Zwischen den Stühlen
Enis ist Referendar und steht bei Unterrichtsversuchen vor einer großen Herausforderung: Er möchte es den Mentor*innen Recht machen, muss aber auch die Erwartungen der Haupt- und Fachausbildungsleiter*innen erfüllen. Außerdem möchte er seine eigenen Überzeugungen von gutem Unterricht nicht völlig außer Acht lassen. Enis bewundert die Berufserfahrung und fachliche Kompetenz seiner Mentor*innen, fühlt sich aber nicht mehr authentisch als Lehrperson, wenn er allen Hinweisen folgt. Erst kürzlich plante Enis eine Internetrecherche in Partner*innenarbeit, damit sich die Lernenden den Lerngegenstand selbstgesteuert und kooperativ erschließen können. Seine Mentor*innen lehnten diesen Vorschlag ab mit der Begründung “Das kostet zu viel Zeit, die Lernenden sind dabei unruhig und Sie schaffen Ihre Inhalte nicht”. Stattdessen sollte Enis die Lernenden in Einzelarbeit mit den Texten und Aufgaben im Buch arbeiten lassen.
Enis fürchtet sich vor Konflikten mit den Mentor*innen, da das die Zusammenarbeit mit ihnen beeinflussen und auch eine schlechtere Bewertung nach sich ziehen könnte. Weil er gute Noten auf seine Lehrproben bekommen möchte, ist er geneigt, seine eigenen Überzeugungen von Unterricht zu ignorieren. Auch eine befreundete Referendarin sagte kürzlich “Für die Zeit muss man sich einfach unterordnen und machen, was andere wollen. Danach können wir endlich unseren eigenen Stiefel durchziehen.”
-
Warum fühlt sich Enis so unwohl und sitzt “zwischen den Stühlen”?
-
Warum erleben viele Referendar*innen diese Ausbildungsphase als besonders belastend?
-
Warum ist eine gute Beziehung zwischen Referendar*in und Mentor*in wichtig und was braucht es, damit Referendar*innen sich wohl fühlen?
Warum fühlt sich Enis so unwohl und sitzt “zwischen den Stühlen”?
Eine Lehrperson, die Ihr Fach nicht mag und selbst keine Begeisterung zeigt, wird von den Lernenden schnell als solche entlarvt. Im Umkehrschluss können Lehrende, die ihr Fach gern unterrichtet und sich ehrlich dafür interessieren, auch die Lernenden mit dieser positiven Einstellung zum Lerngegenstand anstecken (Brosche, Kasten 2015). Enis scheint eine prinzipielle Begeisterung für das Lehren mitzubringen. Jedoch könnte das Verbiegen in Richtung der Ansichten und Prinzipien anderer diese Freude schlussendlich erlöschen lassen. Im Fall scheint Enis sehr darunter zu leiden, dass er, seine Mentor*in und die Seminarleitung unterschiedliche Vorstellungen von und Erwartungen an Unterricht haben. Es wirkt, als wären seine eigenen Vorstellungen und Wünsche zweitrangig. Was zählt, sind die Wünsche von Mentor*in und Seminarleitung. Für Enis stellt die Situation einen Balanceakt dar. Einerseits, möchte er es sowohl den Mentor*innen und Seminarleitungen Recht machen, andererseits möchte er seine eigenen Vorstellungen verwirklichen. Eine Kooperation zwischen Mentor*in, Seminarleitung und Enis findet leider nicht statt. Dies ist einer von mehreren Gründen, die dazu beitragen, das angehende Lehrer*innen die Referendariatsphase als besonders belastend wahrnehmen.
Warum erleben viele Referendar*innen diese Ausbildungsphase als besonders belastend?
Enis, der sprichwörtlich “zwischen den Stühlen sitzt” und das Referendariat als emotionale Belastung erlebt, scheint kein Einzelfall zu sein. Schaufeli und Taris (2005) weisen auf diese alarmierende Situation hin und verdeutlichen, dass emotionale Erschöpfung einen bedeutsamen Frühindikator für Burnout und berufliche Unzufriedenheit darstellt. Referendar*innen sind in besonderer Weise einer emotionalen Belastung ausgesetzt. Denn in der zweiten Ausbildungsphase des Lehramts bewegen sie sich stets in einem Spannungsfeld zwischen den eigenen Ansprüchen und Vorstellungen, den Ansprüchen und Vorstellungen der Mentor*innen an der Schule sowie denen der Seminarlehrkräfte in der Ausbildungsstätte. In Gruppendiskussionen äußern Referendar*innen und Junglehrer*innen wann sie sich mit ihren Mentor*innen und Seminarleitungen besonders wohlfühlten:
“Wenn sie einem das richtige Verhältnis zwischen Unterstützung und Freiraum geben und verstehen, in welcher Phase man gerade ist … mit denen man persönlich auch mal über etwas anderes als über Schule unterhalten kann und die ein gutes Feedback geben wenn sie in Unterrichtsstunden dabei sind … die sich auch so bisschen verantwortlich fühlen für einen.” (aus Erhebungen des Einzelvorhabens HeLeA der ersten Förderphase von TUD-Sylber)
Genau wie Enis wünschen sich viele Referendar*innen, als gleichwertiges Mitglied im Kollegium anerkannt und in ihren Bedürfnissen und Vorstellungen ernst genommen zu werden (Košinár 2013). Anstelle jedoch Referendar*innen vertrauensvoll “auf Augenhöhe” zu begegnen, werden sie häufig mit Distanz als “lernbegierige Novizen mit begrenzter Aufenthaltsdauer an der ausbildenden Schule” begriffen (Warwas, Neubauer, Panzer 2016: 309). So äußert ein ehemaliger Referendar rückblickend in der Gruppendiskussion
“Naja, das klingt jetzt hart, aber man war manchmal ein Mensch zweiter Klasse. An der Uni haben sie uns als Ewachsene geseh'n und im Ref bist du das auf einmal nicht mehr. Du bist so'n Referendar und manche gehen mit dir um, wie mit 'nem Kind. Du sitzt zwischen den Stühlen, selbst die Schulbank zu drücken, aber musst gleichzeitig schon unterrichten” (Ergebnisse von HeLeA)
Was braucht es, damit Referendar*innen sich angemessen unterstützt fühlen?
Nicht nur für die Planung und Durchführung von “gutem Unterricht”, sondern vor allem auch für das emotionale Wohlbefinden von Referendar*innen ist es bedeutsam, dass sich Lehramtsanwärter*innen in der zweiten Ausbildungsphase wohl und angemessen unterstützt fühlen. Fühlen sich die Referendar*innen in ihren Bedürfnissen ernst genommen, stärkt dies perspektivisch die Berufszufriedenheit und verhindert die Gefahr von Burnout. Nach Knoll & Schwarzer (2005) lassen sich drei grundlegende Arten von sozialer Unterstützung unterscheiden:
1. Emotionale Unterstützung: Gesten und Worte, die Wertschätzung, Nähe, Zugehörigkeit und Vertrauen signalisieren sowie in schwierigen oder erfolglosen Situationen Trost und Ermutigung spenden.
2. Instrumentelle Unterstützung: Aktive Hilfestellungen bei der Problemlösung bzw. Zielerreichung, so etwa auf das Bereitstellen von Arbeitsmaterialien oder die Vorbereitung einzelner Arbeitsschritte.
3. Informationelle Unterstützung: Immaterielle und häufig verbale Hinweise, gute Ratschläge oder konstruktive Rückmeldungen, die Hilfe zur Selbsthilfe geben.
Aufgrund ihrer inhaltlichen Verwandtschaft werden instrumentelle und informationelle Elemente des Öfteren in der Sammelkategorie der praktischen oder pragmatischen Unterstütung zusammengefasst (Laireiter 2009). Zahlreiche Studien belegen, dass das Erschöpfungsniveau von Referendar*innen dann besonders gering ist, wenn sie sich emotional und inhaltlich von ihren Mentor*innen unterstützt fühlen und zufrieden mit den Unterstützungsangeboten durch ihrer Ausbildungsschule sind (Dückers-Klichowski 2005). Darüber hinaus muss es nicht die primär verantwortliche Mentor*in sein, die Unterstützung bietet, sondern auch Familie und Freunde sowie das verbleibende Kollegium können emotionale wie auch inhaltliche Unterstützung bieten (Warwas 2016).
-
Welche Hierarchien und Spannungsfelder gibt es in meinem Arbeitsbereich?
-
Welche Grundlage haben meine Erwartungen an andere?
-
Inwieweit können die anderen meine Erwartungen erfüllen? Beachte ich dabei ihre individuellen Bedürfnisse und Ressourcen?
-
Was erwarten andere von mir und inwiefern kann ich ihre Erwartungen erfüllen
Machtfalle
Wenn Mentor*innen und Ausbildungsleiter*innen ihre Meinungen, Bedürfnisse und Kenntnisse quasi "Kraft ihres Amtes" über die von Referendar*innen stellen, erschwert dies eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Dadurch werden bestehende Hierarchien verstärkt und die Referendar*innen fühlen sich nicht wertgeschätzt und ernst genommen.
Erwünschtheitsfalle
Aufgrund von sozialem Zwang, sozialer Erwünschtheit oder wegen der Aussicht auf die Benotung von Lehrproben können Referendar*innen in die Erwünschtheitsfalle tappen. Diese sitzen sprichwörtlich dann "zwischen den Stühlen" wenn die Anforderungen und Erwartungen von Ausbildungsstätte und Schule stark voneinander und von den eigenen Ansprüchen abweichen. Sie selbst und ihr Unterricht sind dann wenig authentisch, sondern erfüllen vor allem die Wünsche von anderen. Eigene Anspüche und Vorstellungen von gutem Unterricht werden hintenangestellt.
Einzelkampffalle
Angst vor Ablehnung und schlechten Bewertungen sowie mangelnde Ansätze zur Kooperation sind nur einige Ursachen dafür, dass vor allem Referendar*innen in die Einzelkampffalle tappen können. Ein Austausch mit anderen Referendar*innen über die momentanen Herausforderungen und Fragen finden nur punktuell statt und sie sind aufgrund ihrer Doppelrolle als Lehrende und Lernende zugleich in einer besondeeren Situation, die etwa vom Kollegium an der Schule nicht immer ausreichend anerkannt wird. Als "Flucht nach vorn" werden Probleme dann allein und nicht in Kooperation angegangen.