"Leiser bitte!"
Eldar plant seinen Unterricht nach dem für ihn gängigen Schema: Einführung, Erarbeitung und Ergebnissicherung. Je nach Thema teilt er die Zeitabschnitte für die Phasen unterschiedlich auf. Insgesamt hat er 90 Minuten Zeit, das Stundenthema zu behandeln. Meistens startet er mit einer mündlichen Wiederholung der Inhalte der letzten Sitzung und führt dann mit einem Vortrag in neue Inhalte ein. Danach erarbeiten sich die Lernenden durch Aufgaben im Buch oder durch ein Arbeitsblatt das Thema. Zum Schluss werden im Plenum die Inhalte besprochen und die Lernenden schreiben wichtige Punkte auf. Vor allem während der Erarbeitungsphase muss Eldar die Klasse so oft ermahnen, leise zu arbeiten. Danach hat er meistens eine heisere Stimme, weil er ständig über den Pegel reden muss. Eldar hat zwar durch Sitzplanänderungen schon versucht, dem entgegenzuwirken, aber das hat es eigentlich nur schlimmer gemacht: Jetzt unterhalten sich die Schüler*innen über die Sitzbänke hinweg.
Maxi besucht die 5. Klasse einer Gemeinschaftsschule. Sie geht gern in die Schule, dort ist sie mit ihren Freund*innen zusammen. Unterricht findet sie manchmal mehr, manchmal weniger spannend, das kommt auf das Thema und die Lehrperson an. Sie unterhält sich häufig mit ihrer besten Freundin, die auch neben ihr sitzt. Manchmal über das Unterrichtsthema, manchmal auch nicht. In letzter Zeit unterhalten sie sich häufiger über das Thema Krieg, weil es überall in den Medien besprochen wird und sich bei ihnen einige Fragen ergeben haben. Wiederholt werden sie von ihrem Lehrer deswegen ermahnt. Seit Kurzem gibt es einen neuen Sitzplan. Ihre beste Freundin sitzt nun nicht mehr neben ihr. Das macht es schwieriger, sich mit ihr zu unterhalten, klappt aber über die zwei Reihen trotzdem ganz gut.
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Wer oder was ist für die negativ wahrgenommene Lautstärke verantwortlich? Besteht bezüglich der Lautstärke tatsächlich ein Problem?
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Warum nutzt Eldar dieses feste Schema?
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Warum bewertet Eldar Gespräche/Unterhaltungen unter den Schüler*innen negativ?
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Sollte das Verhalten der Schüler*innen bestraft werden?
Besteht bezüglich der Lautstärke tatsächlich ein Problem?
Es ist anzunehmen, dass in einer leiseren Umgebung konzentriert(er) gearbeitet werden kann. Andererseits wird es auch Schüler*innen geben, die in einer ‘lauteren’ Umgebung genauso gut arbeiten können oder nebenbei gern Musik hören (Eine Studie von Drewes & Schemion 1991 konnte übrigens keinen signifikanten Einfluss von Musikhören während des Lernens auf Konzentration, Gedächtnisleistung und Textanalyse ausmachen. Jedoch fühlten sich die Probandt*innen, die ihre eigene Musik hören durften, während der Aufgabenbearbeitung am besten und haben eine höhere Wirksamkeit erfahren (“felt best and perceived the greatest efficacy while listening to their own music” (Drewes, Schemion 1991)).
Wenn sich mehrere Personen unterhalten bzw. kooperativ arbeiten, wird es automatisch zu einer gewissen Lautstärke kommen. Möglichkeiten des Umgangs sind, Arbeitsgruppen aus dem Raum zu verlagern, z. B. auf den Gang oder in ein anderes Zimmer oder einen Hörschutz anzubieten. Jede Sozialform wird eine andere Lautstärke nach sich ziehen. Ein Umgang wäre, den Schüler*innen zu verdeutlichen, in welcher Phase (Sozialform) gerade welcher Lautstärkepegel als angemessen gilt und gemeinsam mit den Schüler*innen Strategien zu entwickeln, wie eine angenehme Arbeitsatmosphäre für alle in jeder Sozialform hergestellt werden kann.
Wer oder was ist für die negativ wahrgenommene Lautstärke verantwortlich?
Das Fallbeispiel macht deutlich, dass der Unterricht lehrer*innenzentriert angelegt ist. Das heißt, dass die Strukturierung der Aneignung des Lerngegenstands vor allem aus der Perspektive und nach dem Plan der Lehrperson erfolgt. Dieser Plan entspricht im Beispiel nicht dem Plan der Schüler*innen: Sie haben keine Möglichkeit, sich den Lerngegenständen individuell zu nähern bzw. sich diese auf ihrem bevorzugten Weg anzueignen.
Entlang ihrer natürlichen Entwicklung würden die Schüler*innen/Lernenden miteinander in Austausch treten (Zone der nächsten Entwicklung). Diese Interaktion wird in dem im Fallbeispiel geschilderten Lehr-Lern-Setting gestört bzw. unterbunden. So wird der entwicklungslogische Austausch (Erklärvideos Lernen und Entwicklung) durch den lehrer*innenzentrierten Unterricht zum Problem. Würde Kooperation zwischen Schüler*innen von vornherein mitgedacht, gäbe es hier gar kein Problem.
Ein Fehlen dieses Austauschs wurde von Wolfgang Jantzen mit der Kategorie der Isolation (u.a. Jantzen 1979, 1987) beschrieben. Steffens (2019) definiert Isolation in Anlehnung an Jantzen „als Abwesenheit, Mangel, Störung oder Beeinträchtigung [des] lebensnotwendigen (sozialen) Austauschs mit der Umwelt“ (Steffens 2019: 55). Ist der Austausch des Menschen mit der Umwelt gehemmt oder gar nicht möglich, können Lernen und somit Entwicklung nicht stattfinden. Isolation ist dabei weder ausschließlich auf Seiten des Individuums noch auf Seiten der Umwelt bzw. einer bestimmten Situation zu suchen. (Jantzen 1980). Isolation ist als ein Verhältnis zwischen Situation und Individuum zu verstehen.
Es ist darauf hinzuweisen, dass nicht jede isolierende Bedingung zu einer Isolation führt. Isolierende Bedingungen können ein "zu wenig" (sensorische Deprivation), ein "zu viel" (Überstimulation) an Reizen sein oder sich in widersprüchlichen Informationen (double binds) niederschlagen. Wenn, wie im Beispiel, die Schüler*innen keine Möglichkeit des Austauschs miteinander haben, versuchen sie, diesen trotzdem herzustellen, weil es entwicklungslogisch ist und sie diesen Austausch zum Lernen benötigen.
In Lehr-Lern-Kontexten sollte also gelten: Isolation erkennen, verstehen und vermeiden. Dieses Vorgehen kann als eine Stellschraube für die Gestaltung inklusionssensibler Lernumgebungen fungieren (Jugel & Steffens 2019, Langner & Jugel 2019; Friebel, Matusche, Wesemeyer 2022). Indikatoren, die Isolation aus der Außenperspektive erkennen lassen, sind Verhaltensweisen, die Kompensationsformen genannt werden. Steffens (2019) hat diese Kompensationsformen systematisiert, sodass sie für diagnostische Prozesse in Lehr-Lern-Kontexten (Erklärvideo zur Verstehenden Perspektive) genutzt werden können. Im Identifizieren möglicher Kompensationsformen liegt ein Schlüssel zur Gestaltung inklusionssensibler Lehr-Lern-Settings. Lesen Sie unter “Störungen” neu deuten”, welche Verhaltensweisen auf Isolation hinweisen.
Warum nutzt Eldar dieses feste Schema?
Das Schema nach Einstieg, Erarbeitung und Ergebnissicherung (Meyer 2016: 27f.) in einem abgesteckten Zeitrahmen von 45 oder 90 Minuten ist vielen geläufig. Dieses Vorgehen wird bspw. in schulpraktischen Übungen vorgegeben oder findet sich in einschlägigen Werken zur Unterrichtsvorbereitung (bspw. Meyer 2005, 2016).
Die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen dieses Schemas müssen in der Praxis jedoch nicht dem Lernprozess der Schüler*innen entsprechen. Das heißt, zu starre Planungen nach festen Mustern können in der Realität auf Abwehr bei den Lernenden stoßen. Wenn die Schüler*innen beispielsweise noch nicht bereit sind, aus einem hinführenden Gedankenexperiment in die Erarbeitung zu wechseln, können Reaktionen entstehen, die Lehrende dann als "Unterrichtsstörung" deuten.
Warum bewertet Eldar Gespräche/Unterhaltungen unter den Schüler*innen negativ?
Aus der “Visible Learning” Studie von Hattie (2009) geht hervor, dass Lehrpersonen im Unterricht den größeren Redeanteil haben als Schüler*innen. (Hattie 2009) Auch im Fallbeispiel hat Eldar den größten Gesprächsanteil im Unterricht. Dem gegenüber steht, dass es für die Lernenden entwicklungslogisch ist, miteinander in einen Austausch zu treten (Feuser 1989). Eldar bietet dafür keine Gelegenheiten. Kommt dann noch hinzu, dass das Thema (sowie dessen Aufbereitung und Darbietung) nicht an die Interessen und Aneignungsvorlieben der Lernenden anschlussfähig ist, sind "Unterrichtsstörungen" die Folge. Denn die Lernenden müssen sich Sinn und Bedeutung dann selbstständig erschließen. Dies gelingt am besten in Gesprächen, also Austausch-Gelegenheiten, die sich die Lernenden selbst schaffen. Folglich bewertet Eldar die Zwischengespräche negativ, obwohl sie zum Lernen dazugehören. Das soll nicht heißen, dass Schüler*innen die ganze Zeit reden sollen und dürfen. Es ist jedoch ein Hinweis für die Lehrperson, dass der Inhalt, die Methode und andere situative Bedingungen gerade nicht lernförderlich gestaltet sind. Der Fragenkatalog im Sinne einer Verstehenden Perspektive kann helfen, individuelle und lernförderliche Bedingungen zu schaffen.
Sollte das Verhalten der Schüler*innen bestraft werden?
Mit den Begriffen der operanten Konditionierung kann Bestrafung folgendermaßen definiert werden: “Bestrafung ist ein negativer Stimulus, der einem Verhalten folgt, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass das Verhalten erneut auftritt” (Siegler et al 2021: 499, mit Verweis auf Hineline, Rosales-Ruiz 2013). Es wird zwischen zwei Formen der Bestrafung unterschieden:
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“Darbietung des aversiven Reizes: In diesem Fall wird ein aversiver Reiz dargeboten, wie etwa bei der Schelte oder einem Tadel.
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Entfernen eines positiven Verstärkers. Im zweiten Fall wird ein positiver Verstärkerreiz entfernt; so verbannen Eltern etwa das Fernsehgerät aus dem Zimmer der Tochter oder des Sohnes oder entziehen den Kindern ein anderes Privileg” (Mietzel 2007: 164).
In dem Fallbeispiel entfernt die Lehrperson den positiven Verstärker, indem die sich unterhaltenden Schüler*innen auseinandergesetzt werden.
Mietzel (2007) verweist darauf, dass mit Bestrafungen versucht wird, ein Verhalten auszulöschen und es mit einer anderen, erwünschten Verhaltensweise zu ersetzen. Es kommt jedoch eher zu einer Unterdrückung des Verhaltens, statt einer Auslöschung (ebd.: 164), denn das Verhalten ist bereits im ‘Verhaltensrepertoire’ vorhanden (ebd.: 162). Es kommt hinzu, dass durch eine Bestrafung nicht aufgezeigt wird, welches Verhalten eigentlich erwünscht ist.
Zudem ziehen Bestrafungen eine Reihe negativer Folgen mit sich, die von Lehrpersonen so wahrscheinlich nicht beabsichtigt werden:
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Die Folge einer Bestrafung sind “stets negative emotionale Reaktionen” (ebd.: 165) bei den Empfänger*innen. Mögliche Reaktionen sind Ängstlichkeit oder Verärgerung (ebd.). Dass Lernen unter Angstzuständen jedoch nicht gelingen kann, können unter Unangenehme Stimmung hier nachlesen.
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Die negativen Gefühle, die durch die Bestrafung ausgelöst werden, können mit Merkmalen der Situation verknüpft werden. Sodann bilden sich aversive Gefühle, z. B. gegen Unterrichtsmaterialien, das Fach, die Lehrperson oder sogar die Schule (ebd.: 165).
Die gestellte Frage, ob das Verhalten bestraft werden sollte, lässt sich aufgrund der vorangestellten Ausführungen daher eher mit nein beantworten. Es wird geraten, die Lernausgangslagen der Schüler*innen zu diagnostizieren und die Interessen der Schüler*innen einzubeziehen.
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Habe ich Kooperationsphasen in meine Lehre eingebaut?
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Biete ich genug Raum, sodass die Lernenden die Lerngegenstände im Sinne ihrer individuellen Sinnstrukturen und Aneignungsvorlieben erkunden können?
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Weiß ich, wann es zu laut für einzelne Lernende/die Gruppe wird?
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Kann ich auf Materialien wie Sichtschutzwände oder Ohrenschutz zurückgreifen?
Routine-Falle
Struktur gibt Halt. Sie ist aber kein Erfolgsrezept für jede Lerngelegenheit. Lernwege sind individuell und können nicht immer in die gleiche Struktur gepresst werden. Tappen Sie nicht in die Routinefalle. Schränken Sie sich nicht selbst in Ihrer Flexibilität ein. Nehmen Sie den Lernenden anhand der immer gleichen Lernwege nicht die Motivation am Lernen.