Gottfried Semper (1803-1879) hat nicht allein aufgrund seiner Bauten in Dresden, Zürich und Wien europäische Bedeutung erlangt; er war auch einer von ganz wenigen Architekten, die ein wissenschaftliches Œuvre von hohem Rang hervorgebracht haben. Interessanterweise hatten seine Schriften nur zu einem kleinen Teil das Ziel, eigene Bauwerke vorzustellen, ja sie befassten sich großenteils gar nicht mit Architektur. Stattdessen ergründete Semper die Grundprinzipien künstlerischer Gestaltung in verschiedenen Materialien, wie Textilkunst, Keramik und Metallotechnik und führte diese auf die frühesten Entwicklungsstufen der Menschheit zurück – der eurozentrische Kanon der Kunstgeschichte wurde hier weitgehend überwunden. Sempers Studien zur Geschichte der menschlichen Kreativität, die von der englischen Kunstgewerbebewegung inspiriert wurden, gipfelten in dem zweibändigen Hauptwerk Der Stil (1860-1863), dessen Ideen die Künstler, Designer, Architekten und Theoretiker bis ins 20. Jahrhundert hinein stark beeinflusst haben.
Auf der anderen Seite war Gottfried Semper auch ein polemischer Geist, der vehement in die Gesellschafts- und Architekturdebatten seiner Zeit eingriff. Seit der sog. Polychromieschrift von 1834 sprach er sich mit Leidenschaft für die Rekonstruktion einer vielfarbigen Antike aus; in anderen Schriften wandte er sich gegen die Verfechter der Neugotik. Die Weltausstellung von 1851, die er zu Beginn seiner Londoner Exiljahre erlebte, inspirierte ihn zu radikalen Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Markt in einer bereits weitgehend globalisierten Welt.
Da der Seminarleiter kürzlich sämtliche Publikationen Gottfried Sempers neu herausgegeben hat, besteht für die Teilnehmer des Hauptseminars die Möglichkeit, tief in die Fragen der Werkgenese und Theorieentwicklung des Autors einzudringen. Andererseits eröffnet sich durch die Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Werk Gottfried Sempers eine weite Perspektive auf die Design- und Architekturgeschichte sowie die Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts. In der Architekturszene der letzten Jahre ist Sempers Bekleidungstheorie wieder neu entdeckt und rezipiert worden ist, und so soll abschließend auch der Blick auf die Situation der Gegenwart gerichtet werden.
Erwartet werden keine besonderen Sprachkenntnisse, aber die Teilnehmer(innen) sollten Interesse für Theorielektüre und –diskussionen und vor allem Neugier für Gebiete mitbringen (Kunsthandwerk, Ornament, Kunsttechnologie, Historismus, frühe und exotische Kulturen), die in der Kunstgeschichte eher selten behandelt werden. Falls ein besonderes Interesse an speziellen Schriften oder Fragestellungen besteht, kann der Seminarleiter bereits im Vorfeld kontaktiert werden: henrik.karge@tu-dresden.de.
Einführende Literatur:
- Gottfried Semper, Gesammelte Schriften, hrsg. von Henrik Karge, Hildesheim / Zürich / New York 2008-2014 (Bd. 1, 1 und 1, 2: Wissenschaftliche Abhandlungen und Streitschriften, mit Einleitung v. H. Karge; Bd. 2-3: Der Stil).
- Laudel, Heidrun: Gottfried Semper. Architektur und Stil, Dresden 1991.
- Mallgrave, Harry Francis: Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century, New Haven / London 1996 (dt. Übersetzg. 2001).
- Nerdinger, Winfried / Oechslin, Werner (Hrsg.): Gottfried Semper 1803-1879. Architektur und Wissenschaft, München / Zürich 2003.
- Karge, Henrik (Hrsg.): Gottfried Semper – Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Künste, München / Berlin 2007.
- Arburg, Hans-Georg von: Alles Fassade. ‚Oberfläche‘ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770-1870, München 2008.
- Orelli-Messerli, Barbara von: Gottfried Semper (1803-1879). Die Entwürfe zur dekorativen Kunst, Petersberg 2010.
- Payne, Alina: From Ornament to Object. Genealogies of Architectural Modernism, New Haven / London 2012.
|