Eselsbrücke?!
In der zurückliegenden Vorlesung wurde zur Veranschaulichung einer neu eingeführten Theorie ein Schema vorgestellt. Im Begleitseminar fällt der Lehrperson auf, dass die Studierenden weder die Begriffe des Schaubilds noch die Zusammenhänge wiedergeben können. Sie scheinen alles vergessen zu haben. Die Lehrperson weiß, dass diese Darstellung wichtig ist und auch häufig in der Klausur abgefragt wird. Daher erarbeitet sie zusammen mit den Studierenden eine Eselsbrücke. Nach der Sitzung fragt die Lehrperson, ob nun alles klar sei. Da sich niemand meldet, scheinen es alle verstanden zu haben.
Bei der Korrektur der Klausur kommt heraus, dass das Schema überwiegend korrekt wiedergegeben wurde. Jedoch konnte kaum jemand die Zusammenhänge und Bedeutung für die Fachdisziplin erklären.
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Wieso gab es von Anfang an Probleme mit dem Schema?
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Weshalb haben die Studierenden nichts gesagt, als sie nach ihrem Verständnis gefragt wurden?
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Warum hat die Eselsbrücke nur nicht geholfen?
Wieso gab es von Anfang an Probleme mit dem Schema?
Die Vorerfahrungen, Interessen und Bedürfnisse eines Menschen beeinflussen Lern- und Entwicklungsprozesse. Dies gilt auch für Schaubilder und andere Darstellungsformen (Jugel, Steffens 2019: 98). Sind diese nicht anschlussfähig für die Lernenden und bieten sie keine vielfältigen Zugänge für die Lebenswelten, Präkonzepte, individuellen Lernpfade und verschiedenen Aneignungsvorlieben der Lernenden, werden Lernen und Entwicklung erschwert (ebd. und Besand, Hölzel, Jugel 2019: 114). Die Anschlussfähigkeit sowie die Vielfältigkeit der Darstellung eines Lerngegenstandes ist somit sehr individuell und kann anhand der Verstehenden Perspektive nur vor dem Hintergrund einer realen Lerngruppe erschlossen werden. Der Fragenkatalog zur Verstehenden Perspektive kann bei einer inklusionssensiblen Differenzierung des Lerngegenstandes unterstützen.
Möglichkeiten zur Darstellung eines Lerngegenstands sind z. B. Memes, Gifs, Musikvideos, Kurzfilme, Serien, Filme, Mindmaps, Schaubilder, Diagramme, Tabellen, Experimente, Poster, Karikaturen, Simulationen, Post- oder Bildkarten und vieles mehr. Methoden, die die Vielfalt von Perspektiven auf einen Lerngegenstand sichtbar machen, sind beispielsweise der Galleriespaziergang (Gallery Walk), das Bilder-Kiosk oder ein Moodboard.
Neben Vielfältigkeit und Anschlussfähigkeit gibt es weitere Kriterien, die Anschauungsmaterialien für die Aneignung qualifizieren bzw. ungeeignet werden lassen. Beispielsweise gilt die von Meyer (2003: 37 f, 2004) und Helmke (2012: 190) herausgearbeitete Kategorie Klarheit auch für Darstellungsformen. Doch auch Klarheit ist nicht für jede lernende Person auf gleichem Wege zu erreichen. Die folgenden Klarheit unterstützenden Punkte sind daher ebenfalls sehr individuell in Wahrnehmung, Umsetzung und Wirkung:
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Barrierearmut in der Veranschaulichung,
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Übersichtlichkeit durch Komplexitätsreduktion,
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Möglichkeit zu progressiver Ausdifferenzierung geben,
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Aufmerksamkeitserzeugung, -lenkung und -erhaltung auf Relevantes (Brand, Markowitsch 2015: 333)
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bewusster und maßvoller Einsatz von Farben, Formen, Schrift und Bild,
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Kooperation (Pitsch, Thümmel 2014: 8; Steffens 2019: 42; Jugel, Steffens 2019: 81) anhand des Sprechens über Darstellungen oder des gemeinsamen Analysierens von Veranschaulichungen,
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nicht zuletzt Umsetzung von Korrektheit und Stringenz sowie
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Vermeidung von Redundanz in der Darstellung
Im vorliegenden Fall lag vermutlich eine Verkettung aus zu wenig Passung des Schemas zum Vorwissen, zu den Lebenswelten und zu den Aneignungsvorlieben der Lernenden vor. Außerdem wurde nur ein Schema angeboten. Vielfältige Auseinandersetzungsformen waren somit nicht möglich. Die Studierenden hätten beispielsweise aus der eingeführten Theorie selbstständig oder in Kooperation Schaubilder entwickeln und diese im Anschluss mit dem angebotenen Schema vergleichen können. So hätte der Aneignungsprozess individualisiert und als Ergebnissicherung Verständnislücken identifiziert werden können.
Zusätzliche Hindernisse für die Aneignung könnten durch fehlende Klarheit hervorgerufen worden sein. Evtl. war das Schema zu unübersichtlich, zu komplex, nicht barrierearm oder überfrachtet mit Bildern, Schrift, Farben und Formen. Auch die Möglichkeit zur Kooperation scheint in Vorlesung und Seminar nicht wirklich gegeben gewesen zu sein.
Weshalb haben die Studierenden nichts gesagt, als sie nach ihrem Verständnis gefragt wurden?
Dies können nur die Studierenden beantworten. Jedoch kann im Allgemeinen davon ausgegangen werden, dass vor allem Fragen wie: ""Haben Sie noch Ergänzungen hierzu? Was fällt Ihnen hierzu ein?" und "Haben Sie noch Fragen? Ist Ihnen noch was unklar?"” (Richter Podcast Dual hört zu. Theorie, Praxis, Transfer.) wenig Reaktionen bei den Lernenden erzeugen (ebd.). Dies liegt beispielsweise daran, dass diese Fragen häufig gestellt werden, nachdem den Lernenden viel Neues präsentiert wurde. Die neuen Eindrücke sofort zu ergänzen oder Fragen dazu zu formulieren, ist hochkomplex und gelingt den Wenigsten auf Anhieb. Zudem sind diese Fragen sehr offen gestellt. Klare Bezüge zu den Inhalten können das Antworten vereinfachen. Weitere Hinweise zum Stellen gelungener Fragen finden Sie im Punkt Kommunizieren.
Warum hat die Eselsbrücke nur nicht geholfen?
Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass Eselsbrücken sehr individuell sind. Denn nicht jeder Mensch kann anhand von ihnen Sinn und Bedeutung konstruieren und somit lernen. Weiterhin sind die Zugänge zu Sinn und Bedeutung sehr individuell (Jugel, Steffens 2019: 96; Leont’ev 2013: 196f), wodurch ein und dieselbe Eselsbrücke nicht für alle als Merkhilfe sinnvoll und einprägsam sein kann.
Zum anderen zeigt sich am Fallbeispiel, dass die Eselsbrücke zwar beim Einprägen des Schemas geholfen hat. Jedoch schien die Theorie in ihrer Darstellung nicht anschlussfähig an die Konzepte der Lernenden zu sein. So konnten die Zusammenhänge und Bedeutungen der einzelnen Begriffe des Schemas nicht verinnerlicht werden. Dies könnte in unterschiedlichen Komplexitätsgraden begründet sein. Für einfachere Merkaufgaben wie das Auswendiglernen einer grafischen Darstellung hat die Eselsbrücke vielen Studierenden genug Unterstützung geboten. Für die komplexe Aufgabe, das Schema, seine Begriffe, deren Zusammenhänge und Bedeutung auszuformulieren, ist jedoch ein tieferes Verständnis der Darstellung nötig. Die zwei Aufgaben (Wiedergeben und Erläutern des Schemas) beinhalten eine gelungene Komplexitätssteigerung. Das Problem ist daher nicht die Prüfungsaufgabe, sondern die unpassende Vorbereitung anhand einer Eselsbrücke. Der wissensorientierte Ansatz der Lehrperson mittels einer Eselsbrücke ist ein typisches Phänomen des sogenannten Bulimielernens. Eine beklagenswerte Erscheinung unserer heutigen Leistungsgesellschaft, bei der Wissen schnell angeeignet, angewendet und sehr bald auch wieder vergessen wird. Nachhaltiges Lernen und die Verinnerlichung von komplexen Zusammenhängen und Theorien bedarf jedoch folgender Aspekte:
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Identifizieren der Vorerfahrungen, Präkonzepte und Bedürfnisse der Lernenden durch die Übernahme einer Verstehenden Perspektive
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Ausdifferenzierung des Lerngegenstandes und damit Entwicklung verschiedener Formen der Aneignung und individueller Lernpfade
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Schaffung gemeinsamer Diskussions- und Austauschräume zur Konstruktion von Sinn und Bedeutung sowie gemeinsamer Erkenntnisse
Zwar bemerkte die Lernperson, dass Lernhemmnisse bei den Studierenden vorlagen und unterbreitete ein Zusatzangebot. Jedoch ging dies an den Lernenden vorbei. Die Lernhemmnisse hätten daher genauer identifiziert werden müssen:
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Welche konkreten Lücken bestehen für die einzelnen Studierenden zwischen Theorie, Schaubild und Vorwissen?
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Was ist bekannt und wozu gibt es Fragen?
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Welche Konzepte sind zum Verständnis der Theorie notwendig und welche Präkonzepte existieren diesbezüglich bei den Lernenden?
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Wie würden die Lernenden die Theorie in einem Schaubild umsetzen?
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Welche Bedeutung haben die Theorie und deren schematische Darstellung für die Fachwissenschaft?
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Welche unterschiedlichen Erklärungsansätze für gesellschaftliche Phänomene bietet die Theorie an?
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Welche Theorien werden durch sie ergänzt und wozu steht sie im Widerspruch?
So hätten Probleme erkannt und zielgerichtet bearbeitet werden können. Außerdem wäre die Aushandlung von Sinn und Bedeutung im Gespräch sowie die Aneignung entlang individueller Lernpfade möglich geworden. Eine Differenzierung des Lerngegenstandes ist entlang der Bedürfnisse und Fragen der Lernenden für die Verinnerlichung und somit für Lernen und Entwicklung ebenfalls notwendig.
Besonders für Lehramtsstudierende kann die fehlende Konstruktion von Sinn und Bedeutung in den Fachwissenschaften negative Konsequenzen für ihre Ausbildung sowie für ihre spätere Tätigkeit als Lehrperson mit sich bringen. Lesen Sie dazu mehr im Fall “Keine Praxisrelevanz”.
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Welche Darstellungsformen des Lerngegenstandes biete ich an und in welcher Form können Lernende eigene Anschauungsmaterialien einbringen?
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Wie differenziere ich die Möglichkeiten zur Aneignung des Gegenstandes?
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Inwieweit berücksichtige ich bei der Veranschaulichung des Lerngegenstandes folgende Aspekte:
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Anschlussfähigkeit an die Vorerfahrungen, Interessen, Bedürfnisse, Lebenswelten und Aneignungsvorlieben der konkreten Lernenden
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Übersichtlichkeit
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maßvolle Hervorhebung von Relevantem
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Erzeugung, Lekung und Erhaltung der Aufmerksamkeit
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Korrektheit, Stringenz und möglichst wenig Redundanz?
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Inwieweit gebe ich den Lernenden Raum zur Kooperation und zum Austausch über die Darstellung?
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Liegt es an meiner Fragestellung, dass die Lernenden nicht antworten oder ist tatsächlich alles klar?
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Inwiefern sind die Prüfungsvorbereitung und die Anforderungen der Prüfung aufeinander abgestimmt?
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In welcher Form gebe ich den Lernenden Raum zur individuellen und gemeinsamen Erschließung von Sinn und Bedeutung?
Wissensfallen
Als Lehrperson haben Sie den Lernenden einen gewissen Wissensvorsprung, sowohl hinsichtlich spezifischer Fakten und Begrifflichkeiten als auch mit Blick auf Zusammenhänge. Das kann schnell dazu führen, dass Erklärungen komplexer Zusammenhänge zu kurz kommen, da sie aus Ihrer Sicht unnötig Zeit in Anspruch nehmen. Die Lernenden sind jedoch noch dabei, dieses Wissen aufzubauen.
Erfahrungsfalle
Mit Wissensvorsprüngen geht oftmals auch ein größerer Erfahrungsschatz einher, vor allem hinsichtlich der Anwendung und Vertiefung von angeignetem Wissen. Das ermöglicht Ihnen, komplexe Sachverhalten greifen und erklären zu können. Die Lernenden hatten diese Zeit und die Erfahrungen dahingegen noch nicht. Auch können Lernstrategien, mit denen Sie gute Erfahrungen gemacht haben, nicht auf die Lernenden zutreffen. Erfahrung kann hilfreich sein, darf jedoch nicht zum alleinigen Maßstab werden.