TUD-Sylber-Einzelvorhaben: Heterogenität in der Lehrerbildung von Anfang an
Hintergrund
An Schulen kommt es, trotz der Forderung und dem offenkundigen Willen zur Integration und Inklusion häufig zu Exklusionsprozessen. Chancengerechtigkeit, Anerkennung der Vielfalt und das gemeinsame Lernen mit- und voneinander treten hierbei häufig in den Hintergrund. Insbesondere das stark vertikal gegliederte Bildungssystem Sachsens mit einer Vielzahl von Sonderschulformen führt zu institutioneller Diskriminierung und unzureichend realisierten Bildungschancen einzelner Schülergruppen. Die Lehrerbildung trägt einen wesentlichen Teil dazu bei, wie (zukünftige) Lehrkräfte z.B. mit kulturell-ethnischer und sprachlicher Heterogenität sowie mit Behinderungen und Geschlechterdifferenzen im Unterricht umgehen. Für die Zukunft ist absehbar, dass auch in Sachsen integrative wie auch inklusive Beschulung in allen Schularten zunehmen wird. Ziel für einen gelingenden gemeinsamen Unterricht aller Kinder ist es, Heterogenität nicht als Hindernis und Belastung, sondern als Chance für vielfältige Lernprozesse auf kognitiver wie sozialer Ebene zu betrachten.
Projektziele
Das zentrale Ziel des Einzelvorhabens war es, Herausforderungen (angehender) Lehrkräfte angesichts einer zunehmend heterogenen Schülerschaft zu identifizieren und daraus kollektive handlungsleitende Vorstellungen bzw. Orientierungen zu rekonstruieren. Die individuelle Auseinandersetzung mit schulischer Heterogenität und der gemeinsame Austausch darüber vermag bei angehenden Lehrkräften einen Reflexionsprozess zu initiieren. Auf den identifizierten Herausforderungen sowie den kollektiven Orientierungen aufbauend erfolgte die Konzeption von Lehrveranstaltungen. Diese haben das Ziel der Sensibilisierung (angehender) Lehrkräfte für Heterogenität und ihrer Befähigung für den Umgang mit einer vielfältigen Schülerschaft.
Methodisches Vorgehen
Der qualitative Zugang erfolgte mittels der Durchführung von Gruppendiskussionen, die anschließend mit der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Bei den insgesamt acht durchgeführten Gruppendiskussionen kamen Lehramtsstudierende der gleichen studierten Schulart zusammen und unterhielten sich über ihre Erfahrungen zur Vielfalt der Lernenden in Schule und Unterricht. Zudem beantworteten 104 Lehramtsstudierende im Rahmen einer qualitativen Vorstudie der TU Dresden die Frage, wie sie persönlich den Begriff „Heterogenität“ definieren würden und ob sie sich für den Umgang mit schulischer Heterogenität vorbereitet fühlen, deutete auf ein mangelhaftes oder gar falsches Begriffsverständnis von Heterogenität bei einzelnen Studierenden hin. Zudem gab die Mehrheit der Studierenden an, sich nicht ausreichend auf den Umgang mit schulischer Heterogenität vorbereitet zu fühlen. Als quantitativer Zugang wurde ein Fragebogen an 249 Lehramtsstudierende aller Schularten an der TU Dresden ausgeteilt. Er thematisierte sowohl Bedarfe, als auch Ängste und Wünsche der Studierenden bezüglich der eigenen Vorbereitung auf eine heterogene Schülerschaft.
Ausgewählte Ergebnisse
Unabhängig von der angestrebten Schulart der befragten Studierenden wurde die geistige Entwicklung der Schülerinnen und Schüler als am bedeutsamste Heterogenitätsdimension im Kontext Schule eingestuft, gefolgt von der sozial-emotionalen Entwicklung und der Sprache. Das Geschlecht wird dagegen nur äußerst selten als relevante Heterogenitätsdimension erachtet.
Wenn es darum geht, welche Lerngelegenheiten den Studierenden für die Vorbereitung auf den Umgang mit schulischer Heterogenität besonders wichtig sind, steht der Austausch mit Lehrerinnen und Lehrern an erster Stelle, gefolgt von Hospitationen und eigenen Unterrichtsversuchen.
Die Analysen der Gruppendiskussionen deuten darauf hin, dass die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler meist als Belastung gesehen und eher negativ konnotiert wird. Im Fokus der Erlebnisberichte stehen negative Erfahrungen (insbesondere Unterrichtsstörungen) und nur vereinzelt werden positive Beispiele des Umgangs mit Vielfalt angesprochen. Dabei werden die Aspekte Leistungsdifferenzen, sozialer Status sowie Förderbedarfe intensiv und die Aspekte Migrationshintergrund sowie Geschlecht vergleichsweise wenig diskutiert.
Schulartübergreifend können zentrale Probleme rekonstruiert werden: So wird die Differenz zwischen dem Anspruch von inklusiver Bildung einerseits und der Selektionsfunktion der Institution Schule andererseits intensiv diskutiert. Insbesondere die Diskontinuität zwischen dem in der universitären Lehramtsausbildung erworbenen theoretischen Wissen sowie der (möglichen) Umsetzung in konkreten Unterrichtssituationen wurden mehrfach rekonstruiert. Die Teilnehmenden scheinen insbesondere in Situationen, in denen der geplante Unterrichtsverlauf gestört wird, nicht zu wissen, wie sie mit der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler umgehen können. So neigen sie trotz einer durchaus positiven theoretisch gefärbten Einstellung gegenüber der Vielfalt von Menschen teilweise dazu, die Schülerinnen und Schüler in der Praxis homogenisieren zu wollen.
In den Analysen konnte mehrheitlich ein Gefühl der Überforderung mit den Anforderungen eines angemessenen Umgangs mit Heterogenität im Unterricht nachgezeichnet werden. Auf der einen Seite soll jedem Lernenden die Teilhabe am Unterricht ermöglicht werden. Daneben stehen jedoch die Arbeitsbelastung und die Angst, dass diese hohe persönliche Last nicht tragbar sei. Die Teilnehmenden scheinen sich nicht angemessen auf den Umgang mit der vielfältigen Schülerschaft vorbereitet zu fühlen und äußern in diesem Zusammenhang den Wunsch nach konkreten Praxishinweisen.
Publikationen (Auswahl)
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Bitterlich, E. & Jung, J. (2019). „...This has to be done without bending over backwards.“ Collective orientations and experiences of student teachers about heterogeneity in school. In M. Knigge., D. Kollosche, R. Marcone, M. Penteado, & O. Skovsmose (Hg.), Inclusive mathematics education: Research results from Brazil and Germany. Springer.
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Bitterlich, E. & Jung, J. (2018). "Grad in Mathe hat man immer die dabei, die Bombe sind und die, die es überhaupt nicht verstehn" - Kollektive Orientierungen Lehramtsstudierender bezüglich heterogener Lerngruppen/der Verschiedenheit von Lernenden. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2018. Online: https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/37260/1/BzMU18_BITTERLICH_Heterogenitaet.pdf
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Bitterlich, E. & Schütte, M. (2018). The Use of Language in Different Situations in the Mathematics Classroom – Academic Language and Mathematical Discourse. Fourth Erme Topic Conference (ETC4) - Classroom-based Research on Mathematics and Language (S. 34-40). Online: http://www.mathematik.uni-dortmund.de/~prediger/ERME/18-ETC4_Proceedings-Complete.pdf
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Jung, J. (2018). Interactional processes in inclusive mathematics teaching. In J. N. Moschkovich, D. Wagner, A. Bose, J. Rodrigues Mendes, M. Schütte (Hg.), Language and Communication in Mathematics Education (S. 139-155). Cham: Springer. Online: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-319-75055-2_11
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Jung, J. & Schütte, M. (2018). Lernpotentiale im inklusiven Mathematikunterricht. In A. Langner (Hg.), Inklusion im Dialog: Fachdidaktik – Erziehungswissenschaft – Sonderpädagogik (S. 86-93). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
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Bitterlich, E., Jung, J. & Schütte, M. (2017). Subjective theories of teachers in dealing with heterogeneity. In Dooley, T., & Gueudet, G. (Eds.). (2017). Proceedings of the Tenth Congress of the European Society for Research in Mathematics Education (CERME10, February 1-5, 2017). Dublin, Ireland: DCU Institute of Education and ERME. (Online: https://hal.archives-ouvertes.fr/hal-01937447/document)
Leitung
Prof. Dr. Marcus Schütte
Professur für Grundschulpädagogik/Mathematik
Mitarbeiterinnen
Elisa Bitterlich
Judith Jung
Ann-Kristin Tewes
Annika Ulfig