Bezugsnormen
Viele assoziieren mit dem Wort ,Prüfung‘ Leistungsdruck, Angst vor einer Bloßstellung und Versagensängste – sie bekommen sofort ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Um die Leistung in einen Kontext setzen zu können, ist ein Vergleichsstandard nötig. Diese sogenannten Bezugsnormen geben Aufschluss darüber, wie eine Leistung bewertet wird. In der pädagogischen Diagnostik werden die soziale, die individuelle sowie die sachliche Bezugsnorm voneinander unterschieden. Wichtig ist, dass sich jede Bezugsnorm unterschiedlich auf die Motivation und das Selbstwirksamkeitsgefühl der Lernenden auswirken kann (Rheinberg 2010).
Bei der sozialen Bezugsnorm wird die Leistung einer Person mit der Leistung anderer Personen verglichen. Wenn ein Student beispielsweise 63 von 100 Punkten erzielt hat und die durchschnittliche Punktzahl bei dieser Klausur 84 Punkte beträgt, hat er ein vergleichsweise schlechtes Ergebnis erzielt.
Bei der individuellen Bezugsnorm wird die Leistung einer Person mit ihren vorherigen Leistungen verglichen. Wenn der Student also 63 von 100 Punkten erzielt hat und bei ähnlichen Klausuren sonst durchschnittlich 40 von 100 Punkten erreicht, hat er sich im Vergleich zu seinen Vorleistungen verbessert.
Bei der sachlichen Bezugsnorm dient der Lerngegenstand als Vergleichsobjekt. Bei einer vorab festgelegten Mindestpunktzahl von 55 von 100 Punkten hat der Student also mit 63 Punkten die Prüfung bestanden. Die sachliche Bezugsnorm wird häufig auch als Idealnorm bezeichnet, da sie sich auf die Anforderungen, Ziele und Kriterien eines Lerngegenstandes bezieht.
Je nach verwandter Bezugsnorm kann das gleiche Resultat als Leistung ganz anders in Erscheinung treten und verschiedene Folgen haben. Bemerkenswert ist, dass sich der (nicht-professionelle) Beurteiler meist nicht darüber klar ist, welche Bezugsnorm er vermeintlich selbstverständlich oder „natürlicherweise“ anlegt (ebd.: 62).
Eine Mischung aus sachlicher und individueller Bezugsnormorientierung wirkt sich besonders lernfördern und motivierend auf die Lernenden aus. Eine individuelle Bezugsnormorientierung und wenig soziale 'Aufwärtsvergleiche' fördern die Selbstkonzeptentwicklung von Lernenden und tragen zur Stützung des Selbstwertes bei (Martschinke 2008). Nachfolgend werden die Auswirkungen der sozialen und der individuellen Bezugsnorm auf die Lernenden erläutert (Rheinberg 2010; Martschinke 2008). Hier wird deutlich, dass die individuelle Bezugsnorm der sozialen Bezugsnorm vorzuziehen ist.
Soziale Bezugsnorm (“meine Leistung im Vergleich zu der, der anderen”) | Individuelle Bezugsnorm (“meine Leistung im Vergleich zu meinen vorherigen Leistungen” |
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Der Lernzuwachs der Gruppe als Ganzes wird sichtbar, aber nicht der Lernzuwachs der einzelnen Person (“Ihr habt in der Klausur besser abgeschnitten als eure Parallelklasse.”). | Sowohl die individuelle Leistungsentwicklung als auch der Lernzuwachs der Lerngruppe als Ganzes wird deutlich (“Ihr habt alle viel dazugelernt. Ich sehe bei jedem von euch eine Verbesserung.”). |
Gute Leistungen werden irrtümlicherweise häufig auf eine hohe “Intelligenz”, “Begabung” oder einen positiven “Arbeitscharakter” zurückgeführt. | Gute Leistungen werden vor allem auf “Motivation”, “Interesse” und “guten Unterricht” zurückgeführt. |
Es besteht ein hohes Potenzial zur Entwicklung zeitstabiler Leistungserwartungen (“Einmal schlecht in Mathe, immer schlecht in Mathe.”). | Es besteht ein geringes Potenzial zur Entwicklung zeitstabiler Leistungserwartungen (“Die letzte Mathearbeit lief nicht so gut, aber dieses Mal wird es besser.”). |
Drückt sich häufig in Angebotsgleichheit aus (aller Lernenden erhalten zum gleichen Zeitpunkt die gleichen Aufgaben. Die individuellen Aneingnungsvorlieben und Lernwege der Lernenden werden hierbei nicht beachtet. | Drückt sich häufig in Angebotsvielfalt aus. Die individuellen Aneignungsvorlieben und Lernwege der Lernenden werden bei der Planung und Durchführung der Lehre sowie bei Bewertungssituationen berücksichtigt. |
Negative Motivationseffekte durch den Vergleich mit anderen v. a. für leistungsschwächere Lernende und die Gefahr, eine eher pessimistische Sicht auf die eigenen Leistungspotenziale zu befeuern (“Egal wie viel ich lerne, es bringt nichts und ich bleibe immer schlechter als die anderen in Mathe.”). Aus dieser defizitären Sicht kann eine Furcht vor Misserfolg und Prüfungsangst entstehen. | Führt zu positiven Motivationseffekten, realistischen Zielsetzungen sowie einer optimistischen Sicht auf die eigenen Leistungspotenziale, da die Lernenden eine individuelle und nicht-defizitäre Rückmeldung erhalten (“Ich sehe deine Verbesserung. Das war schon viel besser als beim letzten Mal.”). Resultiert selten in Furcht vor Misserfolg und Prüfungsangst. |
Führt insbesondere bei leistungsschwächeren Lernenden häufig zu sinkenden Selbstwirksamkeitserwartungen, geringer Mitarbeitsfrequenz und zu weniger Spaß am Lernen. Wirkt sich folglich negativ auf die Selbstwertentwicklung aus (“Ich bin und bleibe dumm.”). | Führt bei Lernenden häufig zu steigenden Selbstwirksamkeitserwartungen, hoher Mitarbeitsfrequenz und zu mehr Spaß am Unterricht. Wirkt sich positiv auf die Selbstwertentwicklung aus (“Meine Wünsche und Interessen werden berücksichtigt.”). |
Lesetipps und Quellenangaben
- Die Bezugsnormen knapp erläutert auf den Seiten des Deutschen Zentrums für Lehrkräftebildung Mathematik (DLZM). Link zum OpenSource-Dokument
- Rheinberg, Falko (2010): Bezugsnormorientierung. In: Rost, Detlef H. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz, S. 61-67. Link zum OpenSource-Dokument
- Martschinke, Sabine (2008). Förderung von Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und Selbstkonzept. In: Arnold, Karl-Heinz / Graumann, Olga / Rakhkochkine, Anatolij (Hrsg.): Handbuch Förderung - Grundlagen, Bereiche und Methoden der individuellen Förderung von Schülern. Weinheim: Beltz, S. 303-312. Link zum SLUB-Katalog