Kulturelle Medien gesellschaftlicher Transformation (II)
Tagung der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie,
organisiert von Anna Henkel, Hilmar Schäfer und Dominik Schrage
28.–29.11.2019, Kulturverein riesa efau, Wachsbleichstraße 4a, 01067 Dresden
Welchen genuinen Beitrag kann die Kultursoziologie zur Untersuchung gesellschaftlicher Transformationen leisten? Mit der Tagung sollen Diskussionen fortgesetzt werden, die in der Sektion bereits seit einer Weile geführt werden und die zunächst auf dem DGS-Kongress 2018 im Rahmen einer Sektionsveranstaltung verhandelt worden sind.
Gesellschaftliche Transformationen sind ein, wenn nicht der Kerngegenstand der Soziologie. In modernen Gesellschaften ist sozialer Wandel auf Dauer gestellt. Waren es um die Wende zum 20. Jahrhundert Industrialisierung, Verstädterung, Bürokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft, so sind es nun Entwicklungen wie Globalisierung, Mobilisierung, Beschleunigung, Digitalisierung oder sozial-ökologische Transformationen.
Theorien des sozialen Wandels untersuchen diese Entwicklungen üblicherweise aus einer makrostrukturellen Perspektive und fragen dabei nach der Etablierung sozialer Strukturformen (Positionsordnungen, Differenzierungsmuster und Konfliktkonstellationen), nach gesellschaftlich wirksamen sozialen Akteursgruppen (Klassen, Sozialmilieus, Eliten- und Professionsgruppen, soziale Bewegungen) und den damit einhergehenden Präferenzordnungen (gefasst meist als Normen- und Werteordnung) – ohne jedoch die spezifische Kulturalität der sie tragenden Praktiken und Sinnhorizonte zu thematisieren. „Kultur“ erscheint ihnen oftmals als ein im Vergleich zu anderen Faktoren relativ stabiles, um nicht zu sagen träges Ensemble aus kollektiv geteilten Vorstellungen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die einflussreiche Theorie der kulturellen Phasenverschiebung von William Ogburn ([1922]1969). Sie identifizierte den Motor für gesellschaftliche Transformationen in technischen Innovationen oder wissenschaftlichen Entwicklungen und verstand Kultur als nachholendes, adaptives Element. In ihrer grundsätzlichen Unterscheidung von unabhängigen, als dynamisch aufgefassten Variablen des sozialen Wandels und abhängigen, das heißt von diesen beeinflussten Variablen, ist die Festlegung der Technikentwicklung als dynamisch und der Kultur als statisch-nachhinkend inhaltlich jedoch nicht zwingend. Ogburn selbst hat einer entsprechenden Fehlrezeption seines Ansatzes widersprochen und darauf hingewiesen, dass „die unabhängige Variable ebensogut eine Ideologie oder eine andere nicht-technische Variable sein könnte“ (Ogburn 1969: 139). Die Tatsache, dass vor allem technische Veränderungen als Auslöser für sozialen Wandel gesehen wurden, sei demnach auf die Auswahl der Beobachtungen zurückzuführen. Während dieser Zusammenhang in der industriellen Moderne noch auf der Hand zu liegen schien, ist er nicht erst seit dem Aufkommen einer spätmodernen Wissensökonomie fraglich geworden.
Gegenüber makrostrukturellen Perspektiven auf gesellschaftlichen Wandel ist für die Kultursoziologie zum einen charakteristisch, dass sie kulturellen Phänomene und Praktiken, die zunächst von kleineren Gruppen (wie etwa Avantgarden) initiiert werden und die in abgegrenzten Feldern wie den Künsten, in Intellektuellenzirkeln oder auch Subkulturen eine besondere Bedeutung erlangen, größere Aufmerksamkeit widmet. Paradigmatisch sind hier beispielsweise die Arbeiten von Georg Simmel, der wie kaum ein anderer der frühen Soziologen ein Interesse für die kleinen sozialen Formen und ästhetischen Phänomene entwickelte und sie immer wieder in Beziehung zu den großen Tendenzen der modernen Gesellschaft setzte. Überhaupt zeichnet sich die Kultursoziologie zweitens durch ihre eingehenden Fallstudien aus. Eine ihrer Stärken liegt in der dichten Beschreibung kultureller Phänomene, deren potentiell transformative Implikationen aus der herkömmlichen Perspektive einer Theorie des sozialen Wandels zumeist übersehen werden, so die Ausgangsüberlegung zu dieser Veranstaltungsreihe. Mithilfe einer kultursoziologischen Perspektive können die relevanten kulturellen Praktiken der Techniknutzung und ihre Leitbilder, die Konsumpraktiken oder die konventionellen Arrangements zwischen Produzenten, Konsumenten und Waren in den Blick, in denen sich Technikwandel oder Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse in einer Praxis realisieren, ebenso wie andere Felder kultureller Praxis – wie etwa die Künste –, in denen Wertvorstellungen und Haltungen entwickelt werden, die gesellschaftliche Veränderungen für größere soziale Gruppen als wünschbar erscheinen lassen.
Dementsprechend zielt die Tagung darauf, makrostrukturelle gesellschaftliche Transformationsprozesse und Fallanalysen kultureller Formen explizit aufeinander zu beziehen. Dazu werden zwei Vorschläge formuliert: Der erste Vorschlag besteht grundsätzlich darin, gesellschaftliche Transformationen von Wissensordnungen, kulturellen Praktiken und ästhetischen Phänomenen her zu denken und zu analysieren. Der zweite Vorschlag besteht darin, diesen Zusammenhang mit Hilfe eines erweiterten, konzeptionell gemeinten, Medienbegriffs zu fassen, der über die klassischen Verbreitungsmedien Sprache, Schrift, Buchdruck, die audiovisuellen Massenmedien und über digitale Medien wie das World Wide Web oder Twitter hinausgeht. Zu so verstandenen kulturellen Medien gesellschaftlicher Transformation gehören demnach auch materiale und symbolische Formen wie etwa Architektur, Technologie, künstlerische Darstellungsweisen oder Konsumobjekte. Dabei ist zentral, dass sich gesellschaftlicher Wandel in den zu betrachtenden Formen nicht nur widerspiegelt, sondern durch sie auch hervorgebracht und strukturiert wird. In dieser Funktion kann die Analyse der so verstandenen kulturellen Medien gesellschaftlicher Transformation an eine Reihe geläufiger Konzepte und Metaphern anschließen, wie beispielsweise „Katalysator“, „Transmissionsriemen“ oder „Ansteckung“.
Auf dem DGS-Kongress 2018 wurde bereits der Energiebegriff als kulturelles Medium der zweiten Phase der Industrialisierung betrachtet und dessen Rolle in Kommodifizierungsprozessen reflektiert; das Spießerverdikt wurde als eine normative Kategorie der Herabsetzung in seiner historischen Entfaltung von der Romantik („Philister“) bis zur Gegenwart („Gutmenschen“) verfolgt, die an der Entwicklung und Verbreitung alternativer sozialer Ordnungen beteiligt ist; Musikbestenlisten wurden als ein kulturelles Format verstanden, das nicht nur den Musikmarkt abbildet, sondern als Medium von Geschmackspräferenzen auch den gesellschaftlichen Stellenwert von Musik beeinflusst; schließlich wurden digitale Phänomene wie etwa die Bewegung des „quantified self“, Transparenzappelle und Partizipationsversprechen im Hinblick auf die Transformation alltagsethischer Auffassungen beleuchtet. Überlegungen aus diesen vorangegangenen Vorträgen und der Abschlussdiskussion sollen nun aufgegriffen und vertieft werden. Indem mit dieser Veranstaltung makrostrukturelle Dimensionen gesellschaftlichen Wandels aus kultursoziologischen Fallstudien heraus erschlossen werden, wird ein neues, auch sektionsübergreifendes Forschungsfeld eröffnet.
Literatur:
Ogburn, William F. (1969): Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften. Neuwied.
Die Zahl der Teilnehmenden ist beschränkt. Bitte melden Sie sich bis spätestens 10.11.19 per E-Mail an (bei Frau Naumann/Institut f. Soziologie: gabriele.naumann@tu-dresden.de).
An die Angemeldeten werden dann weitere Informationen verschickt.
Der Tagungsort ist nahe am Bahnhof Mitte, in der Nähe sind viele Hotels unterschiedlichster Preisklassen, die derzeit über die üblichen Portale noch recht günstig buchbar sind.
Programm
Do. 28.11.2019
13:30
Dominik Schrage (Dresden), Anna Henkel (Passau), Hilmar Schäfer (Frankfurt/O.): Einführung
14:15
Tino Heim (Dresden): Von der Arbeit am ‚Volkskörper‘ zur Steigerung des Lustkonsums. Sexualobjekte als Medien der Transformation von Macht- und Produktionsverhältnissen, Wissensordnungen und Beziehungsformen
15:00
Thorsten Peetz (Bremen): Die Digitalisierung der Intimsphäre
15:45 Pause
16:15
Hilmar Schäfer (Frankfurt/O.): Die Welt als Liste. Narrative Anreicherung und die Transformation der globalen Aufmerksamkeitsökonomie im UNESCO-Welterbe
17:00
Julian Müller (München): Bekenntnisgeneratoren. Medien- und Formenwandel im Zusammenhang mit biographischen Erzählungen
17:45
Cornelius Schubert (Siegen)/Johannes Paßmann (Siegen): Genussavantgarde und Cocktailkonsum. Zur Technografie kultureller Medien
18:30 Pause
20:00
Anne-Kathrin Hoklas (Dresden)/Dominik Schrage (Dresden)/Holger
Schwetter (Westerkappeln): Popmusik als Medium gesellschaftlicher Transformationen. Diskotheken und ihr Beitrag zum sozialen Wandel
nach 68 und vor 89 in der Bundesrepublik und der DDR
(öffentliche Abendveranstaltung in der Motorenhalle des riesa.efau)
Fr. 29.11.2019
9:00
Jan-Felix Schrape (Stuttgart): Die Unterscheidung von Privatheit und
Öffentlichkeit als soziotechnisches Konstrukt
9:45
Marius Meinhof (Bielefeld/Dresden): Digitales Bezahlen als Medium der Transformation von Konsumpraktiken in China
10:30 Pause
11:00
Katharina Block (Oldenburg): Storytelling als kulturelles Medium mit
sozialtransformativem Potenzial im Anthropozän
11:45
Anna Henkel (Passau): Nachhaltigkeit als Medium gesellschaftlicher Transformation
12:30 Abschlussdiskussion