Kooperieren
Inhaltsverzeichnis
Warum ist Kooperation wichtig?
„Das Motiv der Kooperation erwächst aus der Unmöglichkeit für ein individuelles Subjekt, welches nur auf sich gestellt ist, die menschliche Kultur anzueignen“ (Giest, Lompscher 2006: 80).
Was Giest und Lompscher in dem Zitat formulieren, wird mit den Begriffen "Sinn und Bedeutung" auch im Kontext von Inklusion (Jung, Steffens 2022 i.D.) beschrieben und hat seine Wurzeln in der kulturhistorischen Theorie. Konkret wird nun der Frage nachgegangen, was unter Sinn und Bedeutung verstanden wird und welche Verflechtung sich mit Kooperation ergeben.
“Zeichen und Bedeutungen sind Produkte gesellschaftlich-historischer Entwicklung, Bestandteile konkreter Kultur(en), in der (denen) der Mensch lebt, von der (denen) er geprägt wird und die er durch seine Tätigkeit selbst mit gestaltet [sic!]” (Giest, Lompscher 2004: 109). Lernende in jene Kultur(en) einzuführen, beschreibt Fend als Funktion von Schule (Enkulturation) (Fend 2009).
In Anbetracht dessen, dass “Zeichen (Wörter, Begriffe, Symbole etc.) als ‘psychische Werkzeuge (Mittel)’ [...] Träger von Bedeutung” sind, sind Bewusstseinsprozesse zeichenvermittelte Prozesse (ebd.: 109). Die Aneignung dieser Zeichen erfolgt als aktiver Prozess, der sich in Interaktion und Kommunikation realisiert und in dem Aufbau höherer psychischer Funktionen mündet (Vygotskij 2003):
"Die höheren psychischen Funktionen (willkürliche, bewusste, zielgerichtete Prozesse der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des Denkens etc.) treten in ihrer Genese zweifach auf: zunächst als „interpsychische“, d.h. zwischen Interaktions- und Kommunikationspartnern aufgeteilte, dann als „intrapsychische“, d.h. im eigentlichen Sinne psychische, an ein Individuum gebundene Phänomene” (Giest, Lompscher 2004: 109).
Entwicklung vollzieht sich über den Aufbau dieser höheren psychischen Funktionen (Vygotskij 2003). In der Kulturhistorischen Theorie wird Entwicklung deshalb als ein Prozess beschrieben, der sozial vermittelt wird (vergleichend dazu Luria 1970).
Über Interaktion und Kommunikation kann sich bei einem Individuum sodann über die Bedeutungen persönlicher Sinn (Persönlichkeitssinn) zu bspw einem Lerngegenstand bilden. Ein Gegenstand erhält seine Bedeutung also durch soziale Interaktion (Steffens 2019: 43). Ein (Lern)Gegenstand kann eine bestimmte Bedeutung auch wieder verlieren oder sie kann sich verändern. Geschieht dies, verändert sich auch der individuelle Sinn dieses Gegenstands (Leont’ev 2013: 198). Der persönliche Sinn kann nie von außen an Individuen (Lernende) herangetragen werden, sondern muss immer in diesen selbst entstehen. Bezogen auf das Lernen bedeutet dies: “Lernmotive entstehen, wenn Lerngegenstand und -situation so gestaltet werden, dass sie für die Lernenden Persönlichkeitssinn gewinnen” (Giest, Lompscher 2004: 112). Es muss für Lernende sprichwörtlich "Sinn ergeben", sich mit diesen und jenen Gegenständen kooperativ auseinanderzusetzen. Deshalb wird es in Lern-Lehr-Setting essentiell, die individuellen Sinn- und Bedeutungsstrukturen der Lernenden zu berücksichtigen (siehe dazu Fragenkatalog zur Verstehenden Perspektive) und den Lernenden Raum für Kommunikation und Interaktion, sprich Kooperation, zu geben (geeignete Methoden finden Sie hier).
Was sind die Merkmale von Kooperation?
Kooperation zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus, die von Mendzheritskaya, Ulrich, Hansen, Heckmann (2018) (mit Verweis auf Johnson, Johnson 1991) folgendermaßen beschrieben werden:
Bei der Planung von kooperativen Arbeitsphasen sollte also darauf geachtet werden, dass diese Merkmale zum Tragen kommen.
Was zeichnet eine hohe Kooperationsqualität aus?
Die Qualität von Kooperationsprozessen lässt sich mit Hilfe der themenzentrieren Interaktion (TZI) beschreiben: Eine neue Gruppe beginnt selten als eine kooperative Gruppe, sondern entwickelt sich zunächst von Einzelnen „Ichs“ zu einem „Wir“, dem sich alle zugehörig fühlen und so letztlich entscheiden können, wie und mit welchen Zielen („Es“) die Zusammenarbeit gestaltet wird. Die Qualität von Kooperationsprozessen zeigt sich dann im Zusammenspiel mehreren Faktoren:
- Der Kooperationsfähigkeit- und Bereitschaft der Einzelnen („Ich“),
- dem Miteinander in der Gruppe („Wir“),
- der Aufgabenstellung („Es“) und letztlich auch
- den Rahmenbedingungen für die Gruppenarbeit („Globe“) (Gössling 2020: 187)
Schaffen es die einzelnen Gruppenmitglieder ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Rücksichtnahme zu finden, sich mithin situationsangemessen zu verhalten, ist ein wesentlicher Grundstein für gute Kooperation gelegt. Abhängig von der Situation und vom Ziel der Zusammenarbeit bewegt sich die Gruppe in einem Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz. Ist dies ausgeglichen, entsteht Raum für eine themenzentrierte Zusammenarbeit und die Gruppe kann Informationen optimal nutzen und Entscheidungen vorausschauend treffen
Damit sowohl eine individuelle- als auch kollektive Verantwortungsübernahme gelingt, sollten die Gruppenaufgaben so gestaltet sein, dass alle von der gemeinsamen Arbeit oder dem Ergebnis profitieren und sich niemand der Verantwortung entziehen kann. Dies kann durch verschiedene Methoden (z.B. das Gruppenpuzzle zur Erarbeitung von Texten) und durch eine hohe Interaktionsdichte gefördert werden. Solange die Zusammenarbeit also offen für situativ sinnvolle Anpassungen ist und die Vier-Faktoren (Ich, Es, Wir, Globe) in einem dynamischen Gleichgewicht zueinander stehen, kann eine hohe Kooperationsqualität entstehen und lebendiges Lernen gefördert werden.

