DFG-Projekt "Time has come today"
Das Projekt "Time has come today. Die Eigenzeiten popmusikalischer Chronotope und ihr Beitrag zur temporalen Differenzierung von Lebenswelten seit den 1960er Jahren" war im Schwerpunktprogramm 1688 "Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne der Deutschen Forschungsgemeinschaft situiert. Es begann seine Arbeit im April 2014 an der Universität Lüneburg, war seit Juni 2015 an der TU Dresden tätig und hat seine Arbeit Ende September 2017 beendet. Gleichwohl werden noch einige Publikationen aus dem Projekt folgen. Projektleiter war Prof. Dr. Dominik Schrage, Postdostdoktorand der Musikwissenschaftler Dr. Holger Schwetter, Doktorandin die Soziologin Anne-Kathrin Hoklas.
Worum geht’s?
Bestimmte Orte sind zu bestimmten Zeiten für Popmusik und -kultur besonders wichtig, dort passiert „etwas", man hat das Gefühl „ganz vorne“ oder bei etwas „Wichtigem“ dabei zu sein. An diesen Orten und zu diesen Zeiten stehen Performance und Erleben von Musik im Mittelpunkt, zugleich etablieren sich bestimmte Verhaltensweisen, Sprachen oder Moden und wirken nach außen. Diese vielschichtigen Verschränkungen von Raum, Zeit und Erleben nennen wir „Chronotopoi", einen Begriff des Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin aufgreifend. Sie sind nicht identisch mit einem Ort, einer Musikrichtung oder einer definierbaren Form der Aufführung, sie sind deren stimmiges Zusammentreffen in bestimmbaren Situationen. Wir sind auf der Suche nach Chronotopoi, die im Zeitraum von Mitte der 1960er bis Ende der 1980er Jahre in der Bundesrepublik entstanden und gesellschaftlich und kulturell bedeutsam wurden. Darüber hinaus wollen wir ihre Bedeutung für die Biographien von Beteiligten (ob als Protagonistinnen oder im Publikum) sowie auf einer weiteren Ebene für den sozialen und kulturellen Wandel beleuchten. Denn Popmusik begleitet diesen seit den 1960er Jahren, sie steht symbolisch für die gesellschaftlichen Pluralisierungs- und Emanzipationsprozesse dieser Zeit – inwiefern aber hat sie diesen gesellschaftlichen Wandel mitgeprägt?
Die progressive Landdisko
Ab Mitte der 1960er Jahre entstehen vielerorts in der westdeutschen Provinz Tanzschuppen, Musikclubs oder Diskotheken genannte Räume, in denen sich Jugendliche aus einem weiten Einzugsbereich treffen, um „progressive“ Musik zu hören und zu tanzen. „Progressiv“ war damals ein Sammelbegriff für verschiedene Spielarten von Rockmusik, die als authentischer Ausdruck von Musikerpersönlichkeiten galten. Protagonisten einer Jugendkultur, die sich zuerst im Privaten entwickelte, schaffen zum ersten Mal öffentlich zugängliche Räume, die ein besonderes Erleben von Musik und Sozialität ermöglichen. Zum Teil gibt es diese Lokalitäten noch heute. Die „progressive Landdisko“ steht für die flächendeckende Etablierung von Jugend- und Subkultur seit Mitte der 1960er Jahre, sie hat Identitäten, Lebensentwürfe und -verläufe in vielfältiger Weise geprägt.
Ruinen der Negativität
Ab Mitte der 1970er Jahre entstehen neue popkulturelle Ideen und Bewegungen, die sich vor allem durch die vehemente Ablehnung einer „Hippiekultur“ definieren. Musikstile wie Punk, New Wave und Industrial bilden sich heraus. Erlebnis-Räume dafür bieten häufig ehemals progressive Diskotheken, aber auch ganz andere, urbane und abseitige Räue werden entdeckt und genutzt. Kompromisslosigkeit, Ablehnung, Aggressivität und „no future“ auf der einen und eine Affinität zu Ästhetisierung, Kunst und Künstlichkeit auf der anderen Seite sind auch für eine bestimmte Mode und weitere kulturelle Ausdrucksformen in den 1980er Jahren prägend. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Chronotopoi nennen wir „Ruinen der Negaivität“. Sie werden Ende der 1980er Jahre abgelöst und/oder gehen in neuen Entwicklungen auf, die (noch) nicht im Zentrum unseres Projekts stehen.
Vorgehensweise
Ausgehend von einem umfangreichen Studium und der Analyse journalistischer, biographischer und literarischer Texte, TV-Reportagen, dokumentarischer und fiktionaler Filme sowie musikalischer Werke sollen popmusikalische Chronotopoi beschrieben und greifbar gemacht werden. Darüber hinaus werden sie durch Interviews und einen ethnographischen Zugang erschlossen.
Für die Allgemeinheit wird das Projekt durch die interaktive Kartenanwendung Poptraces zugänglich, auf der Interessierte Orte, Ereignisse und Erinnerungen eintragen können, die sie mit ihrem eigenem popmusikalischem Erleben verbinden. Damit stellen sie dem Projekt ihr Wissen um vergangene Chronotopoi zur Verfügung.
Publikationen
- Dominik Schrage, Holger Schwetter: 'Zeiten des Aufbruchs' und der Chronotopos ländliche Rockdiskothek. Popmusik als Katalysator gesellschaftlichen Wandels in den 1960er bis 1980er Jahren, in: Dominik Schrage, Holger Schwetter, Anne-Kathrin Hoklas (Hg.): „Zeiten des Aufbruchs“. Popmusik als Medium gesellschaftlichen Wandels, Wiesbaden 2019, S. 73-120.
Rezension von Beate Peter in: Popular Music, Vol. 39, Issue 3-4 , 12/2020 , pp. 722-724. - Anne-Kathrin Hoklas, Holger Schwetter: Abtanzen, Abtauchen, Aufbrechen. Zur Erprobung neuartiger sozialer Ordnungen im Zusammenwirken von musikalischer Gestaltung und leiblichem Musik-Erleben in der Rockdiskothek der 1970er Jahre, in: Dominik Schrage, Holger Schwetter, Anne-Kathrin Hoklas (Hg.): „Zeiten des Aufbruchs“. Popmusik als Medium gesellschaftlichen Wandels, Wiesbaden 2019, S. 287-343.
- Holger Schwetter: Progressive Rockmusik als Tanzmusik. Chronotopische Musikanalyse als Zugang zu Musik-Erleben und musikalischer Gestaltung, in: Wolfgang Fuhrmann (Hg.): Zuständigkeiten der Musiksoziologie?, Wiesbaden 2019 (im Erscheinen).
- Holger Schwetter, Dominik Schrage: „Time has come today“. Zum Epochenbewusstsein in der Rockmusik 1960er bis 1980er Jahre, in: Helmut Hühn, Sabine Schneider, Reinhard Wegner (Hg.): Eigen-Zeiten der Moderne. Regime, Logiken, Strukturen, Hannover 2018 (im Erscheinen).
- Dominik Schrage, Holger Schwetter, Anne-Kathrin Hoklas: "Time Has Come Today". Die Eigenzeiten popmusikalischer Chronotopoi und ihr Beitrag zur temproalen Differenzierung von Lebenswelten seit den 1960er Jahren, in: Michael Bies/Michael Gamper (Hg.): Ästhetische Eigenzeiten. Bilanz der ersten Projektphase, Hannover (Wehrhahn Verlag) 2019, S. 259-281.
- Holger Schwetter: Ein Song, den Du gut gebrauchen kannst. Popmusikalische Produktivität und ihre Verbindung zu Vermarktung und Rezeption., in: Holger Schwetter, Hendrik Neubauer, Dennis Mathei (Hg.): Die Produktivität von Musikkulturen, Wiesbaden 2018, 99–124.
- Dominik Schrage, Anne-Kathrin Hoklas: Soziologie, in: Daniel Morat, Hansjakob Ziemer (Hg.): Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, Stuttgart 2018, 155–161.
- Holger Schwetter: Jeder für sich, aber gemeinsam. Musik-Erleben in der Rockdiskothek, in: Dietmar Elflein, Bernhard Weber (Hg.): Aneignungsformen populärer Musik. Klänge, Netzwerke, Geschichte(n) und wildes Lernen, Bielefeld 2017.
- Dominik Schrage: Zwischen Kulturindustrie und Subkultur. Soziologische Perspektiven zum Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel und populären kulturellen Formen im 20. Jahrhundert, in: Thomas Kühn, Robert Troschitz (Hg.): Populärkultur: Perspektiven und Analysen, Bielefeld 2017, 63–74.
- Michael Ostheimer, Dominik Schrage: Raum als ästhetische Formung von Zeit. Bachtins Chronotopos-Begriff in Literatur und sozialer Wirklichkeit, in: Michael Gamper, Eva Geulen, Johannes Grave, Andreas Langenohl, Ralf Simon, Sabine Zubarik (Hg.): Zeiten der Form – Formen der Zeit, 1. Aufl. 2016, 83–110.
- Holger Schwetter: Veränderung und neue Beständigkeit. Progressive Landdiskotheken in Norddeutschland, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie. Themenheft: Musik und ländliche Gesellschaft, Bd. 64, Nr. 1, hg. v. Gunter Mahlerwein, Claudia Neu, 2016, 55–70.
- Dominik Schrage, Holger Schwetter: »Morgen gehen wir zum Konzert – oder zur Vernissage?« Chronotopoi ästhetischen Erlebens und die Grenzen der Kunstautonomie, in: Uta Karstein, Nina Tessa Zahner (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität eines gesellschaftlichen Leitbildes, Wiesbaden 2016, 329–350.
- Holger Schwetter: Progressiv übers Land. Landdiskotheken in den 1970er und 1980er Jahren, in: Musikforum, Bd. 2, hg. v. Deutscher Musikrat, 2015, 38–39.