H1 "Decision-making and cognitive control in addictive disorders: From dysfunctions to knowledge translation"
vorgelegt von: Dr. rer. nat. Anja Kräplin
Dauer: 10/2014 - 06/2020
Hintergrund: Abhängigkeitsstörungen (AS), die sowohl Substanz- als auch Verhaltensab- hängigkeiten umfassen, sind in der westlichen Gesellschaft weit verbreitet. Schädliche ge- sundheitliche Folgen und gesellschaftliche Kosten von AS machen deutlich, wie wichtig es ist, die zugrunde liegenden Risikofaktoren zu verstehen. Dysfunktionen der Entscheidungsfindung und der kognitiven Kontrolle wurden als Kernmechanismen von AS diskutiert. Es bleibt jedoch offen, (i) ob Störungen der Entscheidungsfindung und der kognitiven Kontrol- le den Verlauf der AS vorhersagen und (ii) was wir aus dem Wissen über Charakteristika und Risikofaktoren der AS für die Praxis lernen können. Die beiden offenen Forschungsfra- gen wurden jeweils in einem der beiden Teile dieser Arbeit behandelt.
Ziele: Der erste Teil dieser Arbeit beschäftigte sich mit den mutmaßlichen Risikofaktoren dysfunktionale Entscheidungsfindung und verringerte kognitive Kontrolle und zielte darauf ab, die Reliabilität, Validität und Kontext-Spezifität der Messungen dieser neurokognitiven Beeinträchtigungen und die prädiktive Beziehung zwischen diesen Beeinträchtigungen und dem Verlauf der AS-Schwere zu diskutieren und zu untersuchen. Der zweite Teil dieser Arbeit zielte darauf ab, das Forschungswissen über Charakteristika und Risikofaktoren der AS am Beispiel der Glücksspielstörung (GS) in die Praxis zu übersetzen.
Methoden: Der erste Teil der Arbeit beinhaltet ein Positionspapier und sechs empirische Studien, zwei mit Querschnittsdesigns und vier mit Längsschnittdesigns. Die Stichproben umfassen Personen mit substanzbezogenen und nicht substanzbezogenen AS und gesun- de Kontrollpersonen. AS wurden unter Anwendung (angepasster) DSM-5-Diagnosekriterien operationalisiert. Entscheidungsfindung und kognitive Kontrolle wurden mit Verhaltens- aufgaben wie der intertemporalen Entscheidungsaufgabe oder der Go/No-Go-Aufgabe gemessen. Der zweite Teil der Arbeit umfasste fünf (tlw. systematische) Literaturübersichten und Positionspapiere für verschiedene Zielgruppen (z.B. Psychotherapeuten*innen). Das aktuelle Wissen über Charakteristika und Risikofaktoren für die GS wurde synthetisiert und integriert, um mögliche Präventions- und Interventionsstrategien als Wissensinstru- mente entsprechend des „Knowledge-to-Action“-Models vorzuschlagen, sowie angewandt, um Themen und Fragen der öffentlichen Gesundheit wissenschaftlich zu adressieren.
Hauptergebnisse: Diagnosekriterien von AS ohne Substanzbezug sollten Aspekte der Be- einträchtigung einschließen, um die Validität zu erhöhen und normales Verhalten nicht zu pathologisieren. Parameter zur Erfassung der Entscheidungsfindung und der kognitiven Kontrolle sollten sorgfältig ausgewählt und im besten Fall unter Verwendung eines Ansat- zes mit latenten Variablen operationalisiert werden, um eine hohe Reliabilität und Validität der Maße zu erreichen. Es ist zu berücksichtigen, dass diese Messungen davon abhängen, ob der Aufgabenkontext neutral oder abhängigkeitsspezifisch ist. Im Laufe der
Zeit prognostiziert mehr dysfunktionale Entscheidungsfindung den Verlauf der AS-Schwere und nimmt auch als Folge der AS zu. Verringerte kognitive Kontrolle ist wichtiger für die Eskalation des abhängigen Verhaltens als für das Fortschreiten der AS-Symptome.
Die Artikel zur Wissensübersetzung im zweiten Teil der Arbeit fassen vielfältige mögliche Risikofaktoren der GS zusammen, darunter individuelle Faktoren (z.B. neurokognitive Dys- funktionen), spielbezogene Faktoren (z.B. Fast-Gewinne) und Umweltfaktoren (z.B. spielen- de Gleichaltrige). In den Beiträgen zu Wissenssynthese wurde herausgearbeitet, dass eine wirksame Prävention und Intervention daher auch ein vielschichtiges Spektrum an Strate- gien erfordert. Individuelle und umweltbedingte Risikofaktoren bilden eine Grundlage für Präventionsstrategien, z.B. welche risikoreichen Spielverhaltensweisen oder Risikogruppen angesprochen werden müssen. Für Interventionen wurden mehrere Merkmale und Risikofaktoren der GS als mögliche Zielprozesse hervorgehoben, wie z.B. dysfunktionale Entscheidungsfindung, verringerte kognitive Kontrolle und Reizreaktivität. In den Beiträgen zur Wissensanwendung wurde argumentiert, dass Standardverbraucherschutzmaßnahmen wie Informationen über Glücksspiele und die bloße Angebotsreduzierung für Hochrisikopersonen, die aufgrund von Risikofaktoren wie impulsiver Entscheidungsfindung Probleme mit der Kontrolle ihres Spielverhalten haben, möglicherweise nicht ausreichend sind.
Diskussion: Dysfunktionale Entscheidungsfindung ist ein geeigneter Kandidat für transdi- agnostische Prozesse. Um einer kausalen Interpretation näher zu kommen, ist es wichtig, die Auswirkungen von neurokognitiven Trainings oder Neuromodulation auf die Entschei- dungsfindung zu untersuchen. Eine verringerte kognitive Kontrolle spielt beim Kontrollver- lust über den Konsum eine wichtigere Rolle als beim Verlauf von AS-Symptomen. Für den Verlauf von AS-Symptomen wäre es wichtig, die Rolle einer verringerten Konfliktüberwa- chung und damit der verringerten Mobilisierung von kognitiver Kontrolle in AS unter An- wendung von Neuroimaging-Methoden zu untersuchen.
Bevor „Best Practice“-Richtlinien zur Prävention und Behandlung von GS abgeleitet werden können, sind weitere wissenschaftliche Erkenntnisse und eine besser auf die Praxis zuge- schnittene Wissenserhebung erforderlich. Dabei muss sich die Forschung weg von diagnosebasierten Fall-Kontroll-Studien hin zu transdiagnostischen Prozessen und Verhaltensmarkern bewegen. Dies könnte in Präventionsmaßnahmen einfließen, um riskant spielende Personen früher zu erkennen, und könnte zu neuartigen prozessbasierten therapeutischen Paradigmen beitragen, die explizit auf Kernmechanismen der GS abzielen, wie dysfunktionale Entscheidungsfindung. In der AS-Forschung im Allgemeinen besteht nach wie vor ein starker Bedarf an einer besseren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Interessenvertreter*innen sowie daran, dass Wissensübersetzung und -anwendung von der Forschungsgemeinschaft, den Zeitschriften und den Fördereinrichtungen besser angesprochen und geschätzt werden.
Publikationen:
- Part 1: Decision-making and cognitive control as predictive factors in the course of addictive disorders
- 1.1 How reliable and valid are our concepts of behavioural addictions, decision- making and cognitive control?
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Publication 1: Kräplin, A. (2017). Conceptualizing behavioural addiction in children and adolescents. Addiction, 112(10), 1721-1723. doi:10.1111/add.13846
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Publication 2: Kräplin, A., Scherbaum, S., Bühringer, G. & Goschke, T. (2016). Retest reliabilities of decision-making and cognitive control measures in addictive disorders. SUCHT, 62(4), 191–202. doi:10.1024/0939-5911/a000430
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1.2 Are dysfunctional decision-making and cognitive control impairments general- ized or context-specific?
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Publication 3: Kräplin, A., Scherbaum, S., Bühringer, G. & Goschke, T. (2019). Decision-
making and inhibitory control after smoking-related priming in nicotine dependent smokers and never-smokers. Addictive Behaviors, 88, 114-121. doi:10.1016/j.addbeh.2018.08.020
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Publication 4: Kräplin, A., Scherbaum, S., Bühringer, G., Goschke, T. & Schmidt, A. (2018). Negative interpersonal scenes decrease inhibitory control in healthy individuals but not in gambling disorder patients. International Gambling Studies, 18(2), 178-194. doi:10.1080/14459795.2018.1448426
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1.3 Are dysfunctional decision-making and cognitive control impairments conse- quences or predictive factors in the course of addictive disorders?
- Publication 5: Kräplin, A., Höfler, M., Pooseh, S., Wolff, M., Krönke, K.-M., Goschke, T., Bühringer, G. & Smolka, M. N. (2020). Impulsive decision-making predicts the course of substance-related and addictive disorders. Psychopharmacology. doi:10.1007/s00213- 020-05567-z
- Publication 6: Kräplin, A., Joshanloo, M., Wolff, M., Krönke, K.-M., Bühringer, G., Gosch- ke, T. & Smolka, M. N. (under review). Latent executive functioning in substance-related and addictive disorders: Cross-sectional and longitudinal relations. Addiction. Publication
- 7: Kräplin, A., Scherbaum, S., Kraft, E.-M., Rehbein, F., Bühringer, G., Goschke, T. & Mößle, T. (2021). The role of inhibitory control and decision-making in the course of Internet gaming disorder. Journal of Behavioral Addictions, 9(4), 990-1001. doi:10.1556/2006.2020.00076
- 1.1 How reliable and valid are our concepts of behavioural addictions, decision- making and cognitive control?
- Part 2: Knowledge translation of research on gambling disorder
- 2.1 Knowledge translation: synthesis and tools
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Publication 8: Kräplin, A. & Bühringer, G. (2016). Störung durch Glücksspielen - Ein Überblick [Gambling Disorder - An overview]. Report Psychologie, 41(5), 204-214. Link zum Volltext
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Publication 9: Kräplin, A. & Goudriaan, A. E. (2018). Characteristics and risk factors of gambling disorder as basis for responsible gambling strategies. SUCHT, 64(5-6), 247-256. doi:10.1024/0939-5911/a000559
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Publication 10: Kräplin, A. & Bühringer, G. (2021). Störung durch Glücksspielen und andere abhängige Verhaltensweisen. In S. Knappe & J. Hoyer (Eds.), Klinische Psychologie und Psychotherapie (Bd. 3, S. 933-946). Heidelberg: Springer.http://dx.doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1_43
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2.2 Knowledge translation: application
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Publication 11: Bühringer, G., Kotter, R., Czernecka, R. & Kräplin, A. (2018). Beyond Re- no II: Who cares for vulnerable gamblers? SUCHT, 64(5-6), 325-334. doi:10.1024/0939- 5911/a000566
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Publication 12: Zoglauer, M., Czernecka, R., Bühringer, G., Kotter, R. & Kräplin, A. (under review). The relationship between physical availability of gambling and gambling behaviour/disorder: A systematic review. Journal of Gambling Issues.
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- 2.1 Knowledge translation: synthesis and tools