24.01.2024
Positionspapier zum Wahljahr 24
Anja Besand
Das Wahljahr 2024
und seine Herausforderungen
für die politische Bildung im Bundesland Sachsen
Ein Positionspapier
Es ist Mitte Januar 2024. Es ist sehr kalt. Der Landesverband der AFD Sachsen wurde vom Landesverfassungsschutz als eindeutig rechtsextrem eingestuft und in der letzten Woche hat das Correctiv-Recherchenetzwerk aufgedeckt, dass AFD-Vertreter:innen gemeinsam mit Rechtsextremen und Mitglieder:innen der Werte-Union an Plänen arbeiten, die die massenhafte Vertreibung Nicht-Deutscher oder Andersdenkender vorbereiten sollen. Viele, die es bisher nicht wahrhaben wollten, erkennen langsam, was hier auf dem Spiel steht. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als den Fortbestand unserer Demokratie. Wir haben einen Turningpoint erreicht. Entweder es gelingt uns jetzt das Ruder herumzureißen oder die Lage wird ganz erheblich ins Schlingern geraten. Zum Glück sehen das viele so. Es finden Demonstration gegen rechtes Gedankengut, Rassismus und Menschenfeindlichkeit statt. Die Demonstrationen sind groß – gewaltig könnte man sagen. Demonstrationsaufrufe kommen von Privatpersonen, Initiativen, aber auch von der Deutschen Bahn, dem Sparkassenverband und diversen Fußballvereinen. Die Diskurslage beginnt sich zu drehen. Die Möglichkeit eines Parteiverbotsverfahrens gegen die AFD wird neu diskutiert. Gleichzeitig bereiten die Akteur:innen der politischen Bildung ihre Veranstaltungen für das Jahr vor und in diesem Zusammenhang stellen sich unter den gegebenen Bedingungen nun einige Fragen neu.
Diese Fragen lauten:
Sollte die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (oder auch andere Träger:innen zur politischen Bildung) tatsächlich Vertreter:innen der AFD in die häufig als Wahlforen bezeichneten Veranstaltungen einladen, insbesondere wenn solche Foren auch im schulischen Kontext durchgeführt werden? Können wir es in Sachsen wirklich verantworten, AFD-Vertreter:innen in Schulen einzuladen mit dem Ziel, Kindern und Jugendlichen einen Eindruck zu vermitteln, wer sich in dieser Wahl so alles für Ämter bewirbt? Aber auch umgekehrt, wie gehen wir damit um, wenn sich Schülerinnen und Schüler oder ganze Klassenverbände – in ihrer Unterrichtszeit – an Demonstrationen beteiligen wollen, die sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen? Und last but not least: Wie gehen wir mit Lehrkräften um, die sich für die AFD um Ämter bewerben?
Muss die AFD an Wahlforen beteiligt werden?
Beginnen wir mit der Frage der Wahlforen. Die Wahlforen sind ein etabliertes Format der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Es gibt vergleichbare Veranstaltungen aber auch von anderen Träger:innen. Der Zweck dieser Foren besteht im Wesentlichen darin, den Bürgerinnen und Bürgern im Vorfeld von Wahlen die Möglichkeit zu geben, die zur Wahl stehenden Kandidat:innen kennenzulernen und sich auf diese Weise auf eine begründete Wahlentscheidung vorzubereiten. Ob es sich dabei tatsächlich um Bildungsveranstaltungen handelt oder vielleicht eher um so etwas wie die Aufführung und Ausübung spezifischer demokratischer Rituale, lassen wir in diesem Zusammenhang erst einmal offen. Die Landeszentrale – an deren Beispiel wir den Fall hier diskutieren möchten – ist eine staatliche Institution, die dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung nachgeordnet ist. Als staatliche Institution ist sie in besonderer Weise dem Grundsatz der Überparteilichkeit verpflichtet. Sie ist in eben dieser Hinsicht in der Vergangenheit mehrfach in die Schlagzeilen geraten, weil sie sich im Kontext der Pegida-Bewegung sehr stark um Akteure aus dem rechtspopulistischen – heute würde man klar sagen rechtsextremen – Lager bemüht hat. Die Landeszentrale sieht sich selbst als „robuste Institution“, die einiges aushalten kann und hat sich aus diesem Grund eigentlich darauf vorbereitet, auch 2024 die AFD-Kandidat:innen zu den Wahlforen einzuladen. Das war allerdings vor der Einstufung des sächsischen Landesverbands als rechtsextrem und vor der Aufdeckung der Machenschaften diverser AFD-Akteur:innen durch das Correctiv-Recherchenetzwerk. Wie soll die Landeszentrale sich jetzt verhalten? Die AFD erfährt als Partei in Sachsen große Zustimmung, in manchen ländlichen Regionen liegt sie mit großem Abstand vor den anderen Parteien. Können in einem solchen Kontext Wahlforen ohne die Kandidat:innen stattfinden, die wahrscheinlich die Wahl gewinnen werden? Diese Frage kann aus unterschiedlichen Perspektiven beantwortet werden, aus einer streng staatsrechtlichen oder juristischen, einer demokratietheoretischen oder einer politikdidaktischen. Ich lege mit diesem Text eine demokratietheoretisch informierte politikdidaktische Perspektive vor, die in der Debatte, die fraglos über den Zusammenhang zustande kommen wird und in der juristische Argumente sicherlich von erheblichem Stellenwert sein dürften, helfen kann, die sozialwissenschaftliche und bildungstheoretischen Perspektiven nicht vollkommen aus dem Blick zu verlieren.
Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung und die zivilgesellschaftliche Akteur:innen im Feld der politischen Bildung und demokratischen Arbeit haben die Aufgabe, (Bildungs-)angebote zu entwickeln und bereitzustellen, die zum Erhalt und zur Stabilität der Demokratie beitragen. Konkret ist der Auftrag der Sächsischen Landeszentrale (SLpB) in einer Verwaltungsvorschrift geregelt, darin steht: „Die Landeszentrale verfolgt mit ihrer Tätigkeit das Ziel, zu einer weiteren Verbreitung und Stärkung der demokratischen, rechtsstaatlichen Grundordnung in der sächsischen Bevölkerung beizutragen“ (vgl. Abschnitt II Aufgaben). Es wird in diesem Zusammenhang großer Wert darauf gelegt, dass diese Arbeit überparteilich geleistet werden muss. Die sächsischen Bürgerinnen und Bürger sollen nicht den Eindruck erhalten, dass die Landeszentrale ihre Mittel dafür verwendet, bestimmte parteipolitische Positionen in besonderer Weise zu stärken. Das ist ein sehr wichtiger Grundsatz politischer Bildung, zumal im Bundesland Sachsen, in dem die Bürger:innen sich z. T. noch sehr gut an die ideologische Unterweisung im Rahmen der Staatsbürgerkunde erinnern. Demokratische politische Bildung ist immer pluralistisch und inklusiv. Ihre Aufgabe ist die Erweiterung der Möglichkeiten von Zugang und Teilhabe für alle Menschen zum politischen Prozess. Sie richtet sich damit auch nicht nur an wahlberechtigte Staatsbürger:innen und bereitet diese auf Wahlen vor, sondern an alle Menschen im Bundesland Sachsen. Ist es in diesem Zusammenhang vorstellbar, engagierte politische Akteur:innen, die sogar bereit sind, ihre Kräfte für politische Ämter zur Verfügung zu stellen, von Angeboten der Landeszentrale auszuschließen? Diese Frage kann nicht leichtfertig beantwortet werden. Die Abwägungen dazu sind schwierig und dürfen nicht zu unbedacht vorgenommen werden. Selbstverständlich müssen im Rahmen politischer Bildung auch Positionen thematisiert werden, die nicht mit den Haltungen und Normen der Personen übereinstimmen, die die Bildungsangebote gestalten. Positionen, die abwegig und vielleicht sogar schlecht begründet werden. Es gibt aber tatsächlich auch Grenzen und diese Grenzen finden sich genau dort, wo pluralistische Werte in Frage gestellt werden. Denn um welches geradezu vulgäre Demokratieverständnis würde es sich handeln, wenn sich das Wort demokratisch lediglich auf Mehrheiten und Abstimmungen bezieht? Wir sind in einer Demokratie nicht verpflichtet, mit dem Verweis auf Mehrheiten an unserer eigenen Abschaffung mitzuwirken.
Argumentieren könnte man in diesem Zusammenhang mit einem der Nestoren der deutschen Politikwissenschaft, Ernst Fraenkel, der die Unterscheidung zwischen einem nicht-kontroversen und einem kontroversen Sektor eingeführt hat und eben das kann uns hier als Handreichung dienen (vgl. Fraenkel 1991, 326ff.). Nach Fraenkel umfasst der kontroverse Sektor alle jene Fragen und Probleme, die im Rahmen der demokratischen Grundordnung verschieden diskutiert werden können. Der nicht-kontroverse Sektor demgegenüber umfasst all jene Positionen, die mit der Werteordnung des Grundgesetztes nicht kompatibel sind. Konkret bedeutet das, wir müssen nicht über die Ungleichheit von Menschen oder der Geschlechter diskutieren. Foren über Deportation sind schlichtweg ausgeschlossen. Der Verbreitung von völkischem Gedankengut dürfen wir keine Bühne bieten. Wie aber, so wäre die Frage neu zu stellen, will die Landeszentrale für politische Bildung im Bundesland Sachsen ausschließen, dass im Rahmen ihrer Wahlforen genau das passiert? Wie will sie darauf reagieren, wenn über Vertreibung erheblicher Teile der Bevölkerung geredet würde – auch und gerade wenn es ihr gelingen sollte, ein vielfältiges Publikum zu diesen Foren einzuladen? Aber selbst wenn das nicht gelingt und wir davon ausgehen, dass die öffentlichen Wahlforen mit hoher Wahrscheinlichkeit fast ausschließlich von Menschen besucht werden, die sich im Hinblick auf ihre Wahlentscheidung längst entschieden haben – wie sollen wir uns Wahlforen in schulischen Kontexten vorstellen, in denen junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Biographien zusammenkommen? Wie sollen wir uns diese Debatten vorstellen und wie schützen wir in diesem Zusammenhang auch Kinder, die von den Vertreibungsphantasien der AFD unmittelbar bedroht werden?
Ja es stimmt: Der Ausschluss von Positionen aus dem öffentlichen Diskurs darf nicht leichtfertig geschehen und muss normativ im Rahmen der demokratischen Verfassungsordnung gerechtfertigt werden. Tatsächlich ist das oft sehr schwierig. In diesem Fall aber nicht. Hier ist das Ganze recht eindeutig, denn demokratische Institutionen sind nicht verpflichtet Positionen zu unterstützen, deren Interesse in dieser Weise eindeutig auf ihre Abschaffung gerichtet ist. Sie müssen sich im Gegenteil zur Wehr setzen gegen nichtdemokratische Haltungen, Programme und Positionen und die wehrhafte Demokratie stellt durchaus auch Möglichkeiten dafür bereit. In diesem Sinne gilt es zur Stärkung der Handlungssicherheit der beteiligten Akteur:innen (das ist im konkreten Fall die Landeszentrale für politische Bildung, gleichzeitig aber auch die nicht selten gastgebenden Schulen, vertreten durch ihre Schulleitungen) klarzustellen, dass diese in keiner Weise dazu verpflichtet sind, die Vertreter:innen der sächsischen AFD im Rahmen von Wahlforen oder Podiumsgesprächen einzuladen. Und wenn sie dies dennoch tun, sollten die verantwortlichen Akteur:innen Sorge dafür zu tragen haben, dass menschenverachtende Positionen nicht unkritisch im Raum stehen bleiben. Im Rückblick auf vergleichbare Veranstaltung lässt sich allerdings heute schon sagen, dass das im Regelfall nur sehr selten gelingt.
Demonstrationsteilnahme im Klassenverband
Als wäre das alles nicht schon genug, kämpfen insbesondere die schulischen Akteur:innen gerade auch noch mit einer zweiten Frage, und diese Frage lautet: Dürfen oder sollen Schülerinnen und Schüler sich an Demonstrationsgeschehen beteiligen – schließlich geht es im Rahmen der gegenwärtigen Demonstrationen um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Nicht wenige Kinder und Jugendliche suchen derzeit nach einer Möglichkeit, ihren Sorgen im Hinblick auf die durch die AFD angedachte Vertreibung ihrer Familienmitglieder, Klassenkamerad:innen und Freund:innen Ausdruck zu verleihen. Eine Teilnahme an Demonstrationen würde ihnen möglicherweise helfen, Ohnmachtsgefühle zu überwinden und sich selbst wieder wirksam zu fühlen. Die Beantwortung dieser Frage mag auf den ersten Blick einfacher erscheinen – aber auch hier ergeben sich Fallstricke. Schauen wir also auch hier einmal genauer hin.
Natürlich dürfen sich Schüler:innen an Demonstrationen beteiligen – wenn sie das in ihrer Freizeit tun. Was passiert aber, wenn das in geschlossenen Klassenverbänden, verpflichtend und in Begleitung von Lehrkräften geschieht? Aus der politikdidaktischen Forschung wissen wir, dass junge Menschen im Kontext politischer Aktionen und Bewegungen wirklich eine Menge lernen können (vgl. Kenner 2021). Bei genauerer Betrachtung wird aber deutlich, dass die Lernprozesse, die in diesem Zusammenhang beobachtet wurden, deshalb so produktiv sind, weil es sich um Selbstbildungsprozesse handelt. Es ist mehr als fraglich, ob sich Selbstbildungsprozesse, wie die von Kenner beschrieben, durch die Institution Schule zentral initiieren lassen. Schüler:innen im Rahmen der Unterrichtszeit und im geschlossenen Klassenverband zur Teilnahme an einer Demonstration zu verpflichten, halte ich deshalb aus einer politikdidaktischen Perspektive für nicht geboten. In unserer Demokratie ist es naheliegend und plausibel, die Teilnahme an einer Demonstration als Interessenbekundung und politische Unterstützung der Anliegen des Demonstrationsgeschehens zu interpretieren. Das betrifft die zentralen Mobilisierungsmotive, die zur Veranstaltung veröffentlicht wurden und nicht unbedingt die Aussagen oder Infostände, die im Kontext der Demonstration später getragen durch unterschiedliche Akteur:innen sichtbar werden. Nichtsdestotrotz dürfen Menschen – zumal junge – in einer Demokratie nicht zu ganz bestimmten Interessensbekundungen gezwungen werden. Und selbst wenn die Initiative zum Demonstrationsbesuch von den Schüler:innen selbst ausgeht, ist es in der von Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen durchzogenen Institution Schule nicht einfach für eine Lehrkraft sicherzustellen, dass der gesamte Klassenverband diesen Wunsch wirklich teilt.
Nichtsdestotrotz wäre es verfehlt, aus den Aussagen, die bis zu dieser Stelle formuliert wurden, abzuleiten, dass Lehrkräfte in keinem Fall und niemals mit ihren Schüler:innen während der Unterrichtszeit Demonstrationen besuchen dürfen. Aus einer politikdidaktischen Perspektiven dürfen sie das durchaus, wenn sichergestellt ist, dass die Teilnahme an dieser schulischen Veranstaltung NICHT als Interessenbekundung verstanden werden kann. Schülerinnen und Schüler können, angeleitet durch ihre Lehrerinnen und Lehrer, an Demonstrationen im Rahmen von Erkundungen und sozialempirischen Projekten teilnehmen. Das klingt nach einer Spitzfindigkeit. Ist es aber nicht.
Vielleicht lässt sich das am besten an einem Beispiel erläutern. Im Herbst 2017 besuchte eine zehnte Klasse des Pestalozzi Gymnasiums Dresden in Begleitung ihrer Gemeinschaftskundelehrerin an mehreren Montagen sowohl die Pegida und die No-Pegida Kundgebungen. Die Schüler:innen haben sich auf diese Besuche umfassend vorbereitet. Sie hatten Fragebögen entwickelt, die sie auf Klemmbrettern mit dabeihatten und mit deren Hilfe sie Teilnehmer:innen aus beiden Demonstrationsgruppen systematisch befragten. Sie positionierten sich, mit weißen Kitteln (aus dem Chemieunterricht) als Forscher:innen gekennzeichnet, zwischen den beiden politischen Lagern und richteten ihre Aufmerksamkeit mal auf die eine und dann wieder auf die andere Seite. Im Anschluss an die Erkundungen wurden auch Demonstrationsteilnehmer:innen in den Klassenraum eingeladen. Ich halte das für ein absolutes Musterbeispiel von gelungenem Gemeinschaftskundeunterricht in der Stadt Dresden. Während nicht wenige Lehrkräfte um das Thema Pegida einen großen Bogen gemacht haben, fand hier eine detaillierte und kritische Auseinandersetzung statt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang aber tatsächlich a) eine gründliche Vor – und Nachbearbeitung, b) eine sichtbare Platzierung und Markierung der Erkundungsgruppe als Beobachter:innen und c) ein Rückhalt durch Schulleitung und Schulverwaltung. Wenn mit einer überschießenden Formulierung der Besuch von Demonstrationen im Klassenverband unter allen Umständen ausgeschlossen wird, werden solche Projekte nicht zustande kommen.
Extrem rechte Lehrkräfte
Wir kommen zur dritten und letzten Frage: Wie gehen wir als Gesellschaft mit der Problemlage um, dass mehr und mehr Lehrkräfte sich offensiv als AFD-Mitglieder sichtbar machen? Sichtbar machen bedeutet in diesem Fall, dass sie sich im Rahmen des Wahlkampfes für die AFD engagieren, in einzelnen Fällen für Ämter kandidieren und – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, aber für die Schüler:innen oft sehr deutlich – auch im Unterricht die Perspektiven dieser Partei vertreten?
Die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist besonders schmerzlich. Als Gesellschaft gehen wir davon aus, dass unsere Kinder in der Schule wertvolle Lernerfahrungen machen. In der Schule, das ist in der Landesverfassung und im sächsischen Schulgesetzt geregelt, sollen junge Menschen auf ihre zukünftige Rolle als engagierte, tolerante, weltoffene und vor allem demokratische Bürgerinnen und Bürger vorbereitet werden. In Artikel 101 [Erziehungsziele] der sächsischen Verfassung ist in diesem Sinne zu lesen: „Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.“
Lehrkräfte können und sollen als orientierende Erwachsene Vorbilder sein. Politische Bildung ist nicht neutral (vgl. Besand 2018; 2020). Das heißt: selbstverständlich dürfen Lehrkräfte sich in Parteien engagieren, sich als Kandidat:innen nominieren lassen und damit auch in Wahlkämpfen sichtbar werden. Das passiert nicht oft, aber doch auch immer wieder. Für die in dieser Weise exponierten Lehrerinnen und Lehrer ist es nicht trivial – insbesondere, wenn sie das Fach Gemeinschaftskunde unterrichten – ihren Schüler:innen zu vermitteln, dass die politische Position, die sie sichtbar präferieren, in ihrem Unterricht keine Präferenz oder Priorität hat. Gleichzeitig wäre es aber auch naiv anzunehmen, dass sich diese Herausforderung nur dann stellt, wenn Lehrkräfte ihre politische Haltung durch Parteimitgliedschaft, Kandidatur oder Amt sichtbar gemacht haben. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer haben politische Präferenzen, sie sichtbar zu machen, kann im Sinn der Herstellung von Transparenz für ausgewogene Bildungsprozesse sogar hilfreich sein. Lehrkräfte (zumal solche, die das Fach Gemeinschaftskunde unterrichten) wurden auf diese Herausforderung auch vorbereitet. Es gehört zu ihrer beruflichen Professionalität nach Mitteln und Wegen zu suchen, die sicherstellen, dass eine offene politische Debatte auch in schulischen Umgebungen geführt werden kann (vgl. Autorengruppe 2015). Instrumente dazu liegen mit dem Beutelsbacher Konsens in überaus etablierter und bewährter Form vor.
Wie ist das nun aber mit Lehrkräften, die Mitglieder in einer vom Verfassungsschutz als nachweislich rechtsextrem eingestuften politischen Gruppierung sind? Eine Gruppierung, die noch dazu in Geheimtreffen darüber nachdenkt, weite Teile der Bevölkerung (insbesondere der jüngeren) zu vertreiben? Diese Frage bedarf einer gründlichen dienstrechtlichen und nicht allein einer politikdidaktischen Einschätzung. Es ist anzunehmen, dass die dienstrechtliche Beurteilung dieser Fälle herausfordernd ist – zumindest solange die AFD als Partei nicht verboten wurde. Als Gedankenspiel schlage ich trotz allem vor, sich einmal vorzustellen, wie wir in Sachsen damit umgehen würden, wenn eine Lehrkraft sich engagiert und sichtbar für eine vom Verfassungsschutz als eindeutig salafistisch und damit dem religiös motivierten Extremismus zuzuordnenden, aber nicht verbotenen Gruppierung angehören würde? Was denken Sie – was würde dann passieren?
Lehrkräfte sind, sofern sie verbeamtet sind, in besonderer Weise der Verfassung verpflichtet. Aus diesem Grund muss aus meiner Sicht im Fall der für die AFD im Bundesland Sachsen sichtbar Kandidierenden schon die Frage gestellt werden, ob sich daraus dienstrechtlich Konsequenzen ergeben. Aber selbst wenn wir das Dienstrecht hier beiseite lassen und zugestehen, dass es sich bei Überlegungen, die sich auf die Möglichkeiten zur Ausübung beruflicher Tätigkeiten beziehen, um weit schwerwiegendere Entscheidungen handelt, als die Entscheidung einen Personenkreis im Rahmen von Bildungsveranstaltungen NICHT einzuladen, stellt sich aus einer pädagogischen Perspektive durchaus die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler in einem solchen Fall geschützt werden können (vgl. Behrens et al. 2021).
Erst in der letzten Woche wurde öffentlich über den Fall einer Schule aus Ravensburg berichtet, in dem Schüler:innen durch ein Graffiti deutlich gemacht haben, dass sie sich durch eine Lehrkraft, die sich für die AFD engagiert und öffentlich die rechtsextreme These von einem geplanten Bevölkerungsaustausch verbreitet, pädagogisch belästigt fühlen (vgl. Müssigmann 2024).
Der Fall macht zwei Dinge sichtbar. Zum einen reagieren die Schüler:innen in Ravensburg bereits auf die durch das Recherchenetzwerk Correktiv veröffentlichten Information, dass Mitglieder der AFD Pläne zur Vertreibung weitreichender Teile der Bevölkerung schmieden. Die AFD verliert spätestens mit dieser Veröffentlichung ihre bürgerlich/konservative Anmutung und wird als rechtsradikale Organisation sichtbar. Das beunruhigt Schüler:innen – insbesondere, wenn sie von einer Lehrkraft unterrichtet werden, die sichtbar mit dieser Partei und den entsprechenden Ideen sympathisiert. Das heißt: wir werden in naher Zukunft mehr und mehr solcher Auseinandersetzungen an Schulen führen müssen. Schulleitungen und Bildungsverwaltung müssen sich darauf vorbereiten!
Zum zweiten zeigt der Ravensburger Fall aber auch sehr schön, wie solche Fälle innerschulisch üblicherweise gehandhabt werden:
Phase 1: Die Schüler:innen machen oft in verhältnismäßigt verzweifelter Weise ein Problem sichtbar, dass bis zu diesem Zeitpunkt nur im geschlossenen Klassenraum verhandelt werden konnte. Im konkreten Fall geschieht das durch ein Graffiti, welches neben dem Schuleingang auf die Gebäudemauer gesprayt wird. „AFD Unterricht Nein Danke“ ist dort jetzt zu lesen. Nicht selten wenden sich die betroffenen Schüler:innen vor solchen Akten von Öffentlichmachung an andere Lehrkräfte, zuweilen sogar an die Schulleitung. Im Regelfall erfolgen im Vorfeld aber zunächst Beschwichtigungen. Lehrkräfte sehen oft wenig Möglichkeiten, in den Unterricht von anderen Lehrkräften einzugreifen.
Phase 2: Nach der Veröffentlichung von Beschwerden ist die Schulleitung gefragt. Aber auch sie sieht für sich oft keinerlei Handlungsspielräume. Die Argumentation, die von der Ravensburger Schulleitung genutzt wird, ist in diesem Zusammenhang typisch. Das politische Engagement der Lehrkraft ist deren Privatsache, solange sie sich in einer demokratisch wählbaren Partei engagiert. Jede Lehrkraft hat das Recht, sich als Privatperson politisch zu engagieren, solange sich dieses Engagement nicht gegen die Verfassung richtet. Demokratisch wählbar oder im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Verfassung, das sind, wie bereits ausgeführt, allerdings zwei unterschiedliche Dinge. Sichtbar wird hier allerdings, die Entscheidung darüber, wie mit der Lehrkraft zu verfahren ist, liegt nicht im Ermessen der Schulleitung. Sie demonstriert für die Schüler:innen damit weiterhin Hilflosigkeit. Falls es nachweislich zur politischen Beeinflussung im Unterricht gekommen sein sollte, kann die Schulbehörde ein Gespräch mit der entsprechenden Lehrkraft führen. Damit sind wir in Phase 3, alles geht weiter wie gehabt.
Die Schule, die wir so gerne als Polis begreifen und im Hinblick darauf hoffen, dass unsere Kinder Schritt für Schritt demokratische Erfahrung sammeln können, erweist sich hier als ziemlich zahnloser Tiger. Ich sage das in voller Anerkennung der Arbeit der Lehrkräfte, die keine Angst haben sollten, sich in der Schule zu äußern, lebendige politische Debatten zu führen, in denen durchaus auch eigene Werturteile und Haltungen sichtbar werden dürfen. Ich sage das voller Respekt für die Schulleitungen, die tatsächlich häufig nicht zu entscheiden haben, ob eine Lehrkraft weiter beschäftigt werden sollte oder nicht. Selbst aus einer schulverwaltungs- und ministeriellen Perspektive sind solche Fälle nicht leicht.
Ich möchte aber einen Punkt sehr klar hervorheben: Wenn solche Konflikte im schulischen Umfeld sichtbar werden, dürfen sie nicht einfach so versanden. Die Bedenken der Schüler:innen sind ernst zu nehmen und müssen Gehör finden und mindestens pädagogisch bearbeitet werden. Die Schulen werden das ohne Unterstützung nicht schaffen.
Unterstützend wäre ein Parteiverbotsverfahren. Aber auch ohne ein solches Verfahren muss in den Ministerien eine klare Haltung sichtbar werden, die den betroffenen Schüler:innen und Lehrer:innen sowie ihren Schulleiter:innen hilft, die herausfordernden Debatten, die in diesem Kontext zu führen sind, vor Ort auch wirklich zu führen. Denn so viel können wir aus unseren Forschungen an der TU Dresden ganz sicher sagen: Es gibt sehr viele Schulen, an denen Schüler:innen in Sachsen solche Erfahrungen machen (vgl. Behrens et al. 2021) und bislang sind sie damit weitgehend allein. Es ist Januar 2024 in Sachsen, es ist sehr kalt.
Quellen
Autorengruppe Fachdidaktik (2015): Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Schwalbach.
Behrens, Rico/Besand, Anja/Breuer, Stefan (2021): Politische Bildung in reaktionären Zeiten - Plädoyer für eine standhafte Schule, Frankfurt.
Besand, Anja (2018): Beutelsbach als Waffe. Über die Einschüchterungsversuche von ganz Rechts und wie die Schule, Staat und Lehrkräfte darauf reagieren können, in: SOWI Online. hier online zugänglich.
Besand, Anja (2020): Politische Bildung unter Druck - Zum Umgang mit Populismus in der Institution Schule, APuZ 14-15/2020, S. 4-9. hier online zugänglich.
Fraenkel, Ernst (1991): Strukturanalyse der modernen Demokratie. In: Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a.M., S.326-359.
Kenner, Steve (2021): Politische Bildung in Aktion. Eine qualitative Studie zur Rekonstruktion von selbstbestimmten Bildungserfahrungen in politischen Jugendinitiativen. Wiesbaden.
Müssigmann, Lena (2024): Protest gegen Lehrer mit AFD Parteibuch in: Schwäbische Zeitung vom 17.01.2024, Seite 17.
VwV Sächsische Landeszentrale für politische Bildung. hier online zugänglich.
Schneider, Alexander (2017): Klassenausflug zu Pegida, in Sächsische Zeitung vom 13.10.2017.