Theater und politische Bildung
Kooperationen zwischen Theater und politischer Bildung kommen heute regelmäßig zustande. Sie werden von den Kooperationspartner:innen häufig als sehr gewinnbringend erlebt. Das mag zum einen daran liegen, dass es der politischen Bildung in diesen Kooperationen besonders gut gelingt, auch emotionale Fundierungen im Bildungsprozess mit anzusprechen (vgl. Besand/Overwien/Zorn 2019). Bislang lagen allerdings wenig systematische Erkenntnisse darüber vor, unter welchen Bedingungen solche Kooperationen gelingen und wie sich ihr spezifischer Gewinn beschreiben lässt. Die Thematisierung von Theaterstücken oder Stückbesuche am Stadttheater oder in der freien Szene sind keine Seltenheit mehr in politischen Bildungsangeboten innerhalb und außerhalb der Schule. Im Folgenden finden Sie Literaturempfehlungen zur Frage, wann und wie Theater Gegenstand politischer Bildung werden kann.
Literaturempfehlungen:
Landgraf, Jörg (2012): Politik als Theater – Eine vergleichende Untersuchung. online verfügbar
Mit den folgenden Fragen beschäftigt sich Jörg Landgraf in seiner Abschlussarbeit, die er in Kooperation der Professuren für Kunstpädagogik und Didaktik der politischen Bildung geschrieben hat: Inwiefern ist Politik Theater und wann ist Theater politisch? Anhand des politikwissenschaftlichen Konzepts von Politik (nach Karl Rohe) und eines theaterwissenschaftlichen Konzepts von Theater (nach Andreas Kotte) werden beide Begriffe in ihren Kriterien aufeinander bezogen und verglichen, um Politik als Theater zu beschreiben und zu verdeutlichen, wo es kein Theater sein kann. Im Anschluss werden gesellschaftliche Bedingungen und Koordinaten beschrieben, unter denen mediales Politiktheater stattfindet und Erklärungsversuche dazu geleistet.
Juchler, Ingo/ Lechner-Amante, Alexandra (Hrsg.) (2016): Politische Bildung im Theater. Wiesbaden.
In diesem finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Einbindung von konkreten Theaterstücken in die schulische politische Bildung. Die Aufsätze der Studierenden beziehen sich auf jeweils eins von zehn Theaterstücken der Frage nachgehend, wie sich ein Theaterstück (auf der Inhaltsebene, konkrete Inszenierungen spielen kaum eine Rolle) an den Politikunterricht an- und methodisch eingebunden werden können. Der Band ist sicher auch für außerschulische politische Bildner:innen interessant. Denn die inhaltlichen Schnittstellen sind sorgfältig recherchiert und aufbereitet.
Dem Sammelband liegt einer enger dramatischer Theaterbegriff zugrunde. Bei einem der 10 thematisierten Stücken handelt es sich jedoch um eine post-dramatische Inszenierung Schlingensiefs. Eher selten finden sich in den Projekt- und Unterrichtsbeispielen auch theaterpädagogische Ansätze, die bei der Thematisierung der Stücke zum Einsatz kommen könnten. Sowohl des Repertoires der politischen Bildung als der Theaterpädagogik bedienen sich jedoch Babendreyers, Beyers und Mais‘ in ihrem Aufsatz zu Büchners Woyzeck und Klassismus.
Zur weiteren Vertiefung Ingo Juchlers Arbeit zum Thema seien folgende Titel genannt, in denen Juchler beispielsweise jene für die politische Bildung relevanten Kompetenzen beschreibt, die am Lernort Theater bzw. im Rahmen von Theaterbesuchen gestärkt werden könnten:
Juchler, Ingo (2020): „Aber gehen Sie ins Theater, das rat ich Ihnen“ Theater als außerschulischer politischer Lernort. in: Politisches Lernen 1-2/2020. Schwalbach Ts. https://www.budrich-journals.de/index.php/pl/article/view/38713/32951
Juchler, Ingo (2020): Henrik Ibsens Volksfeind – Politisches Theater in postfaktischen Zeiten. in: Juchler, Ingo (Hrsg.): Politik und Sprache: Handlungsfelder politischer Bildung. Wiesbaden.
Juchler, Ingo (2020): Theater und politische Bildung. in: Oeftering, Tonio/ Gloe, Markus (Hrsg.): Politische Bildung meets Kulturelle Bildung. Baden-Baden.
Schelle, Clara (2010): Theater. in: Besand, Anja/ Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Medien in der politischen Bildung. Bonn. S. 537-546.
Clara Schelle legt den Fokus in ihrem Beitrag zum Handbuch Medien in der politischen Bildung viel eher auf die Theaterrezeption als auf die Analyse konkreter Stück(text)e. Nach einer kurzen Beschreibung wichtiger historischer Stationen für das Theater als soziale und politische Kunst steht das Theatererlebnis im Mittelpunkt. Wenn Theater als Medium in der politischen Bildung sinnvoll eingebunden werden soll, dann sollte der Stückbesuch mit seinen sinnlichen, ästhetischen wie inhaltlichen Impulsen des politischen Bildungsangebots oder der Unterrichtsreihe geben. Schelle gibt zahlreiche Anregungen für Beobachtungs- und Reflektionsaufgaben, die mit den Teilnehmenden bearbeitet werden können.
Malzacher, Florian (2021): Gesellschaftliche Spiele. Politisches Theater heute. Bonn.
In dieser Monografie macht Florian Malzacher deutlich, dass er das Theater als politischen Ort versteht und diese Kunstform heute noch ein größeres politisches Potential entfalten kann, als jemals zuvor. Entlang verschiedener gesellschaftlicher Phänomene (Repräsentation, Partizipation, Identitätspolitiken und Aktivismus), die auch für neue, post-dramatische und politische Formen des Theater Spielens und des Theater Machens relevant sind, untersucht Malzacher inwiefern Theater ein Ort für die Aushandlung, Reflektion und utopische Betrachtung gesellschaftspolitischer Konflikte sein kann und soll. Dies geschieht unter Bezugnahme auf konkrete Inszenierungen, die der:m Leser:in zahlreiche Einblicke in die Vielfalt der Theaterkunst eröffnen und über einen klassischen Theaterbegriff hinausgehen.
Studtmann, Katharina (2020): Das politische Theater. Gegenstand und Methode im Politikunterricht. Schwalbach Ts.
Katharina Studtmann zeichnet in diesem Buch historische Entwicklungslinien des politischen Theaters nach. Darüber hinaus beschreibt sie Schnittstellen, die sich aus den Grundprinzipien kultureller und politischer Bildung ergeben. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen jedoch theaterpädagogische Methoden, die sie für den Politikunterricht geeignet hält. Auch hier gilt, dass außerschulische politische Bildner:innen von diesen präzisen Anregungen profitieren und sie auf Ihre Arbeit übertragen können. Beispielhaft legt Studtmann weiterhin dar, wie eine Unterrichtsreihe rund um eine Inszenierung, in diesem Fall „The Situation“ von Yael Ronen, in der politischen Bildung gestaltet werden kann.
Miller, Tilly (2009): Theater und politische Bildung; Kulturfenster. In: Erwachsenenbildung: Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, Jg. 55, H. 3, S. 159-161. online verfügbar
Miller sieht im Theater(spielen) v.a. auch einen wertvollen emotionaler Zugang für die Adressierung politischer Fragen. Politisches Theater als politische Bildung zu beschreiben, ginge ihm jedoch zu weit, da diese schließlich auf Wissen und Informationen beruhe. In seinem Aufsatz reflektiert Miller die eigene politische und theaterpädagogische Inszenierung „AufBrüche“ dennoch im Hinblick auf die Frage, wie und wann im Inszenierungsprozess neben einer ästhetischen auch eine politisch-pädagogische Dimension erschlossen werden kann. Im Vergleich zur Inszenierung „fertiger“ Stücke würde die offenere Stückentwicklung eine Bewusstwerdung, Formung und Artikulation eigener politischer Positionen ermöglichen könnten. Besonders spannend ist die Frage, wie stark Beteiligungsmomente in Stückentwicklungen sein sollten, um dies zu erreichen. Miller plädiert hier für eine Beschränkung auf die inhaltliche Mitgestaltung des Stücks. Bei einer dramaturgisch-inszenatorischen Mitsprache der Spieler:innen vermutet er destruktive Überforderungsmomente.
Martens, Gitta (2011): Kulturelle Bildung, im besonderen Theaterpädagogik, und ihr Verhältnis zur politischen Bildung. in: Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung e.V. (Hrsg.): Das Politische in der kulturellen Bildung. Remscheid. S. 43-62.
Martens geht davon aus, dass sich politische und kulturelle Bildung gegenseitig beeinflussen. In ihrem Beitrag zum Jahrbuch der Akademie Remscheid zum Thema „Das Politische in der Kulturellen Bildung“ beschreibt sie mehrere Ebenen einer theaterpädagogischen Praxis, auf denen eine Theaterpädagogik mit politischem Bildungsgehalt möglich ist. Nach einem kurzen Exkurs zur Entwicklung der politischen Bildung in der BRD macht Martens entlang verschiedener theaterpädagogischer Entwicklungsstufen und Beispiele (z.B. Brechts Lehrstücke oder Boals Forumtheater) deutlich, dass in der Theaterpädagogik stets sowohl auf der inhaltlichen als auch methodisch-künstlerischen Ebene ein Bezug zum sozialen Miteinander und zum Politischen existiert bzw. existieren kann. Martens beschreibt nämlich auch, wann Theaterpädagogik ihres Erachtens nichts mit politischer Bildung zu hat: nämlich dann, wenn sie sich auf die handwerkliche Vermittlung von Schauspieltechniken begrenzt, Lebenswelten der Akteur:innen ignoriert oder „das Private und das Öffentliche trennt“.
Meyer, Tania (2009): Theaterpädagogik als politische Bildung. Und warum Theater spielen (fast) immer politisch ist. Arbeitskreis deutscher Bildungsstätte e.V. (Hrsg.) Außerschulische Bildung. Materialien zur politischen Jugend- uns Erwachsenenbildung. S. 257-260.
In ihrem Aufsatz beschreibt Tania Meyer zwei schulische Theaterprojekte, die ein dezidiertes Vermittlungsziel im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung verfolgten. Meyer nennt es eine Verschränkung, in der Theaterpädagogik politische Themen aufgreifen kann. „Insofern zeigt sich hier bereits, wodurch Theater per se grundsätzlich politisch ist: die öffentliche Zur-Schaustellung eines (performativen) Textes bzw. Vorgangs“ (vgl.: Metzler-Lexikon: Theatertheorie, in: Meyer 2009, 257). Weiterhin geht Meyer der Frage nach, wo im Medium Theater Momente politischer Bildung sind oder besser wie sich diese in der theater-pädagogischen Praxis initiieren lassen.
Weiterführend sei an dieser Stelle Meyers Dissertation erwähnt, die wenn auch inhaltlich mit einem anderen Schwerpunkt in den ersten Kapiteln theaterpädagogische Arbeitsweisen als potentiell sehr politische Form des Theatermachen noch einmal in den Blick nimmt.
Meyer, Tania (2016): Gegenstimmbildung. Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit. Bielefeld.
Krause, Tim; Werner, Dominik (2010): Zwischen Ästhetik und Politik. Das Theater der Unterdrückten als Methode der politischen Erwachsenenbildung. in: Hessische Blätter für Volksbildung. Politische Bildung. 4/2010. https://www.wbv.de/shop/Zwischen-AEsthetik-und-Politik-HBV1004W346
Tim Krause und Dominik Werner beleuchten in diesem Artikel eingehend, ob sich Augusto Boals Methoden des Theaters der Unterdrückten in der politischen Erwachsenenbildung anwenden lassen. Sie arbeiten sich exemplarisch an einer selbst erfahrenen Forumtheater-Aufführung zum Thema Rechtsextremismus ab und inkludieren dichte Beschreibungen derselben in ihren Artikel. Krause und Werner nehmen sowohl Potentiale politischer Bildung für das Publikum als auch politische Lernmomente für die Spieler*innen im Rahmen des von einer Spielleitung begleiteten Produktionsprozesses in den Blick. Die Autoren formulieren durchaus hilfreiche Bedingungen, unter denen Theaterproduktionen politischen bildend sein können. Diese lassen sich keineswegs nur auf Produktionen im Sinne von Boals Forumtheater, sondern auch auf theaterpädagogische Stückentwicklungen beziehen.
Wrentschur, Michael (2014): Politisch-partizipative Theaterarbeit: ästhetische Bildung und politische Beteiligung. Die Theater- und Kulturinitiative InterACT als Beispiel. In: Magazin erwachsenenbildung.at, 22/2014, S. 2-10. online verfügbar
Im österreichischen Magazin Erwachsenenbildung hat sich Michael Wrentschur 2014 ebenfalls mit Augusto Boals Theater der Unterdrückten auseinandergesetzt. Der Autor gibt Einblicke in die praktischen Arbeitsweisen und Abläufe der Kulturinitiative InterACT, die Theater- und politische Bildungsarbeit in der Praxis zusammenführen. Wrentschur geht der Frage nach, welche Möglichkeiten es zur Verknüpfung von ästhetischer und politischer Bildung bzw. Beteiligung gibt. Dabei stellt er die ästhetische Bildung, also die leiblich-sinnliche Erfahrung, die beim Theaterspielen möglich wird, in den Mittelpunkt. Augusto Boals Methoden lösen die Grenze zwischen Bühne und Publikum auf und beziehen die Zuschauer*innen in das Spiel mit ein. Genau hier sieht Wrentschur ein Raum für Spiel- und Differenzerfahrung in der Kunstform Theater aber auch ein Raum für Beteiligung, der neben ästhetischer auch politischer Bildung ermögliche.
Holzapfel, Günther (1989): Aspekte politisch-kultureller Weiterbildung am Beispiel von Theaterarbeit. In: Kaiser, Arnim (Hrsg.): Handbuch zur politischen Erwachsenenbildung, München, S. 143–157.
Dem Theater der Unterdrückten (TdU) aber auch vielen anderen Theaterformen widmet sich Günther Holzapfel in seinem Beitrag zum Handbuch zur politischen Erwachsenenbildung. An dieser Stelle geht er weiter als die meisten hier aufgeführten Beiträge. Neben dem TdU wurden in dem von ihm und anderen durchgeführten Praxisprojekt u.a. Übungen und Formate aus dem Improvisationstheater, dem Lehrstücktheater, Rollenspiele und Commedia del‘ Arte kombiniert. In seinem Beitrag beschreibt und reflektiert der Autor die Potentiale einer Szenenentwicklung im Rahmen von 15 Seminaren mit Erwachsenen für die politische Bildung. Konkrete Lernchancen sieht Holzapfel in der künstlerischen Gestaltung von sozialen und politischen Inhaltich mithilfe von theatralen Formen und Methoden. Sie gehe laut dem Autor über die bloße Veranschaulichung oder einen Anwendungsbezug im politischen Bildungsprozess hinaus. So habe das Spiel selbst eine Erkenntnisfunktion inne, die seitens der politischen Bildung nicht übersehen werden sollte (vgl. Holzapfel 1990, 151). Abschließend stellt Holzapfel weitere Theaterprojekte vor, die für ihn ebenfalls für eine gelungene Kombination aus Theaterarbeit und politischer Bildung stehen.
Serafin, Eva (2000): Die psychodramatische Konzeption in der politischen Bildung - Ein missing link zwischen Individuum und Gesellschaft. In: Wittinger, Thomas (Hrsg.): Psychodrama in der Bildungsarbeit, Mainz, S. 152-172.
Die Methoden des Psychodramas werden in zahlreichen therapeutischen und nicht wenigen Bildungsbereichen seit vielen Jahren eingesetzt. In ihrem Beitrag zum Sammelband „Psychodrama in der Bildungsarbeit“ beschreibt und begründet Serafin die Einbindung des Psychodramas in politische Bildungsangebote. Am Beispiel stellt sie verschiedene psychodramatische Verfahren vor, die mit einer Gruppe von pflegendem Personal erprobt wurden. Die Beschreibungen reichen von soziodramatischen Szenen bis hin zu soziometrischen Übungen, die sowohl die Erforschung als auch Erprobung von individuellem und gesellschaftlichen Handeln ermöglichen sollen. Die künstlerische Dimension steht dabei deutlich weniger im Fokus als die Möglichkeit, sich als Teilnehmer*in in den psychodramatischen Methoden persönlich einzubringen.
Literatur zur weiteren Vertiefung:
Sicher ist es bei der Beschäftigung mit den Schnittstellen von Theater(spielen) und politischer Bildung sinnvoll, den Blick noch etwas zu weiten und auch Fragen nach Verbindungen von kultureller und politischer Bildung oder Emotionen in der politischen Bildung zu adressieren. Dazu finden sie im Folgenden bitte weiterführende Literaturempfehlungen.
Besand, Anja (2004): Angst vor der Oberfläche - Zum Verhältnis ästhetischer und politischer Bildung im Zeitalter neuer Medien, Schwalbach/Ts..
Besand, Anja (Hrsg.) (2012): Politik tritt Kunst. Zum Verhältnis von politischer und kultureller Bildung, Bonn.
Besand, Anja/ Overwien, Bernd/ Zorn, Peter (Hrsg.) (2019): Politische Bildung mit Gefühl, Bonn.