Keine Praxisrelevanz?!
Herr G. ist Fachdozent und lehrt vor allem in Veranstaltungen, an denen sowohl Lehramtsstudierenden als auch Fachstudent*innen teilnehmen. Obwohl das lange für ihn mehr eine Bereicherung als eine Herausforderung war, hat er mittlerweile das Gefühl, die Lehramtsstudierenden sind immer weniger an ihren Fachwissenschaften interessiert. Er erinnert sich noch gut an Zeiten, in denen sich die Lehramtsstudierenden genauso interessiert an den fachwissenschaftlichen Diskussionen beteiligt haben, wie die Fachstudent*innen. Herr G. beobachtet jedoch seit einigen Semester, dass sich Studierende des Lehramts immer weniger in den Lehrveranstaltungen beteiligen und immer häufiger die Frage stellen, inwiefern das für die Praxis als Lehrer*in wichtig ist. Seine Begründung, auch als Lehrperson brauche es umfassendes Wissen über komplexe Zusammenhänge eines Themas, scheinen sie aber nicht ernst zu nehmen. Oftmals kommen sie nur noch zu Beginn des Semesters, um Fragen zur Prüfung stellen zu können, und zu ihren Referaten. Nach einem Seminar hörte Herr G. zufällig, wie ein Student sagte “Ich versteh echt nicht, warum ich das alles lernen soll. Das ist doch gar nicht wichtig für die Schule, das werde ich niemals unterrichten und hat keinen Bezug zur Praxis. Sie sollten uns lieber das beibringen, was wir dann auch unterrichten werden und uns besser auf die Schule vorbereiten!” Herr G. ist genervt. Es ist nicht seine Aufgabe, sie auf die Schule vorzubereiten, sondern ihnen die fachliche Tiefe zu vermitteln.
Rasha studiert im 6. Semester Lehramt für das Gymnasium und freut sich darauf, als Lehrerin zu arbeiten. Am besten gefallen ihr die Lehrveranstaltungen der Fachdidaktiken. Rasha lernt durch die angeregten Diskussionen mit ihren Kommiliton*innen viele neue Aspekte für ihre spätere Arbeit. Doch in den Veranstaltungen der Fachwissenschaft fühlt sich Rasha oft fehl am Platz. Auch wenn sie meist gut über das Thema Bescheid weiß, versteht sie nicht, welche Relevanz viele fachspezifische Inhalte für sie als Lehrerin haben. Auf die Frage, welche Relevanz das für die schulische Praxis hat, reagieren alle Dozent*innen gleich genervt mit der Antwort, auch als Lehrer*in muss sie das wissen. Rasha kann aus dieser Antwort jedoch nicht ableiten, welchen Bedeutung die fachliche Tiefe für die didaktische Auseinandersetzung hat. Sie wünscht sich mehr Raum für die Diskussion über die Verwobenheit von Fachwissenschaft und Didaktik. Wenn Diskussionen stattfinden, werden diese aus einer rein fachwissenschaftlichen Perspektive geführt. Rashas Versuche in die Diskussionen auch eine didaktisch-pädagogische Sichtweise einzubringen, wurden von den Dozent*innen abgewiegelt und die Studierenden der Fachwissenschaft haben immer mehr mit Stöhnen und Augenrollen reagiert. Mittlerweile besucht sie nur noch notwendige Sitzungen, um ihre Prüfungsleistungen abzulegen.
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Warum sehen die Studierenden die vertiefte Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Inhalten als wenig sinnvoll für sich/ihre spätere Arbeit an?
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Wie lässt sich die Frage nach dem "Wozu brauche ich das?" zufriedenstellend(er) beantworten?
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Warum ist es wichtig, lehramtsspezifische Fragen zum Thema in den Fachwissenschaften zu verhandeln?
Weiterführende Fragen
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Existiert eine unbewusste Überzeugung zu Lehramtsstudierenden, welche die Lehre beeinflusst und warum haben Lehramtsstudierende Extrawünsche? Lesen Sie dazu mehr in Fall “Bestehen reicht denen”.
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Wie wirkt sich die Haltung der Lehrperson gegenüber den Studierenden auf die Stimmung und die Emotionen im Lehr-Lern-Raum aus? Mehr zu diesem Thema bietet der Fall “Student*innen zweiter Klasse”.
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Wieso wirkt sich die Haltung Studierender zu Lehrveranstaltungen negativ auf die Wahrnehmung der Dozierenden aus? Dies und mehr zum Thema Lebensweltbezug erfahren sie im Fall „Von Interesse keine Spur“.
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Wie kann eine gelingende Kooperation von Fachwissenschaft und Fachdidaktik gelingen? Mehr dazu können Sie unter „Kooperieren“ nachlesen.
Warum sehen die Studierenden die vertiefte Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Inhalten als wenig sinnvoll für ihre spätere Arbeit an?
Um dieser Frage nachzugehen, muss zunächst näher auf den Prozess der Sinnbildung geschaut werden. Sinnbildung, auch Sinnkonstruktion genannt, erfolgt immer individuell. In diesen Prozess fließen vergangene Erfahrungen, aktuelle Bedürfnisse sowie Erwartungen hinsichtlich des Erfolgs mit ein (Lanwer 2006 nach Jugel, Steffens 2019: 96). „Vereinfacht ausgedrückt stellt sich für alle Lernenden die Frage, ob die Auseinandersetzung mit einem Thema oder Lerninhalt ihnen ein positiv emotionales Erleben verspricht oder eben nicht.“ (ebd.). Für Lehramtsstudierende stellt sich somit vor allem die Frage: Ist die Auseinandersetzung mit dem fachwissenschaftlichen Inhalt für mich positiv konnotiert und wird mir klar, welche Relevanz das Thema für die Tätigkeit als Lehrer*in hat? Damit diese Frage mit “ja” beantwortet werden kann, bedarf es vor allem zweier Aspekte: Zum einen müssen die Bedürfnisse der Studierenden ernst genommen werden. Zum anderen braucht es Aushandlungsräume, in denen sie ihre Fragen hinsichtlich der Bedeutung des Themas diskutieren können. Denn auch wenn Sinn individuell entsteht, sind zur Sinnkonstruktion immer auch Momente der gemeinsamen Bedeutungsaushandlung nötig. Durch diese wird erst ein Denkfluss erzeugt, “dessen Produkt über die Einzeläußerungen hinaus geht“ (de Boer 2015: 19).
In den Fachwissenschaften ist es für Lehramtsstudierende oftmals schwer, individuellen Sinn und gemeinsame Bedeutung zu konstruieren. Lehramtsstudierende besuchen nur ausgewählte fachwissenschaftliche Veranstaltungen und können demnach Bezüge zu nicht-besuchten Veranstaltungen der Fachwissenschaften nicht herstellen. Zudem scheint in fachwissenschaftlichen Veranstaltungen die Diskussion, inwiefern die Themen für die Schule relevant sind, zweitrangig. (Weitere Herausforderungen von Lehramtsstudierenden können Sie im Fall “Bestehen reicht denen…” nachlesen.)
Im Fall von Rasha geht die Lehrperson nicht auf das Bedürfnis zur Aushandlung ein und es wird auch nicht als notwendig anerkannt. Die Konsequenz für Rasha und viele andere Lehramtsstudierende ist, dass sie sich fehl am Platz, nicht ernst genommen und unsichtbar fühlen. Diese negativen Erfahrungen summieren sich und wirken sich auf ihren weiteren Lernprozess und die Bewertung von fachwissenschaftlichen Veranstaltungen aus. Die Antwort auf die Frage, ob die Lehrveranstaltung erfolgversprechend hinsichtlich ihrer Bedürfnisse ist, lautet dann zunehmend “nein”. Diesem Prozess kann entgegengewirkt werden, indem durch einen Lebensweltbezug sowie Mut zu neuen und unbekannten Fragen, Interesse geweckt und ein Aushandlungsraum geschaffen wird. Mehr Informationen finden sie unter “Interesse wecken”.
Wie lässt sich die Frage nach dem "Wozu brauche ich das?" zufriedenstellend(er) beantworten?
Hierfür muss zuerst geklärt werden, was hinter der Frage nach Praxisrelevanz steht. In der beruflichen Tätigkeit von Lehrer*innen gilt der Lehrplan (häufig) als (didaktisch-methodisches) Hilfsmittel und inhaltliche sowie organisatorische Stütze. Je umfangreicher der Lehrplan ausgestaltet ist, desto eher haben die Lehrer*innen das Gefühl eines Zeitdrucks. Diese Lebensrealität ist den Lehramtsstudierenden durchaus bewusst. Das Bedürfnis, so gut es geht auf diese Realität vorbereitet zu werden, ist für sie handlungsleitend. Besonders in den Fachwissenschaften erwarten sie den Erwerb, strukturierten Wissens für den späteren Unterricht (Winkler, Wieser 2017: 404). Praxisrelevant ist demnach das, was für die Bewältigung dieses Alltags hilfreich scheint. Den Anspruch der Praxisrelevanz können fachwissenschaftliche Veranstaltungen, in den Augen der Lehramtsstudierenden, scheinbar nicht immer einhalten. Im Fall von Rasha fehlen zum Beispiel Momente, in denen sie die schulische Relevanz diskutieren kann. Werden dann, wie im geschilderten Fall, die Fragen der Lehramtsstudierenden nicht ernst genommen, kann die Wahrnehmung entstehen, es gäbe keine Verbindung zwischen Theorie und Lehrer*innen-Praxis. Dann besteht die Gefahr, dass sich Lehramtsstudierende zusehends von den Fachwissenschaften abgrenzen. Ein fachwissenschaftlicher Zugang zu (Unterrichts)Themen ist jedoch elementar für Lehrer*innen. Denn nicht nur die Lehramtsstudierenden wünschen sich Praxisrelevanz, auch ihre zukünftigen Lernenden wollen wissen "Warum machen wir das eigentlich?". Damit Lehrer*innen nicht in die Verlegenheit kommen zu antworten: "Weil es im Lehrplan steht.", müssen sie im Studium tiefere Einblicke in fachwissenschaftliche Hintergründe erhalten und die Relevanz für das gesellschaftliche Zusammenleben miteinander aushandeln (Sander 2013: 7). Demnach ist es nicht die Aufgabe von Dozierenden, eine Antwort auf die Frage des “Wozu” zu geben. Es ist vielmehr ihre Aufgabe, Räume zur Aushandlung dieser Frage zu schaffen.
Warum ist es wichtig, lehramtsspezifische Fragen zum Thema in den Fachwissenschaften zu verhandeln?
Grundsätzlich ist ein multiperspektivischer Austausch in fachwissenschaftlichen Veranstaltungen immer als lohnenswert und bedeutsam für alle Beteiligten anzusehen. Die scheinbar fehlende Passfähigkeit zwischen den Ansprüchen der Fachwissenschaften und den Bedürfnissen der Lehramtsstudierenden ergibt sich unter anderem daraus, dass sich die Fachwissenschaften von der Schule weg entwickeln (Sander 2013: 6). Sie denken die Eigenlogik der schulischen Auseinandersetzung mit dem Fach nicht mit (ebd.). Aber auch die Haltung und Einstellung Dozierender und Studierender zum Verhältnis von Fachwissenschaften und schulischer Praxis beeinflusst, welche Bedeutung der fachwissenschaftlichen Ausbildung beigemessen wird (Winkler, Wieser 2017: 402f). Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass Lehramtsstudierende mit einer anderen Erwartungshaltung an die fachwissenschaftliche Ausbildung herantreten als Fachstudierende. Denn sie haben sich vermutlich vor allem dafür entschieden, Lehrer*innen zu werden und nicht Fachwissenschaftler*innen (ebd.: 413). Ihr Interesse an den Fachwissenschaften besteht demnach vor allem hinsichtlich der pädagogischen Vermittlung. Weiterhin blicken sie auf zwölf und mehr Jahre Berufserfahrung als Lehrer*innen aus der Zuschauer*innenperspektive zurück (Besand 2009). Daraus ergeben sich spezifische Erwartungshaltungen und Vorstellung hinsichtlich ihrer Ausbildung und späteren Berufstätigkeit (Winkler, Wieder 2017: 402f). Doch das, was sie glauben und hoffen vermittelt zu bekommen und das, was in der fachwissenschaftlichen Ausbildung verhandelt wird, ist nicht ohne Transferleistung in Einklang zu bringen. Daher bedarf es Möglichkeiten der Sinnkonstruktion in den fachwissenschaftlichen Veranstaltungen, um einer Abkehr von Fachwissenschaften entgegen zu wirken. Die Vermittlung fachwissenschaftlicher Zusammenhänge steht nicht im Widerspruch mit der Vorbereitung auf den Lehrer*innenberuf im Gegenteil - wie in der Beantwortung der vorhergehenden Frage herausgestellt wurde. Weiterhin muss mit einer lehramtsspezifischen Sinnkonstruktion keine Reduktion der Komplexität fachwissenschaftlicher Themen einhergehen. Auch brauchen Lehramtsstudierende keine anderen Inhalte als fachwissenschaftliche Studierende. Ihnen stellen sich im Zuge der Auseinandersetzung noch andere Fragen als den Fachstudierenden, zum Beispiel:
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Inwiefern ist dieses Thema bedeutungsvoll für Schüler*innen und demnach auch für die Gesellschaft?
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Welche Anschlussstellen hat das Thema an die Fragen und Interessen der Schüler*innen?
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Aus welchen weiteren Perspektiven lässt sich das Thema begreifen und analysieren?
Die kollektive Aushandlung dieser Fragen in fachwissenschaftlichen Veranstaltungen kann für alle Beteiligten gewinnbringend sein, denn es ermöglicht ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und neue, gemeinsame Erkenntnisse zu gewinnen, die gesamtgesellschaftlich relevant sind. Dazu ist es wichtig, gute Fragen zu formulieren, um neue Aushandlungs- und Erkenntnisräume, auch in den Fachwissenschaften, zu öffnen. Impulse dazu finden sie unter „Gute Fragen stellen“.
Warum sehen die Studierenden die vertiefte Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Inhalten als wenig sinnvoll für ihre spätere Arbeit an?
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Gebe ich den Studierenden die Möglichkeit, die Themen hinsichtlich ihrer beruflichen Realität zu verhandeln und im gemeinsamen Diskurs die fachwissenschaftliche Ebene einzubeziehen?
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Ermutige ich auch Studierende der Fachwissenschaften, sich mithilfe anderer (schulischer) Fragen mit dem Thema auseinander zu setzen?
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Setze ich mich dafür ein, dass die Fragen aller Studierenden gleichermaßen den Veranstaltungen diskutiert werden?
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Welche Bedeutung schreibe ich selbst den Themen meiner Fachwissenschaft für die schulische Praxis zu?
Wie lässt sich die Frage nach dem "Wozu brauche ich das?" zufriedenstellend(er) beantworten?
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Kann ich auf die Frage “Warum machen wir das eigentlich?”, mehr entgegnen als: “Weil das wichtig ist!”?
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Habe ich selbst schon einmal die gesellschaftliche und lebenspraktische Relevanz meiner Inhalte hinterfragt?
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Stehe ich im Austausch mit Dozent*innen der Fachdidaktiken - tausche ich mich mit ihnen über meine Lehre aus?
Warum ist es wichtig, lehramtsspezifische Fragen zum Thema in den Fachwissenschaften zu verhandeln?
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Wie verstehe ich selbst das Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik?
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Für wie bedeutsam halte ich didaktische Fragen in meinen Lehrveranstaltungen?
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Wird die Bedeutung für die berufliche Tätigkeit vor dem Hintergrund fachwissenschaftlicher Kontroversen und Erkenntnisse analysiert?
Zuständigkeitsfalle
Auch wenn Sie nicht Teil der pädagogischen Ausbildung sind, können Sie die Zuständigkeit dafür nicht gänzlich von sich weisen. Für die gelingende Vermittlung fachlicher Inhalte brauchen auch Lehramtsstudierende Aushandlungsräume in den Fachwissenschaften. Weise Sie diese Verantwortung von sich, sind Sie in die Zuständigkeitsfalle getappt.
Homogenisierungsfalle
Lehramtsstudierende sind keine homogene Masse. Allein durch die Komibationsmöglichkeiten verschiedener Fächern und Schularten, sind sie sehr unterschiedlich. Sie als gleichförmige, desinteressierte Masse anzunehmen ignoriert ihre spezifischen Bedürfnisse auch hinsichtlich einer beruflichen Handlungsfähigkeit. Versuchen Sie, Lehramtssudierende in mit ihren vielfältigen Perspektiven wahrzunehmen und so die Homogenisierungsfalle zu umgehen.