Aug 21, 2020
Neue Veröffentlichungen des SFB 1285: Invektivität
Der Sonderforschungsbereich 1285: "Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung" erforscht an der TU Dresden seit 2017 in 13 interdisziplinären Teilprojekten Phänomene der Schmähung, Beleidigung und Herabsetzung von der Antike bis heute. In den letzten Monaten sind folgende SFB-Veröffentlichungen erschienen:
Monographien
Jan-Philipp Kruse / Sabine Müller-Mall (Hgg.): "Digitale Transformationen der Öffentlichkeit". Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2020.
Die Sphäre der Öffentlichkeit wandelt sich massiv und rasant. Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten vervielfältigen sich unter digitalen Bedingungen. Wir begegnen »Trollen«, die Diskurse sabotieren, oder »Stürmen« invektiver Entrüstung, versammeln Wissen oder biographische Welten in »Clouds«, die über die alte Unterscheidung von öffentlich und privat gleichsam hinwegschweben, und wir bilden merkwürdige »Blasen«, in denen sich Meinungen und Affekte zu Eskalationsdynamiken aufschaukeln. Solche Phänomene erscheinen als Elemente eines Wandels, der mit neuen Medien, Formaten und Konventionen einhergeht und sich insofern als tiefgreifende, strukturelle Transformation darstellt. Die Beiträge des vorliegenden Bands fragen aus verschiedenen Perspektiven zwischen Geistes-, Gesellschafts- und Rechtswissenschaft danach, welche Folgen diese Transformation für den Begriff von Öffentlichkeit haben muss: Wie, in welchem Rahmen, mit welchen Prämissen, Konzepten und Methoden lässt sich heute exemplarisch über Öffentlichkeit nachdenken – im Hinblick auf deren normative Implikationen, aber auch ihr Verhältnis zu Politik, Recht, zur Wahrheit und zur Dimension der Affekte?
Zur Buchvorstellung beim Verlag Velbrück Wissenschaft.
Lars Koch / Torsten König (Hgg.): "Zwischen Feindsetzung und Selbstviktimisierung. Gefühlspolitik und Ästhetik populistischer Kommunikation". Frankfurt / New York: Campus Verlag 2020.
Populistische Kommunikation ist geprägt durch Rhetoriken, Bilder, Dramaturgien und Inszenierungsweisen, die auf die Affekte und Gefühle ihrer Adressaten zielen. Dieser Band nimmt die medienästhetische und performative Dimension zeitgenössischer und historischer Varianten des Populismus in den Blick. Die Beiträge analysieren die Formatierungen populistischer Kommunikationsakte in sozialen Netzwerken, in Nachrichtenmedien, Kinofilmen und populären Fernseh- bzw. Internetformaten im Spannungsfeld von Feindsetzung und Selbstviktimisierung.
Zur Buchvorstellung beim Campusverlag.
Martin Jehne: Freud und Leid römischer Senatoren. Invektivarenen in Republik und Kaiserzeit. Karl-Christ-Preis für Alte Geschichte - Band 4, herausgegeben von Hartmut Leppin, Stefan Rebenich und Andreas Rödder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020.
Im Jahr 2019 wurde Martin Jehne, Prof. für Alte Geschichte an der TU Dresden und Leiter des SFB-Teilprojekts A, der Karl-Christ-Preis verliehen. Die Rede des Preisträgers ist in diesem Band zusammen mit der Laudatio von Hartmut Leppin veröffentlicht. Aus Martin Jehnes Resümee: „Die römischen Arenen waren so strukturiert, dass vor allem Senatoren Opfer von Schmähungen und Herabsetzungen waren. Ob Theater, Volksversammlung, Senat – Gericht – die Invektierten waren fast immer Senatoren [...]. Was man brauchte, um im römischen Milieu zu bestehen, das war Invektivrobustheit. Man musste Kränkungen aushalten können und bei passender Gelegenheit mit gleicher Münze zurückzahlen.“
Zur Buchvorstellung beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
Zeitschriftenausgaben
"Invektive Spaltungen? Dynamiken der Schmähung von der Antike bis zur Gegenwart“ - Saeculum 70.1 (2020)
„Invektive Spaltungen? Exkludierende und inkludierende Dynamiken von Schmähungen von der Antike bis zur Zeitgeschichte“ lautete der Titel einer Sektion des 52. Historikertags im September 2018 in Münster, die von Dagmar Ellerbrock, Gerd Schwerhoff und Martin Jehne (TU Dresden / SFB 1285) organisiert wurde und deren Vorträge, nun ausgearbeitet, im aktuellen Themenheft von „Saeculum“ präsentiert werden. Mit vertreten sind u.a. die SFB-Beiträge von Dagmar Ellerbrock und Gerd Schwerhoff: "Spaltung, die zusammenhält? Invektivität als produktive Kraft in der Geschichte" sowie Martin Jehne: "Die Dickfelligkeit der Elite und die Dünnhäutigkeit des Volkes. Invektivkonstellationen in römischen Volksversammlungen".
Zur Online-Ausgabe von Saeculum 70.1 (2020).
"Control Societies I: Media, Culture, Technology" - Coils of the Serpent 5 (2020), Special Issue
Zum 30-jährigen Jubiläum von Gilles Deleuzes Essay „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ ist im Online-Magazin Coils of the Serpent: Journal for the Study of Contemporary Power ein Themenheft erschienen, das den Text auf seine aktuelle medien- und kulturwissenschaftliche Relevanz befragt. Herausgeber des Heftes sind Simon Schleusener (FU Berlin), der bis vor kurzem eine Vertretungsstelle im Teilprojekt K: „Theater der Diskriminierung“ des SFB 1285 innehatte, und Florian Cord, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kulturstudien Großbritanniens der TU Dresden angestellt ist. Die in dem Heft versammelten Aufsätze befassen sich mit Fragen der Kontrolle im Spannungsfeld aktueller medialer, kultureller und technologischer Entwicklungen. Im Heft finden sich u.a. die SFB-Beiträge Florian Cord / Simon Schleusener: "Navigating the Coils of the Serpent" und Tanja Prokić: "Post, Like, Share, Submit. Visual Control and the Digital Image (13 Theses)".
Zur Online-Ausgabe von Coils of the Serpent 5 (OPEN ACCESS).
"Agency und Invektivität in zeitgenössischen italienischen Migrationserzählungen: Kino und Literatur" - Philologie im Netz, Beiheft 20/2020
Das PhiN-Beiheft ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zweier italianistischer Forschungsprojekte, die sich gegenwärtig mit filmischen wie literarischen Migrationserzählungen aus Italien befassen. Das Innsbrucker FWF-Projekt „Cinema of Migration in Italy since 1990“ sowie das Dresdner SFB 1285-Teilprojekt M: „Invektivität in literarischen und filmischen Darstellungen von Migration im Italien des 20./21. Jahrhunderts“ legen hier einen Einblick in die jeweilige Projektarbeit vor, die sich dem gemeinsamen Thema aus unterschiedlichen Richtungen annähert. Während das Innsbrucker Kino-Projekt den italienischen Migrationsfilm seit 1990 über den analytischen Zugang der agency in den Blick nimmt, fokussiert das Dresdner Projekt neben Migrationsfilmen auch Migrationsliteratur, die jeweils über das analytische Konzept der Invektivität aufgeschlossen werden. Mit vertreten sind u.a. die SFB-Beiträge von Sabine Schrader und Elisabeth Tiller: "Migration nach Italien: Handlungsfähigkeit und Dynamiken der Herabsetzung in Literatur und Film. Eine Einleitung", Elisabeth Tiller: "Invektivität und Migration: Konstellationen in Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016)", Gabriel Deinzer: "Die narrative Modellierung medieninduzierter Invektivität in Mohsen Mellitis Io, l′altro (2007)" sowie Franziska Teckentrup: "′Il razzista non sorride′ – Das Komische als Vermittlungsmodus invektiver Dynamiken in Amara Lakhous′ Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio"
Zur Online-Ausgabe von Philologie im Netz, Beiheft 20/2020 (OPEN ACCESS).
Aufsätze
Gerd Schwerhoff: "Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept". In: Historische Zeitschrift 311.1 (2020), S. 1-36.
Der Beitrag nimmt die historischen Dimensionen der Herabsetzung in den Blick und plädiert für das Konzept der „Invektivität“ als Instrument umfassender Analyse: Invektivität soll dabei jene Aspekte von Kommunikation bezeichnen, die dazu geeignet sind, Personen oder Gruppen herabzusetzen, zu verletzen oder auszugrenzen. Dabei wird der Schlüssel für die Bedeutungen invektiver Kommunikation nicht in der Motivation einzelner Sprecher gesucht, sondern diese konstituieren sich im Kraftfeld einer triadischen Konstellation von Akteuren (Beleidiger, Beleidigter und Publikum) und werden entscheidend vom Kontext sowie von der Anschlusskommunikation bestimmt. Diese Beobachtung und weitere im Beitrag aufgeführte Charakteristika von Invektivität führen zu dem Schluss, dass Invektivität in Geschichte und Gegenwart enorme gesellschaftliche Funktionen entfaltet und nicht nur destruktives Potential besitzt, sondern auch eine produktive, gruppen- und gesellschaftsbildende Kraft. Im letzten Teil des Beitrages wird das Konzept exemplarisch im Hinblick auf die Person Martin Luthers und das Problem der Öffentlichkeit im Reformationszeitalter erprobt.
Zur Online-Ausgabe des Aufsatzes in der Historischen Zeitschrift 311.1 (2020).
Jan Siegemund: "unrechtliche peinliche schmehung oder dem gemeinen nutz nuetzlich? Eine Fallstudie zur Normenkonkurrenz im Schmähschriftprozess des 16. Jahrhunderts". In: Das Mittelalter 25.1 (2020), S. 135-149.
Schmähschriften spielten eine wichtige Rolle in der Konfliktkultur der europäischen Frühen Neuzeit. Der Artikel diskutiert ihre sozialen Funktionen und die Art ihrer Behandlung im Strafprozess. Anhand einer Fallstudie werden Spielräume und Fluchtpunkte der Argumentation sowie unterschiedliche Referenzebenen in kursächsischen Schmähschriftenprozessen des 16. Jahrhunderts nachgezeichnet. Im Jahr 1569 schlug Andreas Langener – in Konsequenz eines sich lange Zeit in Stagnation befindenden persönlichen Konflikts – gleich mehrere Schmäh- und Drohschriften gegen den Adeligen Tham Pflugk an öffentlichen Orten der Dresdner Altstadt an. Es folgten Verhaftung und Anklage wegen des Verfassens von Schmähschriften. Abhängig von der Referenz auf konfligierende soziale und rechtliche Normen waren entweder Leib- und gar Lebensstrafen die Konsequenz – oder im Gegenteil Lob und Dank. Denn in diesem Fall konnte die Praxis des Anbringens von Schmähschriften als Injurie, aber auch als Dienst an der Gemeinschaft betrachtet werden, die Langener durch seine Taten vor potentieller Normtransgression seines Feindes gewarnt hatte. Während der Gemeinnutz das höchste Gut war, standen unterschiedliche, gegensätzliche und zum Teil rechtlich geschützte Interessen zur Diskussion. Eine Entscheidung gestaltete sich unter anderem abhängig davon, ob die in der Schmähschrift artikulierten Vorwürfe wahr und relevant für die Gemeinschaft waren, sowie von der invektiven Sprache und besonders von der Qualität und Größe der erreichten Öffentlichkeit.
Zur Online-Ausgabe des Aufsatzes in Das Mittelalter 25.1 (2020).
Lars Koch: "Fernsehen in der U-Bahn. Schlingensiefs Experiment über Unterhaltung und Invektivität". In: Vanessa Höving / Katja Holweck / Thomas Wortmann (Hgg.): Christoph Schlingensief. Resonanzen. München: Richard Boorberg Verlag 2020, S. 18-36.
Von der Einsicht ausgehend, dass die Politik des Theaters zuallererst Wahrnehmungspolitik ist, untersucht der Beitrag von Lars Koch, wie Schlingensiefs Fernseharbeit „U3000“ von 2001 sich ästhetisch mit der um die Jahrtausendwende situierten Konjunktur invektiver Unterhaltungsformate auseinandersetzt, die insbesondere für die Programmangebote des Privatfernsehens eine große Rolle spielte. In seiner für MTV produzierten Show in einer Berliner U-Bahn spielt Schlingensief die für Talk- und Castingshows typischen Inszenierungen der Herabwürdigung nach und entwirft so eine Form von Metafernsehen, das sich als eine Kritik des Invektiven durch Verdopplung und Aneignung beschreiben lässt.