Forschungsprojekt: Ukrainische Identität: Das Selbst und das Andere im Kontext der ukrainischen Diaspora
Gefördert durch: Graduiertenakademie der TU Dresden
Titel: Ukrainische Identität: Das Selbst und das Andere im Kontext der ukrainischen Diaspora / Ukrainian Identity: the Self and the Other in the context of Ukrainian Diaspora
Laufzeit: 2016–2017
- Institut für Slavistik, TU Dresden
- Ukrainian Language Education Center, Modern Languages and Cultural Studies, University of Alberta
Arbeitsgruppe der TU Dresden
- Prof. Dr. Holger Kuße
- Dr. Martin Henzelmann
- Marianna Novosolova
Arbeitsgruppe der University of Alberta:
- Prof. Dr. Alla Nedashkivska
- PhD Candidate Olena Hlazkova
Edmonton, die Hauptstadt von Alberta (Kanada) weist eine große ukrainischstämmige Bevölkerung auf (ca. 150.000) und hat seit Beginn der ukrainischen Einwanderung nach Kanada, die mit der Eröffnung der Bahnlinie Calgary-Edmonton im Jahr 1891 und damit dem Beginn der modernen Stadtentwicklung zusammenfällt, eine vitale ukrainische Tradition. Diese zeigt sich in zahlreichen Kulturvereinen, einem bedeutenden Freilichtmuseum zur ukrainischen Besiedlung und mehreren ukrainischen Kirchen ebenso wie in einer ausgebauten Ukrainistik mit drei Instituten an der University of Alberta – dem „Kule Folklore Centre“, dem größten Forschungszentrum zur ukrainischen Kultur außerhalb der Ukraine, dem „Canadian Institute of Ukrainian Studies“ und den „Slavic Studies“, innerhalb derer die Antragstellerin Professor Dr. Alla Nedashivska die Professur „Slavic Applied Linguistics, Ukrainian Language and Culture“ innehat.
Von Professor Nedashivska und ihren MitarbeiterInnen, insbesondere Olena Hlazkova, werden die Ereignisse in der Ukraine seit der orangenen Revolution aus linguistischer Perspektive intensiv erforscht, wobei immer auch die Außensicht der Diaspora auf das Geschehen mit einbezogen wird.
Der am Institut für Slavistik der TU Dresden in der Sprachwissenschaft bestehende Schwerpunkt in der Kulturwissenschaftlichen Linguistik impliziert die Untersuchung von sprachlichen Prozessen in modernen (aber auch historischen) Gesellschaften in einer diskurssensitiven Differenzierung, d.h. es werden die sprachlichen Entwicklungen in politischen, religiösen, ökonomischen u.a. Kontexten in den Blick genommen.
Das beantragte Projekt hat zum Ziel, die zwei Forschungsprofile zusammenzuführen. Während in Edmonton v.a. soziale Medien und Massenmedien mit gesellschaftspolitischer Ausrichtung das Untersuchungsmaterial liefern, werden von Dresdner Seite drei klar profilierte Diskurse, der politische, der religiöse und der poetische Diskurs, mit speziellen Textsorten wie Gemeindeinformation oder Gedicht untersucht. Das schließt den medialen Diskurs mit ein, der jedoch jeweils als Teil eines institutionellen Makrodiskurses mit einbezogen wird (insbesondere des politischen Diskurses). Zusammen ergibt sich damit ein in seinen Textformen weitgehend vollständiges Bild der Ukraine-Diskurse in der kanadischen ukrainischen Diaspora, deren Zentrum die Stadt Edmonton ist.
Das Thema des Projekts bildet die Mitte aller und jedes einzelnen Teilprojekts: die Versprachlichung ukrainischer Identität in Diskursen über die Ereignisse in der Ukraine aus der Sicht der Diaspora.
Professor Dr. Alla Nedashivska widmet sich den „Diskursiven Praktiken der Neuen ukrainischen Diaspora“ mit dem Fokus auf die „Identität in der Interaktion im Kontext der Post-Maidan-Ukraine“ (“Discursive Practices of the New Ukrainian Diaspora: Identity in Interaction in the Context of Post-Maidan Ukraine”). Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Relation von Sprache und kultureller Identität, die für die mehrsprachige Ukraine gerade in Zeiten politischer Unruhe von herausragender Bedeutung ist. Die Bewertung dieser Relation von Seiten der Diaspora ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie aus der Erfahrung der Vielsprachigkeit in Kanada erfolgt, die sich in der Sprache-Identität-Relation z.T. deutlich von der der Ukraine unterscheidet.
Olena Hlazkova untersucht vergleichend zwei Gruppen mit ähnlichem Lebensschicksal, aber ethnischer Differenz: Syrische und ukrainische Flüchtlinge, d.h. Menschen mit Fluchterfahrungen und Erfahrungen der Ortlosigkeit aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen. Beide Gruppen kommunizieren ihre Erfahrungen in den sozialen Netzwerken, über beide wird in den Massenmedien berichtet: „Displacement and its Media Coverage: The Cases of Syria and Ukraine in 2015“. Beide Gruppen, ukrainische und syrische Flüchtlinge, sind in Kanada und in den kanadischen Medien präsent.
Dem medialen politischen Diskurs in der Ukraine sind die Untersuchungen von Dr. Martin Henzelmann vom Institut für Slavistik der TU Dresden gewidmet, der zwei Wochen an der University of Alberta verbringen wird und auch die Materialsammlung für die Dresdner Teilprojekte von Prof. Dr. Holger Kuße und Marianna Novosolova vorbereitet. Im Teilprojekt mit dem Titel „Konfliktdarstellung und Konfliktwahrnehmung: Eine linguistische Betrachtung der Ukrainekrise und ihrer Vermittlung in den Medien der kanadischen Exilukrainer“ wird die Berichterstattung der letzten Jahre in den kanadischen ukrainischen Medien untersucht, die erwartungsgemäß nachhaltig von den innerukrainischen und ukrainisch-russischen Auseinandersetzungen geprägt war – so etwa im Ukrainian Canadian Herald oder in den Ukrainian News, die beide in Edmonton erscheinen. Die methodisch an der Konstruktionsgrammatik und der Kontextsemantik der Frametheorie orientierte Untersuchung zeigt, durch welche assoziativen Inhalte und konstruktionsgrammatischen Hierarchien der aktuelle politische Diskurs gesteuert wird und welchen Systemhaftigkeiten er unterliegt, die sich aus der Interaktion textspezifischer und pragmatischer Komponenten ergeben. Gefragt wird daran anschließend, ob sich übergeordnete Modellierungen erkennen lassen, die die Kommunikation in der ukrainischen Diaspora in ihrer sprachlichen Realisierung näher definieren.
Prof. Dr. Holger Kuße untersucht den „kanadischen christlichen Blick auf die Ukraine“ („The Canadian Christian Perspective on Ukraine“) von ukrainisch-orthodoxen (Orthodox Church of St. Anthony; Ukrainian Orthodox Church of St. Michael the Archangel; Ukrainian Orthodox Cathedral of St. John the Baptist) und ukrainischen griechisch-katholischen Gemeinden (St. Josaphat Cathedral; Ukrainian Catholic Parish of the Exaltation of the Holy Cross; St. Nicholas Ukrainian Catholic Parish), in deren Publikationen sich Kommentare zur Ukrainischen Krise aus religiöser und kirchlicher Sicht finden. In diesen Kommentaren werden nationale und konfessionelle Argumente miteinander verbunden. Herausgearbeitet wird die Spezifik der Argumentationslinien, die sich von einem Standpunkt aus entwickeln, der sowohl ein äußerer (Diasporasituation), als auch durch die konfessionelle Bindung einer der Teilhabe ist.
Marianna Novosolova widmet sich anhand der zeitgenössischen ukrainischen Poesie in Kanada dem Bild der „heutigen Ukraine aus poetischer Sicht in der Poesie der ukrainischen Diaspora in Kanada“. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass in der Poesie alle kommunikativen Sprachfunktionen in verdichteter Form (konkret: in einem Gedicht) mit aktuellen sozialen Motiven gleichzeitig realisiert werden können. Gefragt wird, wie die aktuelle ukrainische Konfliktsituation in der Poesie gespiegelt, d.h. mittels welcher Bildlichkeit die Ukraine, ihre Regionen, das ukrainische Volk, die ukrainischen Kämpfer und ihre Gegner sowie der Krieg insgesamt und einzelne militärische Handlungen symbolisch repräsentiert werden. Darüber hinaus soll der Fragestellung nachgegangen werden, wie die Autorinnen und Autoren (u.a. Volfram Burghardt, Lida Palij, Jaryna Tudorkovecka, Marko Carynnyk) indirekte Aufforderungen und direkte Imperative poetisch verbalisieren.
Auf dem Projekttreffen in Dresden im Dezember 2016 sollen die grundlegenden Fragen der Zusammenarbeit und die Verknüpfung der Untersuchungen besprochen werden. Das Treffen wertet zugleich die Erfahrungen der gemeinsamen Panels auf dem Kongress der „Association for Slavic, East European, & Eurasian Studies“ (“Images of the Other”) in Lʼviv (26.-28. 06. 2016) aus. Geplant ist eine englischsprachige Publikation aller Beiträge der ProjektteilnehmerInnen als Sondernummer der Zeitschrift für Slawistik oder als Band in der Reihe Specimina philologiae Slavicae. Auf dem Workshop in Edmonton im März 2017 werden die zusammengestellten Korpora und die erwarteten Auswertungsergebnisse diskutiert und die Publikation vorbereitet.