Anerkennung als Vorbedingung politischer Bildung
Seit der Aufklärung wird der Mensch in sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskursen als autonomes und unabhängiges Subjekt beschrieben, das nur durch die gegenseitige Anerkennung aller Subjekte als frei und selbstbestimmt leben kann (Scherr 2013, 29). Seitdem wird Anerkennung sowohl als zwischenmenschliche Größe, wie etwa von Fichte, oder auch als gesellschaftlich prägender Einfluss, wie bei Hegel, diskutiert (Brumlik 2013, 13). Seit den 1990er Jahren hat Axel Honneth unter dem Titel „Kampf um Anerkennung“ eine umfassende Theorie der Anerkennung ausgearbeitet (2016, 7 f.), was ein Grund dafür zu sein scheint, dass Anerkennung auch wieder stärker in anderen Diskursen erörtert wurde (u.a. Dederich 2001; Horster 2009; Bedorf 2010; Simon 2012; Balzer 2014; Boger 2020).
Im Diskurs der politischen und demokratischen Bildung spielte Anerkennung, wenn auch nicht immer unter diesem Begriff, von Anfang an eine tragende, aber auch kontroverse Rolle. Die von Theodor Wilhelm in den 1950er Jahren konzipierte Partnerschaftspädagogik versteht Lernen als eine Erfahrung von sozialen Interaktionen, die zu einem anerkennenden Umgang führe (Wilhelm 1956, 158). Es geht hier also um die Schaffung einer demokratischen Kultur durch das Konzept der Partnerschaft, das dem Gedanken der staatsbürgerlichen Erziehung und der Idealisierung des Staates entgegensetzt wurde (Sander 2014, 54). So wie bereits damals diesem Konzept mit dem Vorwurf der Entpolitisierung und vermeintlicher Harmonisierung des politischen Streits entgegengetreten wurde, so treffen auch neuere Ansätze wie die Pädagogik der Anerkennung (Hafeneger u.a. 2013), das soziale Lernen oder die Demokratiepädagogik (May/Schattschneider 2014, 33) immer wieder auf ähnliche Vorwürfe (Gloe/Oeftering 2020, 117 f.; Wohnig 2017, 31–42). Obwohl sich diese Kontroversen in den vergangenen Jahren zunehmend beruhigt haben, bleibt die Frage offen, in welchem Verhältnis Anerkennung zu dem Konzept einer demokratischen Streitkultur steht (Jahr 2019, 91).
Die Frage scheint sich nur im Kontext der praktischen Umsetzung beantworten zu lassen. Gerhard Himmelmann assoziiert Anerkennung dabei mit „Wertschätzung, Achtung, Respekt, Toleranz, Fairness, Würdigung, Bestätigung, Ehrung, Zuwendung, Vertrauen und Dankbarkeit sowie auch Rücksicht, Mitgefühl, Sympathie und Solidarität“ (Himmelmann 2013, 64). Es geht also dabei um eine Kultur der Begegnung, weniger um Harmonie und Einigkeit in dieser Interaktion. Damit wird Anerkennung und die Beziehung zwischen den Beteiligten zur Vorbedingung von demokratischen und politische Bildungsprozessen (Gessner 2014, 187), die dann selbst von Widerspruch geprägt sein können.
Eine Studie von Martina Diedrich konnte aufzeigen, dass eine anerkennende demokratische Schulkultur positiven Einfluss auf die Entwicklung politischen Wissens, Interesses und der Bereitschaft zu politischem Engagement zu haben scheint (Diedrich 2008, 242–264).
Die Erfahrungen in anerkennenden zwischenmenschlichen Beziehungen scheinen demnach Grundlage von Erziehung und Bildung zu sein. Folglich kann ganz John Dewey folgend Demokratie nur durch demokratische Erfahrung gemacht werden (Wohnig 2017, 27). Dies bedeutet nicht, dass die demokratischen Erfahrungen keine Diskussion oder politischen Streit kennen, sondern nur, dass dies in einem Rahmen stattfindet, welcher die Integrität des Einzelnen oder auch bestimmter Gruppen immer bewahrt. Widerspruch und Interventionen gegen nicht anerkennendes Verhalten sind daher eine wichtige Grundlage einer Kultur der Anerkennung. Welche Gefahr eine falsch verstandene Anerkennung mit sich bringt, zeigt der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit in den 1990er Jahre, welcher einen akzeptierenden und wenig konfrontativen Umgang mit rechten Jugendlichen beinhaltete. Dieser Ansatz gilt vor allem in kommunal geförderten Jugendclubs als gescheitert und scheint auch eine zentrale Rolle im Kontext der Entstehung des NSU und des gesamten Unterstützer:innennetzwerkes gespielt zu haben (Kleffner 2015).
Anerkennung zielt daher zwar auf gelingende Interaktionen ab, sie muss aber auch wehrhaft gegenüber Angriffen auf die demokratische Kultur sein (Jugel/Besand 2023) und Streit, Widerspruch und Willensbildung im Rahmen von Anerkennung fördern.
Literatur
Balzer, Nicole (2014): Spuren der Anerkennung. Studien zu einer sozial- und
erziehungswissenschaftlichen Kategorie. Wiesbaden.
Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 1930). Berlin.
Boger, Mai-Anh (2020): Wen als was anerkennen? Zum Verhältnis zwischen Anerkennungstheorie und Theorie der trilemmatischen Inklusion. In: inklusion online, 1/2020.
Brumlik, Micha (2013): Anerkennung als pädagogische Idee. In: Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach am Taunus, S. 13–25.
Dederich, Markus (2001): Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung. Bad Heilbrunn/Obb.
Diedrich, Martina (2008): Demokratische Schulkultur. Messung und Effekte. A democratic school culture. Its measurement and effects. Münster, Westfalen.
Gessner, Susann (2014): Politikunterricht als Möglichkeitsraum. Perspektiven auf schulische politische Bildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Zugl.: Gießen, Univ., Diss., 2013 (Wochenschau Wissenschaft). Schwalbach/Ts.
Gloe, Markus/Oeftering, Tonio (2020): Didaktik der politischen Bildung. Ein Überblick über Ziele und Grundlagen inklusiver politischer Bildung. In: Meyer, Dorothee/Hilpert, Wolfram/Lindmeier, Bettina (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn, S. 87–132.
Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.) (2013): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach am Taunus.
Himmelmann, Gerhard (2013): Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey. Wie kann man Anerkennung lernen? In: Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach am Taunus, S. 63–77.
Honneth, Axel (2016): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte ; mit einem neuen Nachwort (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 1129). Frankfurt am Main.
Horster, Detlef (2009): Anerkennung. In: Dederich, Markus/Jantzen, Wolfgang (Hrsg.): Behinderung und Anerkennung (Heil- und Sonderpädagogik). Stuttgart.
Jahr, David (2019): Potenzialorientierung in der politischen Bildung. Fachdidaktische Aspekte zu Anerkennung und Diagnostik in heterogenen Lerngruppen. In: Veber, Marcel/Benölken, Ralf/Pfitzner, Michael (Hrsg.): Potenzialorientierte Förderung in den Fachdidaktiken (Begabungsförderung: Individuelle Förderung und Inklusive Bildung; Bd. 7). Münster, S. 79–96.
Jugel, David/ Besand, Anja (2023): Zwischen Akzeptanz und Abgrenzung – Herausforderungen im inklusiven Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechten Angriffen in und auf Schule. In: Hinz, Andreas/ Jahr, David/ Kruschel, Robert (Hrsg.): Inklusive Bildung und Rechtspopulismus. Analysen und Handlungsmöglichkeiten. (im Erscheinen)
Kleffner, Heike (2015): Die Leerstelle in der Fachdiskussion füllen. Sozialarbeit und der NSU-Komplex (Stand v. 22.4.2022). Online verfügbar.
May, Michael/Schattschneider, Jessica (2014): "Klassische" didaktische Theorien zur politischen Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung (Reihe Politik und Bildung; Band 69). Schwalbach/Ts., S. 31–41.
Sander, Wolfgang (2014): Paartnerschaft oder staatsbürgerliche Bildung. Kontroversen in den 1950er Jahren. In: Sander, Wolfgang/Steinbach, Peter (Hrsg.): Politische Bildung in Deutschland - Profile, Personen, Institutionen (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung; Bd. 1449). Bonn, S. 51–59.
Scherr, Albert (2013): Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen. Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige Anerkennung“ als pädagogische Grundbegriffe. In:
Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach am Taunus, S. 26–44.
Simon, Toni (2012): Bildungsphilosophische Überlegungen zum Zusammenhang von Anerkennung und professioneller Entwicklung in der (Sonder)Pädagogik. In: inklusion online, 3/2012.
Wilhelm, Theodor (1956): Partnerschaft die Aufgabe der politischen Erziehung. Stuttgart.
Wohnig, Alexander (2017): Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Analyse von Praxisbeispielen politischer Bildung (Bürgerbewusstsein). Wiesbaden.