Das Spießerverdikt: Formen, Funktionen und Dynamiken der Invektive gegen gesellschaftliche Mittellagen in der Moderne
Teilprojekt I des Sonderforschungsbereichs 1285 "Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung" der DFG
Leitung: Prof. Dr. Dominik Schrage
(Das Projekt ist im Juni 2022 ausgelaufen)
Projektmitarbeiterin: Sonja Engel
Mit der Erosion der Ständeordnung und der Etablierung einer modernen, von sozialer Mobilität gekennzeichneten Sozialstruktur im Westeuropa des 18. und 19. Jahrhunderts erhält die gesellschaftliche Mittellage eine kritische Funktion für die sich neu formierenden sozialen Ordnungsvorstellungen und Positionierungen. Während sie für Liberale die von Adel und Unterschicht abgesetzte Impulsgeberin gesellschaftlichen Fortschritts ist, kursieren spätestens seit dem 19. Jahrhundert viele abwertende Charakterisierungen der in mittlerer Lage positionierten Gruppen, die sich in den Bezeichnungen Philister, Kleinbürger und Spießbürger verdichten: Für die Romantiker sind die mediokren ‚Philister‘ Gegenfiguren des von ihnen selbst reklamierten Geniebegriffs. ‚Kleinbürger‘ sind ausgehend vom Marxismus die zwischen Bourgeoisie und Proletariat Situierten, die als passiv, rückwärtsgewandt und sich der politischen Stellungnahme verweigernd beschrieben werden. Die Bezeichnung ‚Spießbürger‘ bzw. ‚Spießer‘ schließlich greift beide Zuschreibungen auf, indem sie in Mittellagen Befindliche als mittelmäßig abwertet, sie wird v.a. in der zweiten Hälfte des 20. Jh. dominant. Alle drei Begriffe werden hinsichtlich der hier interessierenden polemischen Verbindung von Mittellage und Passivität als funktional äquivalent aufgefasst, typischerweise sind allerdings nicht nur die derart Geschmähten, sondern auch die Schmähenden sozialen Mittellagen zuzurechnen.
Gegenstand des Teilprojekts sind Spießerverdikte als eine (diese Bezeichnungen nutzende) genuin moderne Form der Invektive: Sie mobilisieren die Gegenüberstellung eines passiv-beharrenden Spießertums und einer zukunftszugewandten, für sozialen Wandel stehenden Haltung, die die Zeichen der Zeit erkannt hat. In diesen Invektiven gegen Gruppen in mittleren sozialen Lagen und ihre Lebensweisen werden je eigene, auf die Überwindung des status quo zielende Ordnungsvorstellungen artikuliert und verbreitet, die sich dann unter Umständen als hegemoniale durchsetzen können. In dieser Hinsicht haben Spießerverdikte eine für den gesellschaftlichen Wandel produktive Funktion, die ihre Besonderheit und soziologische Relevanz ausmacht. Das Teilprojekt geht von der Annahme aus, dass Spießerverdikte gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Modus des Invektiven in einer Weise thematisieren, die aufgrund ihrer Konflikte anreizenden Perspektivität selbst als Faktor des Wandels wirksam wird: Invektierte wie Invektierende werden hinsichtlich ökonomischer, rechtlicher, politischer und kultureller Stellung sozial positioniert, allerdings nicht in einer bloß vertikal strukturierten Sozialordnung, sondern in einer veränderlichen und in Bewegung befindlichen. Die abwertende Zuschreibung von Rückschrittlichkeit bzw. einer passiven Rolle und die affirmative Deutung gesellschaftlichen Wandels greifen hier Hand in Hand und bestätigen einander. Da dies außerdem an ein Publikum adressiert wird, erhält diese Deutung über die Invektierenden hinaus Wirkung, wobei die Form des Spießerverdikts eine Reaktion der Gemeinten zwar nicht vorsieht, umwertende Gegeninvektiven aber durchaus provozieren kann.
Das theoretische Erkenntnisinteresse des Teilprojekts liegt darin, den für den Sonderforschungsbereich 1285 maßgeblichen Begriff der Invektivität, ausgehend von den empirischen Analysen, als Vermittlungskonzept von soziologischen Theorien des gesellschaftlichen Wandels und der neueren, auf die Analyse von kulturellen Praktiken, Konflikten und Wissensformen zielenden Soziologie zu erproben und zu schärfen.
Gespräch mit Leo Schwarz und Jan Wetzel im Podcast zum Projekt im Podacst des "Neuen Berlin"
Zum Internetauftritt des Teilprojekts
V.l.n.r.: Alina Gündel, Sonja Engel, Katharina Lerch, Mirjam Gräbner, Dominik Schrage