Aneignungsformen
Aneignungsformen beschreiben die Art und Weise, wie neues Wissen und neue Fähigkeiten verinnerlicht werden. Im Sinne der Psychologie können Wissen und Fähigkeiten auch allgemein als Informationen verstanden werden, die im Lernprozess aufgenommen und angeeignet werden (Kracke 2012: 36).
“Informationen nehmen wir über unsere Sinneskanäle auf: wir hören, sehen, schmecken, ertasten die Umwelt und versuchen den Sinn oder die Bedeutung einer Information zu verstehen und dies in unser Gedächtnis einzubauen. Dabei wird das Gedächtnis als ein großes Wissensnetz verstanden ("semantisches Netzwerk"), in dem Informationen miteinander verbunden sind” (Kracke 2012: 36).
Auch das Lesen von Texten oder das Zuhören von Lehrpersonen ist in erster Linie Wahrnehmung über Sinne (sehen, hören). Das, was an Informationen aufgenommen wurde, wird dann kognitiv verarbeitet und in das bestehende Wissensnetzwerk integriert (ebd.). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das Neue anschlussfähig an bereits verinnerlichte Informationen (also Wissen und Fähigkeiten) ist (Jugel, Steffens 2019: 98). Es muss in das bestehende Wissensnetz integrierbar sein (Kracke 2012: 37). Aneignungsformen leiten sich aus dem Modell der “führenden Tätigkeit” nach Leontjew (1973) ab (ebd.). Autor*innen verschiedener Professionen beziehen sich auf diese vier Formen. Sie eignen sich für vielfaltssensible Angebote, da sie im Kern alle möglichen Formen der Aneignung beinhalten und auf grundsätzliche Tätigkeiten reduzieren. Werden Lerngegenstände entlang dieser Formen aufbereitet, ermöglicht das den Lernenden, die individuelle Wahl passender Zugänge sowie die Aneignung über verschiedene Ebenen hinweg.
Die Ebenen stehen dabei nicht hierarchisch übereinander. Sie können “in ihren Merkmalen, nicht in ihrem Wert – unterschieden werden. Sie sind altersübergreifend und erlauben keine Rückschlüsse auf das Lebensalter der Schülerinnen und Schüler” (Bildungsplan 2009: 14).
Verschiedene Formen der Aneignung werden von allen Menschen in Lernprozessen immer wieder durchlaufen, egal welche Zugänge Menschen bereits zu bspw. abstrakten Darstellungen (Kunstwerke, Modelle) haben. Jede praktische, handelnde Tätigkeit bleibt bedeutsam für Lernprozesse. Denn verschiedene Zugänge unterstützen die Entwicklung eines vielfältigen, ganzheitlichen Bilds über den Lerngegenstand (Kracke 2012: 41).
basal-perzeptive bzw. wahrnehmende und manipulative Tätigkeit
Bei dieser Form erkunden Lernende, oftmals nicht zielgerichtet, die Umwelt und nehmen den Gegenstand mit unterschiedlichen Sinnen wahr. Das bedeutet, ein Lerngegenstand wird durch riechen, schmecken, hören, sehen und/ oder fühlen wahrgenommen (Bildungsplan 2009: 14). Aber auch spielerische Bewegungen, auch im Sinne der Körperwahrnehmung, und Versuche (nicht zielgerichtetes Experimentieren) zählen zu dieser Aneignungsvorliebe (ebd.; Franz, Trumpa 2013: 59).
Annäherungsfragen:
- Wie riecht etwas?
- Wie fühlt sich die Oberfläche an?
- Aus welchen Materialien besteht der Gegenstand?
- Wann und wie verändert sich dieser Gegenstand?
- Wie kann ich den Gegenstand bearbeiten?
- Welche Geräusche gibt der Gegenstand von sich?
- Was kann ich sehen?
- Verändert sich der Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven?
konkret-gegenständliche bzw. handelnde Tätigkeit
Bei dieser Form setzen sich Lernende in einer aktiven Handlung mit Gegenständen, Personen und der Umwelt auseinander (Franz, Trumpa 2013:59). Diese Handlungen sind zielgerichtet, geplant und entsprechen oft der gesellschaftlichen Nutzung des Gegenstands. Erkundet werden auch Auswirkungen der eigenen Handlung auf die Umwelt (Bildungsplan 2009: 14).
“Dazu gehören aber nicht nur fassbare Konzepte unbelebter Gegenstände wie auch belebte Wesen, sondern auch abstrakte kulturelle und gesellschaftliche Prozesse und deren Wirkungen und Effekte, die durch Handlung erfahrbar werden” (Jugel, Milker 2022: 172).
Annäherungsfragen
- Wie kann ich den Gegenstand nutzen und zu welchem Zweck?
- Wer nutzt den Gegenstand und wer nicht?
- Welche Handlungen werden mit dem Gegenstand (nicht) erwartet?
- Wie reagiert meine Umwelt, wenn ich den Gegenstand benutze?
- Welche Auswirkungen hat die Benutzung des Gegenstands auf meine Umwelt?
anschauliche bzw. symbolisch und spielerische Tätigkeit
In dieser Form setzen sich Lernende mit bildlichen Darstellungen des Gegenstands auseinander (Bildungsplan 2009: 14). Zum einen, indem sie sich z.B. mit Abbildern oder Modellen des Gegenstandes befassen. Zum anderen erfolgt eine bildliche Auseinandersetzung, wenn sie selbst Abbildungen entwickeln, durch bspw. Zeichnungen oder Rollenspiele (ebd.).
Annäherungsfragen:
- Welche Darstellung des Gegenstandes gibt es (performativ, grafisch, modellhaft etc.)?
- In welchen Formen lässt sich der Gegenstand (außerdem) darstellen und in welchen nicht (warum)?
- Welchen Zweck können verschiedene Darstellungen erfüllen?
- Welche Wirkungen haben verschiedene Darstellungen?
- Welche Eigenschaften oder Informationen sind in der Darstellung des Gegenstandes (nicht) enthalten?
- Was wird für eine Darstellung des Gegenstandes benötigt?
- Welche Information soll über die Darstellung vermittelt werden und wie wird das erreicht?
abstrakt-begriffliche bzw. gedankliche Tätigkeit
Bei dieser Aneignungsform befassen sich die Lernenden rein mit abstrakten sowie symbolischen Darstellungen des Gegenstands. Das können Symbole oder Texte sein (Franz, Trumpa 2013:59). Erkenntnisse werden auf einer vorrangig gedanklichen Ebene gewonnen (Bildungsplan 2009: 14). Die verinnerlichten Informationen können dann wiederum auf verschiedenen Ebenen (gedanklich, handelnd etc.) genutzt werden.
Annäherungsfragen:
- Wie kann der Gegenstand beschrieben werden und welche Worte braucht es dafür?
- Welches Wissen und welche Informationen braucht die Beschreibung des Gegenstandes (bspw. Fachbegriffe)?
- Welches Bild habe ich bei dem Gegenstand im Kopf?
- Wann und wozu werden diese Darstellungen genutzt?
- Welche Wirkung hat die symbolische, abstrakte Darstellung?
- Welche Informationen werden durch diese Darstellung vermittelt und welche nicht?
- Welche möglichen, unterschiedlichen Interpretationen und Vorstellungen des Gegenstandes kann es durch die Darstellung geben?