Weinend im Alleingang
Sam besucht die 10. Klasse einer Realschule. Weil Sam eine außerschulische Förderung erhält, fehlt er manchmal im regulären Unterricht. Er bemüht sich, den dort verpassten Stoff nachzuholen, versteht aber oftmals die Mitschriften der Mitschüler*innen nicht. Denn weil Sam nicht im Unterricht dabei gewesen ist, sind die Zusammenhänge oft nicht verständlich für ihn. Seine Verzweiflung spitzt sich zu, als im Geografieunterricht eine Leistungskontrolle ansteht. Sam hat die letzten Wochen gefehlt und er hat Angst, durchzufallen. Für Sam ist das alles zu viel und er bricht im Unterricht mehrmals in Tränen aus.
Seine Klassenlehrerin Jay ist ratlos. Sie ist noch nicht lange an der Schule. Zudem fühlt sich Jay fachlich nicht fit genug in den anderen Fächern, um Sam die versäumten Lerninhalte angemessen erklären zu können. In einem Pausengespräch meinte eine Kollegin: “Warum machst du so ein Drama daraus? Andere bekommen auch Förderunterricht. Die müssen das halt selbst irgendwie hinbekommen.”
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Warum fällt es Sam und auch Jay schwer, sich Hilfe zu holen?
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Was stellt für Sam eine Lernbarriere dar und wie kann er (wieder) in einen Lernprozess gebracht werden?
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Wie kann das Problem im Kollegium besprochen und gelöst werden?
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Wo liegen meine persönlichen Grenzen als Lehrperson? Wann muss ich mich abgrenzen, damit mir nicht alles über den Kopf wächst?
Warum fällt es Sam und auch Jay so schwer, sich Hilfe zu holen?
Sam scheint sich allein gelassen zu fühlen. Aufgrund seiner Teilnahme am Förderunterricht fehlt er häufig in anderen Fächern und hat auch nicht die Beziehung zu seinen Mitschüler*innen, die er sich eigentlich so sehr wünscht. Die spezielle Förderung kann als isolierende Bedingung gedeutet werden, die Sam nicht nur den Zugang zum Lerninhalt der versäumten Unterrichtsstunden, sondern auch den Kontakt zu seinen Mitschüler*innen erschwert.
Jay hingegen ist neu im Kollegium und hat darum noch nicht viele Kontakte aufgebaut. Somit weiß Jay eventuell nicht, welche Kolleg*innen ihr helfen können und wollen. Ebenso gab es noch keine Information darüber, wie an dieser Schule kollegiale Kooperation konkret umgesetzt wird.
Sowohl Sam als auch Jay könnte es durch noch nicht etablierte, stabile Beziehungen umso schwerer fallen, sich Hilfe zu suchen, weil sie Angst vor Abweisung, Zurückweisung und Bloßstellung haben.
Was stellt für Sam eine Lernbarriere dar und wie kann er (wieder) in einen Lernprozess gebracht werden?
Sam erhält spezielle Förderung. Was ihm eigentlich helfen soll, wird jedoch zu einer isolierenden Bedingung. Da Sam durch das Fehlen im regulären Unterricht der Zugang zu Mitschüler*innen und Lerninhalten erschwert wird, ergeben sich so Lernbarrieren. Sam scheint dieser Situation hilflos ausgesetzt zu sein: Er soll (und will) die außerschulische Förderung in Anspruch nehmen, doch dadurch verpasst er andere Lerninhalte und muss sich zugleich mit einem Mehr an Aufgaben auseinandersetzen. Das passiert meist am Nachmittag, nach der Schulzeit, sodass Sam keine Zeit mehr für Hobbies und seine Freund*innen hat. Es scheint, als hätte Sam eine andere schulische Lebenswelt als seine Mitschülerinnen, die stets im Klassenverband bleiben und eine engere Bindung zueinander haben. Die Isolation von Sam wirkt sich somit in zweierlei Hinsicht negativ auf seinen Lernprozess aus: Erstens bleiben ihm Momente der Kooperation mit seinen Mitschüler*innen durch das Fehlen am Unterricht verwehrt. Doch “[k]ooperative Lernformen bilden die Grundlage dafür, dass kognitives Lernen und soziales Lernen im Unterricht miteinander verbunden wird" (Leuders 2006: 1). Zweitens führt die Isolation dazu, dass Sam negative Gefühle entwickelt und sein Selbstwertgefühl sinkt - beispielsweise aufgrund der fehlenden Anbindung an seinen Mitschüler*innen oder wegen schlechter Noten. Negative Emotionen wirken sich hemmend auf Lern- und Entwicklungsprozesse aus. “Positive Emotionen öffnen das Gehirn für Lernprozesse, während negative Emotionen den Menschen für das Lernen verschließen” (Steffens 2016: 34 nach Vygotskij 2001: 162).
Damit der Lernprozess von Sam neu initiiert werden kann, bietet es sich beispielsweise an, gemeinsam mit Sam Lernziele zu vereinbaren, die ihm Orientierung, Transparenz und eine klare Zielvorstellung geben. Darüber hinaus kann das Lernen in einem Peer-Format (Lerntandem) dazu beitragen, dass Sam wieder Anschluss an seine Mitschüler*innen findet und somit von ihnen besser unterstützt werden kann.
Wie kann das Problem im Kollegium besprochen und gelöst werden?
Der Moment, als Sam in Tränen ausbrach, hat Jay verunsichert. Seitdem schwirren ihr viele Fragen durch den Kopf: Was ist in der Situation eigentlich passiert? Was hat Sams Tränen ausgelöst? Hat sie etwas nicht wahrgenommen? Und vor allem: Wie hätte sie in der Situation reagieren können, um Sam zu unterstützen? Irritationen und Unsicherheiten können schnell zur Belastung werden und Lehrpersonen einschränken. Damit es nicht soweit kommt und die Beziehung von Jay und Sam nicht darunter leidet, könnte Jay sich Unterstützung bei Ihren Kolleg*innen suchen. Eine Methode, um Herausforderungen aus dem Schulalltag strukturiert und lösungsorientiert zu besprechen, ist die kollegiale Fallberatung (KFB). Jay hätte dadurch die Möglichkeit, Sams Situation gemeinsam mit Kolleg*innen zu reflektieren und im nächsten Schritt Handlungsstrategien zu entwickeln. Außerdem würde sie von den Erfahrungen ihrer Kolleg*innen profitieren, die Sam und die Schule schon länger kennen. Um die Kollegiale Fallberatung in der Schule zu etablieren, ist es sinnvoll, einen Aushang im Lehrer*innenzimmer zu machen. In diesen können sich Interessierte als Beratende eintragen oder sich als Fallvorstellende Unterstützung suchen. Einen Vordruck, um eine Kollegiale Fallberatung zu planen, finden Sie unter Anregungen und Materialien zur Kollegialen Fallberatung. Vorteile der Kollegialen Fallberatung sind, dass sie in akuten Situationen schnell zu Lösungen führen kann und somit entlastend wirkt. Damit einher geht, dass sich die*der Fallvorstellende*r dem Kollegium hinsichtlich der problematischen Situation öffnet. Damit das gelingt und Jay sich ihren Kolleg*innen öffnen kann, ist eine respektvolle Haltung und ein verständnisvolles und achtsames Zuhören unter den Kolleg*innen wichtig.
Dafür kann es nützlich sein, sich an den Hilfsregeln der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn zu orientieren (Hilfsregeln der Themenzentrierten Interaktion). Um sich im Kollegium sicherer zu fühlen, möchte Jay diese zunächst mit ihren Kolleg*innen durchgehen und sich dann gemeinsam auf Gesprächsregeln einigen. Eine Vorlage zur Erarbeitung gemeinsamer Gesprächsregeln findet sich auch in der Praxisbox Kollegiale Fallberatung.
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Welche Möglichkeiten zur Partizipation und Kooperation kann ich schaffen?
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Eignen sich für jenes Thema und jene Lerngruppe Lern-Tandems?
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Weiß ich, welche außerschulischen Tätigkeiten zu Belastungen für die Lernenden werden?
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Weiß ich, welche Unterstützungsmaßnahmen ich Lernenden vorstellen kann, um Lernbarrieren abzumildern?
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Kann ich abschätzen, welche fachlichen Inhalte die Lernenden außerhalb meines Unterrichts (in der Schule/zuhause) bewältigen müssen?
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Sind Instrumente wie Hospitationen, themenzentrierte Interaktion oder kollegiale Fallberatung bereits im Kollegium bekannt und implementiert?
Sonderbehandlungsfalle
Typische Formen der Sonderbehandlung sind bei der Diagnose eines Förderschwerpunktes freiwerdende personelle oder finanzielle Ressourcen. Was der Person helfen soll, trägt so vor allem dazu bei, sie zu verbesondern. Die Binarität von Normal-und-Anders wird so weiter reproduziert.
Einzelkampffalle
Wenn aufgrund von Angst vor Ablehnung und Zurückweisungen Kontakte und Kooperationen vermieden werden, besteht die Gefahr des Einzelkämpfer*innentums. Diese Vermeidungsstrategie führt langfristig nicht zum (Lern-)Erfolg, denn Kooperation und Kommunikation sind bedeutsame Aspekte gelingender Lehr-Lern-Prozesse - sowohl seitens der Lernenden als auch der Lehrenden.
Ohnmachtsfalle
Bestehende Strukturen und Verfahren sollten nicht blind als legitim und unveränderlich angenommen werden. “Ich kann daran sowieso nichts ändern” ist dann der erste Schritt Richtung Ohnmachtsfalle und der Beginn einer Vermeidungsstrategie.
Einzigartigkeitsfalle
Jede*r ist einzigartig. Das anzuerkennen ist wichtig. Es gibt jedoch systemische Benachteiligungen marginalisierter Gruppen. Diese Gruppen und Benachteiligungen dürfen nicht unter dem Deckmantel des “Wir sind alle einzigartig” unsichtbar gemacht werden.
Einen Spagat zwischen der Anerkennung von Einzigartigkeit und Differenz zu schaffen, schützt vor der Einzigartigkeitsfalle.