Marc Drobot
Dipl.-Soz., Dipl.-Ing. (FH)
Thema des Dissertationsprojekts:
Solidaritätsideal und ökonomisches Kalkül in Europa.
Eine Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Solidaritätsidealen und ökonomischen Logiken in der europäischen Moderne und dessen Strukturierung politisch-ökonomischer Diskurse und Institutionen. (Arbeitstitel)
Gefördert durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung
Bereits ein grober Blick auf die recht junge Geschichte der Solidaritätssemantik zeigt, dass 'Solidarität' ein – im doppelten Sinne – in der Krise geborener 'Zentralbegriff der Moderne' ist. Einerseits ist die als Krisenphänomen wahrgenommene Auflösung des Tradierten und die, als Kontingenzerfahrung sukzessiv in den Erfahrungshorizont durchschlagende, funktionale Differenzierung der Gesellschaft eine notwendige Voraussetzung für die Herausbildung neuer Semantiken der Selbstbeschreibung, andererseits stellt die Solidaritätssemantik selbst eine Kontingenzformel dar, welche die Entkopplung von Erfahrung und Erwartung problembezogen plausibilisieren – und damit entparadoxieren – kann. So ermöglichte es der leere Signifikant 'Solidarität' die politischen, ökonomischen und sozialen Fragen, welche mit der Transformation der französischen Gesellschaft von 'Peasants into Frenchmen' (E. Weber) im 19. Jh. einhergingen, zusammenzuführen, ohne auf ein Außerhalb der Gesellschaft zurückgreifen zu müssen. J. E. S. Hayward spricht davon, dass 'solidarité' in der 'Dritten Französischen Republik' der 'skeleton key' zur Moderne gewesen sei, also eine Art Generalschlüssel, bei dem die gezahnte Kante abgefeilt ist, so dass er zahlreiche Schlösser öffnen kann.
Die inhaltliche Bestimmung der Solidaritätssemantik ist aufgrund dieser Funktionalität historisch immer umkämpft gewesen, denn ähnlich wie mit 'Freiheit' oder 'Gerechtigkeit' kann man mit 'Solidarität' zunächst erst einmal alles machen. Sie verweist ebenso gut auf den Korpsgeist paramilitärischer Killerkommandos wie auf die bedingungslose Anerkennung des (Ganz-) Anderen. Erst komplexe Attribuierungen des S-Wortes bringen Halbwertszeiten von Sinn sowie temporäre Stabilisierungen hinsichtlich seiner konventionellen Verwendung hervor.
Um dies herauszuarbeiten wird eine an diskursanalytischen Verfahren orientierte funktionale Analyse (Luhmann) der begrifflichen, theoretischen und historisch-sozialen Bedingungen der Herausbildung der Solidaritätssemantik als politischer, sozialer und ökonomischer Grundbegriff in der 'Dritten Französischen Republik' vorgenommen und mit dem 'Krisenkontext' des Fin de Siècle kontrastiert. Dies wird diachron mit dem institutionalisierten Solidaritätsdiskurs der EU seit dem im Jahre 1989 beginnenden gegenwärtigen Krisenzyklus verglichen.
Indem die Solidaritätssemantik als Formel für politische, ökonomische und soziale Kontingenzbewältigung von modernen Gesellschaften mit Krisenindikation untersucht wird, soll einerseits die soziale Notwenigkeit des Kampfes um die Bedeutung dieser 'Steuerungssemantik' hervorgehoben werden, als auch andererseits dessen Grenzen als wissenschaftliche (und vermutlich auch utopische) Kategorie.
Erste Teilergebnisse aus dem Promotionsprojekt sind publiziert in:
Drobot, Marc (2021): „Vagheit als Funktion. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu Genese und Gegenwart des Solidaritätsbegriffs.“, Archiv für Sozialgeschichte 60/„Hoch die internationale...“? Praktiken und Ideen der Solidarität., S. 51–73.
Infos und Abstracts zum Aufsatz unter: https://www.fes.de/afs/baende#c209742