P5 "Individuumsbezogene Prädiktoren für Entwicklung und Verlauf problematischen Cannabiskonsums in der Allgemeinbevölkerung und bei Patienten in Psychotherapie"
Promotionsstudentin: Maria Neumann
Betreuer: Prof. Dr. Gerhard Bühringer
Dauer: 10/2014 – 09/2017
Zusammenfassung:
Hintergrund. Cannabis ist die weltweit am häufigsten konsumierte illegale psychoaktive Sub- stanz. Auch wenn der Konsum in vielen Fällen unproblematisch und transient bleibt, entwickeln einige Konsumenten einen regelmäßigen Konsum, der mit schwerwiegenden Folgen wie dem Auftreten einer Cannabiskonsumstörung (kurz Cannabisstörung) einhergehen und professio- nelle Unterstützung notwendig machen kann. Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht und beantwortet werden sollen:
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1) Was sind bedeutsame individuumsbezogene Prädiktoren für den Verlauf problematischen Cannabiskonsums (PCK), einschließlich dem regelmäßigen Konsum und einer Cannabisstö- rung, in der Allgemeinbevölkerung?
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2) Was sind bedeutsame individuumsbezogene Prädiktoren für den Erfolg oder Misserfolg einer Psychotherapie bei PCK?
Diese Fragen werden an der Allgemeinbevölkerung in einem ersten Untersuchungsteil, und an Patienten in Psychotherapie wegen PCK in einem zweiten Untersuchungsteil je getrennt unter- sucht, da sich die Rahmenbedingungen für diese Populationen unterscheiden. Es wird ein Ver- laufsmodell von PCK entwickelt, dass den regelmäßigen Konsum über einen längeren Zeitraum als eine erste Stufe von PCK erfasst. Diese kann in die weiteren Stufen der Entwicklung und Chronifizierung einer Cannabisstörung übergehen oder spontan wie auch therapeutisch unter- stützt beendet werden.
Im ersten Untersuchungsteil werden Prädiktoren für den PCK-Verlauf in der Allgemeinbevölke- rung hinsichtlich ihrer Veränderung und Stabilität über den PCK-Verlauf systematisiert. Es wird angenommen, dass psychopathologische und substanzkonsumbezogene Faktoren über die Stu- fen der Störungsentwicklung an Relevanz zu-, und Umweltfaktoren abnehmen. Über die Bedeu- tung der Faktoren für die Beendigung des PCK ist bisher wenig bekannt. Im zweiten Untersu- chungsteil werden Prädiktoren für das Erreichen von Therapiezielen bei PCK näher untersucht. Auch wenn die Effektivität vorhandener Interventionen bei PCK in Meta-Analysen gut belegt ist, sind die nachhaltigen Abstinenzraten noch immer eher gering. Daher werden potentiell relevan- te individuumsbezogene Faktoren hinsichtlich ihrer Prognose für den Erfolg oder Misserfolg einer Therapie untersucht. Die Hypothese ist, dass die konsumbezogenen Prädiktoren Entzug und illegaler Polysubstanzkonsum geringere Abstinenz- und Remissionsraten, eine hohe Absti- nenzzuversicht hingegen höhere Raten vorhersagen und als Moderator zwischen Entzug und Abstinenz dienen kann. Ziel der Arbeit ist es, eine Grundlage für die Verbesserung ätiologischer Modelle zu schaffen, um weitere Forschung in diesem Gebiet zu stimulieren sowie Präventions- und Therapieansätze zur Reduktion des PCK zu verbessern.
Methoden. Für die erste Fragestellung wurden längsschnittliche, epidemiologische und repräsen- tative Kohortenstudien zu Prädiktoren für Entwicklung und Verlauf des PCKs in der Allgemein- bevölkerung nach PRISMA-Richtlinien systematisch zusammengefasst. Dazu wurden die Da- tenbanken Web of Knowledge, Scirus, PubMed und PsyIndex nach englischsprachigen Publika- tionen im Zeitraum von 1994 bis 2014 durchsucht, die Prädiktoren für die Zielvariablen Konsum- steigerung, -Persistenz, -Abstinenz und -Rückkehr sowie für Cannabisstörungsbe- ginn, -Chronifizierung, -Remission und –Rückfall untersuchen.
Für die zweite Fragestellung wurden Daten aus einer multizentrischen, randomisiert- kontrollierten Therapiestudie (CANDIS II) an hilfesuchenden Cannabiskonsumenten mit re- gelmäßigem Cannabiskonsum (CK) verwendet. 166 Patienten mit vollständiger Teilnahme an dem kognitiv-behavioralen, manualisierten Cannabisentwöhnungsprogramm sowie an der wis- senschaftlichen Eingangs- und Enduntersuchung wurden analysiert.
Polysubstanzkonsum wurde anhand verschiedener Indikatoren (spezifische Substanzklassen, Menge und Frequenz) als Prädiktor für Abstinenz, Remission und sekundäre Therapieziele ana- lysiert. Prädiktoren wurden krude mittels logistischer Regressionen bzw. entsprechender linea- rer oder Gamma-Regressionsmodelle ermittelt. Analog wurden adjustierte Regressionsmodelle mit empirisch ermittelten Kontrollvariablen des CK-Musters (wie Frequenz, Dosis, Applikati- onsart), Alter und Geschlecht bestimmt. Abstinenzzuversicht und ein Entzugssyndrom wurden als Prädiktoren für die Remission von einer ICD-10-Abhängigkeit zu Therapieende sowie für Abstinenz bis zu sechs Monate nach Therapieende mittels logistischer Regressionen untersucht. Die Interaktion zwischen Entzug und Abstinenzzuversicht hinsichtlich des Erreichens einer Abstinenz wurde in einer Moderatoranalyse geprüft.
Ergebnisse. Erste Fragestellung: 29 Publikationen aus 14 epidemiologischen Studien mit einem Beobachtungszeitraum von ein bis 30 Jahren wurden ausgewertet. Einige stufenspezifische Prädiktoren wurden identifiziert. Beispielsweise waren Alkoholkonsum und CK von Freunden und Peers Prädiktoren für die Entstehung regelmäßigen CKs. Positive Lebensereignisse sagten spezifisch die Konsumbeendigung vorher. Beziehungskonflikte im Elternhaus und bestimmte psychische Störungen waren spezifische Prädiktoren für die Entwicklung einer Cannabisstö- rung. Eine Major Depression sagte spezifisch den Störungsrückfall vorher. Einige Faktoren wie eine hohe CK-Frequenz, anderer illegaler Substanzkonsum und externalisierende Symptome sagten mehrere Stufenübergänge vorher. Innerhalb der Untersuchungen wurde ein Mangel an Studien zu Prädiktoren für eine Störungsremission bzw. -Chronifizierung festgestellt.
Zweite Fragestellung: Polysubstanzkonsum war kein Prädiktor für Remission. Patienten mit ille- galem Substanzkonsum zeigten sogar stärkere Verbesserungen der psychischen Gesundheit, aber auch geringere Chancen für das Erreichen einer Abstinenz. Amphetaminkonsum war mit einer geringeren Reduktion cannabisbezogener Probleme verbunden, Konsumerfahrungen mit Opiaten, Inhalantien und Dissoziativa hingegen mit geringeren Verbesserungen der physischen Gesundheit. Eine hohe Abstinenzzuversicht und ein schnell abklingendes Entzugssyndrom wa- ren Prädiktoren für eine Remission und eine nachhaltige Abstinenz. Eine Moderatorwirkung von Abstinenzzuversicht auf den Zusammenhang von Entzug und Abstinenz konnte nicht be- legt werden, jedoch weisen einige Indizien in diese Richtung. Im multivariaten Modell (CK- Muster, Polysubstanzkonsum, Entzugsdauer, Abstinenzzuversicht, Alter, Geschlecht) war die Abstinenzzuversicht der relevanteste Prädiktor für eine nachhaltige Abstinenz.
Diskussion und Schlussfolgerungen. Eine Zunahme psychopathologischer Faktoren im Über- gang von regelmäßigem Konsum zu einer Cannabisstörung findet empirische Unterstützung durch die Analysen der vorliegenden Arbeit. Eine Abnahme der Bedeutung sozialer Prädiktoren konnte, z.T. auch mangels einschlägiger Studien, nicht bestätigt werden. Die spontan als auch therapeutisch unterstützte Beendigung von PCK wird vermutlich stärker durch psychische Schutz- und Risikofaktoren als durch konsumbezogene Risikofaktoren wie Entzug und Polysub- stanzkonsum vorhergesagt.
Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis
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Patienten mit PCK können auch bei moderatem Polysubstanzkonsum sowie beim Auf- treten eines Entzugssyndroms erfolgreich ambulant behandelt werden.
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Illegaler Polysubstanzkonsum könnte den PCK-Verlauf im natürlichen Kontext stärker vorhersagen als im Rahmen der Psychotherapie. Die Ergebnisse sollten auf ihre Robust- heit überprüft und in weiteren Stichproben untersucht werden.
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Eine hohe Abstinenzzuversicht ist ein zentraler Prädiktor für die nachhaltige Abstinenz von Cannabis, besonders beim Auftreten eines Entzugssyndroms.
Mit dem vorgelegten Stufenkonzept können erstmalig Verläufe problematischen Cannabiskon- sums in ihrer Charakteristik verglichen und vorhergesagt werden. Damit trägt die Arbeit we- sentlich zur Systematisierung der klinisch-psychologischen Prädiktoren-Forschung bei und kann als Grundlage für die Weiterentwicklung ätiologischer Theorien sowie für Maßnahmen der Prävention und Therapie problematischen Cannabiskonsums genutzt werden.
Publikationen:
Neumann, M., Bühringer, G., Höfler M., Wittchen H. -U. & Hoch E. (2018). Is Cannabis Use Treatment Also Indicated for Patients with Low to Moderate Polysubstance Use? European Addiction Research, 24(7)