden, die für die Mehrheit der damaligen DDR-Bürger auf unabsehbare Zeit die Alternative einer Abwanderung in den westlichen deutschen Teilstaat ausschloss.
Insbesondere in den Wochen vor dem 13. August 1961, aber auch noch danach hatten viele Dresdner Studenten die DDR verlassen, so dass für das zweite Halbjahr 1961 die Hochschulstatistik 124 Direktstudenten auswies, die die mit rund 11 000 Kommilitonen frequentierte Universität verlassen hatten. Nur die Berliner Universität verzeichnete mit 232 geflüchteten Kommilitonen bei 10 360 eingeschriebenen Direktstudenten einen höheren Abwanderungsverlust. Insgesamt kehrten in jenen Monaten 686 Studenten an Universitäten und Hochschulen der DDR den Rücken. Nach Schätzungen verließen bis zum Bau der Mauer weit über 30 000 Studenten und Abiturienten die DDR. Die Zahl der abgewanderten Absolventen war vermutlich um ein Vielfaches höher, ist aber statistisch nur schwer zu fassen.
Nach dem Mauerbau
Etwa 150 Studenten wurden wegen ihrer offenen Ablehnung des Mauerbaus von DDR-Universitäten verbannt. In den Fakultäten der TU Dresden war teilweise heftig über die von der SED-Führung veranlasste Maßnahme der Abschottung diskutiert worden, die nicht zuletzt dem grenzüberschreitenden Wissenschaftsaustausch einen schweren Schlag versetzte. Die Mitarbeiter der Universität wurden aufgefordert, mit ihrer Unterschrift unter eine Entschließung dem Mauerbau ausdrücklich zuzustimmen. Dabei verweigerte Gottfried Ulbricht, Dozent im Institut für Organische Chemie, seine Unterschrift. Er wurde als »Sprecher der Todfeinde unserer Republik und der ganzen friedliebenden Menschheit« denunziert. Der Institutsdirektor versuchte noch erfolglos, eine Entlassung des Dozenten
abzuwenden. Auf die dem kritischen Dozenten zuvor in Aussicht gestellte Hochschullehrerlaufbahn musste er als politisch Gemaßregelter verzichten. Daraufhin nahm er eine Stelle im Arzneimittelwerk Dresden an. Erst mit der Rehabilitation 1990 widerfuhr Gottfried Ulbricht Genugtuung.
Besonders kritisch war die Stimmung in der Fakultät für Bauwesen. Hier wurden Ende August 1961 Verfahren wegen »feindlicher Auffassungen« selbst gegen mehrere SED-Mitglieder geführt. Ein Assistent kam in Haft. Drei weitere Assistenten wurden entlassen. Auch unter den Arbeitern und Angestellten der Universität gärte es. Wegen »Staatsverleumdung« kam ein Berufskraftfahrer in Haft.
Zu den bekanntesten Aktionen in der mehr als 28 Jahre währenden Geschichte der Berliner Mauer zählt der im Spätsommer 1962 von etwa 30 Personen, vor allem Studenten, im »Schichtbetrieb« von West- nach Ostberlin gebaute Tunnel, über den immerhin 29 Personen aus der DDR flüchteten. Nach rund zwei Monaten Bauzeit war der Verbindungstunnel von der Schönholzer zur Bernauer Straße mit einer Länge von 135 Metern fertiggestellt. Zu den Initiatoren und maßgeblich an der Ausführung des Projekts beteiligten Studenten gehörte Ulrich Pfeifer, der 1960 an der Fakultät für Bauingenieurwesen der TH Dresden sein Studium beendet hatte und für die Statik des Baus verantwortlich war. Die erheblichen Baukosten finanzierten die Westberliner Studenten, die auch von zwei italienischen Kommilitonen unterstützt wurden, durch den Verkauf der Filmrechte am Tunnelbau an den Rundfunk- und Fernsehsender NBC. Dieser Fluchttunnel ging im Gegensatz zu anderen ähnlichen Vorhaben und vielen tragisch gescheiterten individuellen Fluchten als eher erfolgreiches Projekt der Fluchthilfe in die Geschichte ein.
Der Fall der Mauer
Im Gegensatz zu den Universitäten in der Tschechoslowakei, Polen oder Ungarn waren 1989/90 die Universitäten der DDR und ihre Studenten, so auch der TU Dresden, zumeist nur Zaungäste oder Objekte während der umstürzenden Ereignisse. Nur Wenige setzten sich für konsequente, das bisherige politische System der DDR in Frage stellende Reformen ein, wie die acht Mitglieder der Sektion Mathematik, die am 6. November 1989, noch vor der Maueröffnung, eine demokratische Erneuerung an der Uni einforderten. Aber der Wille zu grundlegenden Reformen war insgesamt nur schwach ausgeprägt. Das zeigte sich auch am 13. November 1989 während der Vollversammlung der Beschäftigten und Studenten, die wegen des großen Interesses auf den Sportplatz der Uni verlegt werden musste. Hier trat mit Dr. Hilmar Heinemann von der Physik erstmals ein Mitglied des Neuen Forums mit radikaleren Forderungen auf, die keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung stießen. Schließlich starteten am 1. Dezember 1989 Mitarbeiter der Sektion Physik, wiederum vor allem Angehörige des Mittelbaus, den Gründungsaufruf »Initiative für die Umgestaltung der Universität«. Neben dem anfänglich kleinen Kreis von Mitarbeitern, die eine umfassende Erneuerung forderten, war die Zahl derer, die sich für
Reformen einsetzten und offen Kritik zum Beispiel an der zu geringen Investitionsquote an der Universität übten, wesentlich größer und reichte bis in die Reihen der SED.
Die eigentliche Erneuerung wurde am 4. Dezember 1989 mit einer Plenartagung
des Wissenschaftlichen Rates angestoßen, wo faktisch mit der desolaten DDR abgerechnet wurde und die Neukonstituierung der Universität auf der Tagesordnung stand. Ende Februar 1990 schließlich waren mit der Neuwahl von Senat und Rektor die Voraussetzungen für die Umgestaltung der Uni gegeben, die maßgeblich von Initiativen des 1990 gegründeten Landesverbandes Akademischer Mittelbau (LAMS) mit seiner aktiven Dresdner Gruppe begleitet wurden.
Die folgenden Jahre des Hochschulumbaus wiederum waren mit teils umstrittenen Reformen und äußeren Eingriffen verbunden, die einen in der Geschichte der Universität einmaligen personellen Aderlass zur Folge hatten. Die Reformen schufen aber wiederum Voraussetzungen für eine international konkurrenzfähige Universität.
Dr. Matthias Lienert
Direktor des Universitätsarchivs der TU Dresden.