Verstärkung von historischen Stahlbetonkonstruktionen (D806)
Allgemeine Angaben:
- Diplomarbeit Nr. D806
- Bearbeiter: Steffen Kowalick
- Verantwortl. Hochschullehrer: Univ.-Prof. Dr.-Ing. Manfred Curbach
- Betreuer: Dr.Ing. Frank Jesse
- Bearbeitungszeitraum: 11/2001-03/2002
Thesen
- Die Entwicklung der Anwendung des Stahlbetons für Baukonstruktionen beginnt Mitte des 19.Jahrhunderts und unterliegt seit dieser Zeit ständigen Veränderungen aufgrund der stetig hinzukommenden wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Die ersten Bemessungsmethoden entwickelten sich Ende des 19.Jahrhunderts aus den damals von verschiedenen Ingenieuren gleichzeitig aufgestellten Stahlbetontheorien. - Als Beginn der Aufstellung von allgemeinverbindlichen technischen Regeln (Normung) kann das Jahr 1904 angesehen werden.
- In Deutschland wird die Biegebemessung von 1904 bis 1962 (DDR) bzw. 1972 (BRD) durch das n-Verfahren geprägt, obwohl bereits seit den 30er Jahren von mehreren Ingenieuren Traglastverfahren vorgeschlagen worden sind.
- Bei der Schubbemessung spielt die Mörsch’sche Fachwerksanalogie seit dem Anfang des 20.Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Seine Fachwerkanalogie hat sich zum Standardverfahren für die Schubbemessung entwickelt und unterlag in der BRD bis 1972 keiner wesentlichen Veränderung.
- Die Vorschriften über Lastannahme haben sich bis auf wenige Ausnahmen im Laufe des betrachteten Zeitraumes nur unwesentlich geändert. Lediglich die Annahmen für Verkehrslasten aufgrund der noch nicht verbindlichen Normfassungen des EC 1 bzw. der DIN 1055-3 können geringe Abweichungen aufweisen.
- Die aktuelle Tragfähigkeit historischer Tragkonstruktionen aus Stahlbeton hängt nicht vordergründig von dem Bemessungsverfahren ab, nach dem das Tragwerk zum Zeitpunkt der Errichtung berechnet worden ist. Allgemein kann man sagen, dass für die meisten historischen Konstruktionen, die nach den damals gültigen Normen richtig bemessen wurden, aus statistischer Sicht (Stahlmenge, Nutzhöhe) bei gleicher Belastung die Biegetragfähigkeit auch nach den Regeln der DIN 1045-1 gegeben hat.
- Bedeutender ist die Frage nach den konstruktiven Regeln, die zum Zeitpunkt der Errichtung durch Normung vorgegeben waren. Dabei muss man davon ausgehen, dass besonders Konstruktionen aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts wegen des Mangels an ausreichenden Regeln gravierende, konstruktive Fehler aufweisen können. Insbesondere die Schubtragfähigkeit historischer Stahlbetonkonstruktionen bis 1925 kann aufgrund der in der Norm fehlenden Regeln erhebliche Defizite aufweisen.
Im selben Zusammenhang sind auch die Probleme der Zugkraftdeckung und der Verankerung der Zugbewehrung zu betrachten. - Die Probleme der historischen Normen betreffen nicht vordergründig das Vorhandensein von möglicherweise falschen Regeln, sondern eher das Fehlen von Regeln zu wichtigen konstruktiven Details. Ein Sanierungs- bzw. Ertüchtigungsbedarf wird sich deshalb selten wegen unzureichender Menge der Biegebewehrung – die auf Grund der aktuell gültigen Bemessungsvorschriften errechnet worden ist – ergeben, sondern überwiegend wegen konstruktiver Fehler, deren Umfang wegen des Mangels an wichtigen konstruktiven Regeln stärker als heute von den individuellen Fähigkeiten des entwerfenden Ingenieur oder bauausführenden Unternehmers abhängig war.
Ziel
Bei der Sanierung und Ertüchtigung von historischen Stahlbetontragwerken sind nicht nur die Kenntnisse der zur Zeit gültigen Normen, sondern auch umfangreiches Wissen über die historischen Vorschriften notwendig. Um die Schwachstellen historischer Konstruktionen zu erkennen, kann das Wissen um ihre Entstehung von großem Nutzen sein. Zu diesem Zweck wird in dieser Arbeit die Entwicklungsgeschichte der Stahlbetonbauweise in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts näher betrachtet. Analysiert wird die Entwicklung der Bemessungsvorschriften sowie der konstruktiven Regeln. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse kann die Bewertung der Tragfähigkeit historischer Konstruktionen nach DIN 1045-1 und die Erkennung ihrer Schwachstellen erleichtert werden. Aus der großen Vielzahl ausgeführter Deckensysteme werden für vergleichende Berechnungen die Stahlbetonvollplatten und Stalbeton- bzw. Plattenbalken mit Rundstahl-Einzelbewehrung ausgewählt.
Vorgehensweise
In der vorliegenden Arbeit werden zunächst die geschichtliche Entwicklung der Stahlbetonbauweise sowie die Entwicklung der Normung zum Entwurf beschrieben. Gemäß Vorgabe ist dabei hauptsächlich die Entwicklung zwischen 1904 und 1972 betrachtet worden. Das Augenmerk wurde auf die verschiedenen Methoden und Regelungen zur Biege- und Schubbemessung sowie auf die Entwicklung der Regelungen der konstruktiven Durchbildung der Stahlbetonbauteile gelegt.
Es wird gezeigt, dass die theoretischen Grundlagen für das bis 1962 einheitlich in Deutschland angewendete n-Verfahren bereits 1904 bekannt waren und dieses Verfahren seit dieser Zeit praktisch unverändert angewendet worden ist.
Bezüglich der Normen zu den Lastannahmen wurden die zu erwartende künftige Normenentwicklung einbezogen, so dass für die Nachrechnung nach DIN 1045-1 der Entwurf zur neuen DIN 1055 verwendet wurde.
Bewertung
In der Arbeit wurde gezeigt, dass die Frage nach dem Sanierungs- bzw. Ertüchtigungsbedarf von historischen Stahlbetonkonstruktionen nicht vordergründig anhand der Methoden der jeweils zum Zeitpunkt der Errichtung angewendeten Methoden der Biegebemessung beantwortet werden kann.
In den Beispielrechnungen mit den, für den jeweiligen Zeitabschnitt typischen, Abmessungen wurde gezeigt, dass jeweils regelgerecht berechnete Stahlbetonkonstruktionen – allein unter dem Aspekt der Menge der Biegebewehrung betrachtet – in der Regel auch den heutigen Anforderungen an die Tragfähigkeit genügen müssten.
Ansonsten sind gravierend falsche Regelungen (mit Ausnahme der Betondeckung) in den historischen Normen nicht gefunden worden. Das Hauptproblem besteht darin, dass nach heutigem Verständnis zwingend notwendige Regelungen erst schrittweise in die Normen aufgenommen worden sind.
Zu wichtigen konstruktiven Problemen der Bewehrungsführung hing es also allein vom Geschick des Ingenieurs ab, wie er die zu seiner Zeit noch nicht geregelten Details gelöst hat. Das ist der Grund dafür, dass typische Fehler nicht nur an den Regelungen der Normen festgemacht werden können, sondern auch an den, für den Zeitabschnitt charakteristischen, Ausführungsarten. Hinsichtlich solcher Defizite historischer Konstruktionen ist in der Praxis also die Untersuchung am konkreten Bauwerk unumgänglich.