"Das mach ich lieber alleine"
Frau Franka ist Dozierende an der Universität. Am Anfang des Semesters bildete sie Gruppen, die während des Semesters zusammenarbeiten sollten und auch die Prüfungsleistung gemeinsam ablegen konnten. Sie überließ es den Studierenden, ob Sie die Prüfungsleistung als Gruppe oder als Einzelleistung abgaben. Während des Semesters waren die Arbeitsgruppen auf sich gestellt. Die von Frau Franka angebotenen Konsultationstermine wurden nur spärlich genutzt. Gegen Ende des Semesters meldeten immer mehr Studierende, dass sie ihre Prüfungsleistung, anders als geplant, nun doch lieber einzeln abgeben wollten.
Bari ist Lehramtsstudent. Aufgrund seiner Fächerkombination und seiner Schulform hat er unsteten Kontakt zu Mitstudierenden. Umso mehr freute er sich, dass es im Seminar von Frau Franka möglich war, in Gruppen zu arbeiten und die Prüfungsleistung auch als Gruppenleistung abzulegen. In seiner Arbeitsgruppe kannte sich vorher niemand. Zu Beginn der Arbeit waren einige sehr motiviert und brachten den Arbeitsprozess voran, bei anderen stellte sich schon die Kommunikation als schwierig heraus. Irgendwann brach der Kontakt sogar ganz ab. Die Arbeit in der Gruppe wurde zusehends unorganisierter. Bari entschied sich, die Prüfungsleistung doch allein zu schreiben. Er wollte keine schlechte Note riskieren.
- Warum werden überhaupt Gruppenleistungen angeboten? Was ist der Vorteil?
- Warum hat die Gruppenarbeit nicht funktioniert?
- Warum kommt keine*r zu den Terminen/Konsultationen?
- Wie engmaschig sollte die Betreuung von Studierenden sein?
- Wie müssten die Studierenden noch begleitet werden? Was brauchen die Studierenden für eine Anleitung in der Freiarbeit?
- Wie initiiere ich als Lehrperson Teambuilding?
Warum werden überhaupt Gruppenleistungen angeboten? Was ist der Vorteil?
- In der Tradition der Kulturhistorischen Schule (u.a. Vygotskij 1987, Luria 1970) ist Lernen ein Prozess, der zwischen Menschen, dialogisch abläuft. Anders ausgedrückt: sozial vermittelt wird. Gruppenarbeiten anzubieten, bedeutet, einen Raum zu kreieren, in dem Lernen sozial vermittelt werden kann. Und das eben nicht nur in Richtung der Lehrenden zu den Lernenden, sondern auch unter den Lernenden. Mehr zu den Themen Lernen und Entwicklung finden Sie in den Erklärvideos.
-
Die Vermittlungssituation zwischen Lernenden kann positiv ausfallen, weil der Wissensvorsprung nicht so groß bzw. das Vorwissen ähnlich ist und bei den Gruppenmitgliedern das Zurückgreifen auf Alltagssprache eher anerkannt ist. Risikoreich wird der Fall, wenn Studierende Inhalte von anderen vermittelt bekommen, die die Inhalte selbst noch nicht adäquat verstanden haben (Gössling 2020: 185).
-
Ein Unterschied zwischen lehrer*innenzentrierten Unterrichtsformen und der Arbeit in Gruppen ist, dass sich Gruppen deshalb als motivierend erweisen, weil in ihnen die drei psychologischen Grundbedürfnisse zum Tragen kommen, die in der Selbstbestimmungstheorie (Deci, Ryan 1993) beschrieben werden. Diese drei Grundbedürfnisse sind: Kompetenzerleben, soziale Eingebundenheit und Autonomie. (Gössling 2020: 185). Hören Sie sich die Selbstbestimmungstheorie in diesem IN*GE liest vor an.
-
Gruppenarbeiten bilden eher die Arbeitssituation im späteren Berufsleben ab. Kooperative Prozesse sind dort eher anzutreffen statt die Bearbeitung von Einzelaufgaben (Gössling 2020: 185).
- “Kooperative Lernformen bilden die Grundlage dafür, dass kognitives Lernen und soziales Lernen im Unterricht miteinander verbunden wird” (Leuders 2006: 1)
Warum hat die Gruppenarbeit nicht funktioniert?
Es kann durchaus vorkommen, dass Studierende bei der Ankündigung von Gruppenleistungen innerlich die Augen verdrehen. Negative Erfahrungen mit Gruppenarbeiten (z. B. in der eigenen Schulzeit) können hier der Grund sein. Mögliche Probleme sind z. B.:
-
Unterstellungen, Misstrauen, Absprachen unter einigen wenigen oder eine von Intrigen geprägte Kommunikationskultur,
-
Leugnen von bestehenden Problemen,
-
heimliche Hierarchien,
-
unklare oder undurchschaubare Arbeits- und Rollenverteilungen,
-
Unfähigkeit, sich auf gemeinsame Ziele zu einigen,
-
unerfüllbare Forderungen,
-
ständige Misserfolge,
-
unangemessener Zeit- und Leistungsdruck,
-
Hierarchieprobleme (Green, Green 2012: 50).
Es ist zu empfehlen, diese bekannten Probleme präventiv sowie im Prozess konkret anzusprechen. Lesen Sie unter “Kommunikation in Konfliktsituationen” wie Sie dies umsetzen können. Die Vorteile der Gruppenarbeit wurden hinlänglich beschrieben. Trotzdem kann die individuelle Studiensituation so ausfallen, dass sich Studierende in diesem/einem Semester nicht in einen kooperativen Arbeitsprozess begeben können. Gründe dafür können sein, dass Absprachen und gemeinsame Arbeitsphasen, also die Organisation der Gruppenarbeit nicht mit dem privaten Workload vereinbar sind. Dies kann beispielsweise in privaten Ausnahmesituationen oder Pandemiezeiten der Fall sein. Studierende können sich deshalb eher aus Gruppenarbeiten herausziehen.
Es ist ebenso anzuraten, den Nutzen von Teambuildingprozessen/Gruppenarbeiten zu verdeutlichen, also individuellen Sinn bei den Teilnehmenden zu schaffen (Philipp 2014: 19f.). Organisationspsychologisch konnte gezeigt werden, dass "das Sinnerleben einen zentralen Einfluss auf (...) die Arbeitszufriedenheit, die Arbeitsmotivation und die Leistung von Mitarbeitern hat" (Gerkhardt & Frey 2006: 55, zit. in Philipp 2014, 19).
Methoden für die Gruppenarbeit sowie hilfreiches Material für deren Umsetzung finden Sie hier.
Warum kommt niemand zu den Terminen/Konsultationen?
Ein Grund kann sein, dass Studierenden der Sinn der angebotenen Konsultationen nicht klar ist. In der Schule sind Konsultationen eher mit Leistungsbewertungen verbunden. Studierende können daraus schließen, dass Konsultationen keine Beratungsangebote sind, sondern mit Bewertungen einhergehen. “Bedingt durch Unsicherheit und fehlendes Selbstbewusstsein sind Studierende auch häufig nicht in der Lage, ihre Anliegen gegenüber den oft auch als Prüfende auftretende Lehrenden klar und präzise zu formulieren. Dadurch vergrößern sich Hierarchie und Distanz zusätzlich” (Mendzheritskaya, Ulrich, Hansen, Heckmann 2018: 140). Die Angst vor Bewertungen und das offensichtliche Machtgefälle können als Gründe angesehen werden, weshalb Konsultationen eher vermieden werden. (Lesen Sie unter “Unangenehme Stimmung hier” mehr dazu, wie Emotionen Lern- und Entwicklungsprozesse beeinflussen.)
Aufgrund dessen sollte so klar wie möglich kommuniziert werden, welchen Vorteil Beratungstermine mit sich bringen und in welcher Rolle Lehrende dabei auftreten. beschreiben in Gesprächssituationen drei Rollen von Lehrenden, in Abhängigkeit zum Anlass des Gesprächs:
-
Rolle der*des Feedbackgebers*in,
-
Rolle der*des Prüfenden,
-
Rolle der*des Mentors*in,
-
Rolle der*des Erstansprechpartners*in in gewissen Anliegen, die weitergeleitet und von einer anderen Stelle bearbeitet werden müssen (Mendzheritskaya, Ulrich, Hansen, Heckmann 2018: 138).
Wird die Rolle der Lehrperson den Studierenden näher gebracht, können sie mit einer gewissen Erwartungshaltung in das Gespräch gehen. Es empfiehlt sich, Abstand von der Rolle als (ausschließlich) Prüfenden zu nehmen und als Lernbegleiter*in aufzutreten. Somit kann der Prozess des Lernens bzw. der individuelle Lernweg in den Fokus gerückt werden, statt ausschließlich das Produkt/die Prüfungsleistung. Zudem kann vor dem Konsultationstermin geklärt werden, was genau besprochen werden soll. Um den Studierenden die Angst zu nehmen, könnten diese die Punkte festlegen und vorab der Lehrperson schicken. Warum Offenheit und Transparenz in Lern- und Entwicklungsprozessen wichtig ist, können Sie unter “Orientierung geben” nachlesen. Weiterhin bietet der Fundus Impulse, wie Feedback konstruktiv und gelingend gestaltet werden kann.
Wie engmaschig sollte die Betreuung von Studierenden sein?
Egal wie frei die (selbstständige) Arbeit von Studierenden ausfällt, das “Angebot zur Klärung und Strukturierung des studentischen Lernverhaltens [...], Beratung/Coaching der Studierenden [sowie] [r]egelmäßige Evaluation mit Rückmeldung an die Studierenden” (Richter 2005: 13) zählen zu den Aufgaben von Lehrpersonen an Hochschulen. Wie ausgeprägt die Bedarfe bei den Studierenden sind und somit die Intensität der Betreuung ausfällt, kann durch eine “Entanonymisierung” (ebd.) der Studierenden erfolgen. Das heißt, dass transparent gemacht wird, welche (Lern-)Voraussetzungen (auch Lernausgangslagen) die Studierenden mitbringen. Dafür brauchen die Studierenden Gelegenheiten, sich untereinander als auch den*die Dozent*in kennenzulernen. Eine Art Kennenlernphase mag verschult klingen, dennoch werden dadurch lernförderliche Aspekte deutlich: “Nur so können Lernpartnerschaften gebildet werden, ist die Orientierung für einen aktiven Lernprozess möglich, kann Eigeninitiative entwickelt werden, können die Studierenden selbstverantwortlich entscheiden, ob sie eher in leistungshomogenen oder leistungsdifferenten Allianzen zeitweise zusammenarbeiten – wenn es seitens des/der Lehrenden dazu keine Empfehlungen gibt.” (ebd.). Zum generellen Wert pädagogischer Beziehungen können Sie im Fundus Inklusion weiteren Input finden.
Nach der Arbeitsphase ist zudem eine Reflexion der gemeinsamen Arbeit sinnvoll. Dafür sollte Raum während der Seminarzeit eingeräumt werden. Ebenso wäre es möglich, die gemeinsame Arbeit in der Prüfungsleistung mit Reflexionsfragen zu durchdenken.
Wie Kennenlernen und damit Beziehungsarbeit gelingen kann, können Sie unter “Beziehungen gestalten” im Fundus nachlesen. Dort finden sich Impulse zur Stärkung von Beziehungen sowie Reflexionsfragen. Unter “Verstehende Perspektive” bietet der Fundus Impulse und Fragen, mit denen sich der Lernausgangslage der Lernenden genähert werden kann.
Wie müssten die Studierenden noch begleitet werden? Was brauchen die Studierenden für eine Anleitung in der Freiarbeit?
Die Frage, welche Unterstützungsmaßnahmen eine einzelne Person oder eine Gruppe beim Lernen braucht, kann nicht nur von der Lehrperson alleine beantwortet werden. In der Schule könnte eine Diagnostik für die Unterstützungsmaßnahmen so aussehen, dass durch Beobachtung der freien Arbeitszeit und gezielte Nachfragen Bedarfe erfahren werden.
In der Universität wird es möglicherweise nicht dazu kommen, dass die Freiarbeitsphasen unter Aufsicht erfolgen, weil sich die Studierenden selbstorganisiert außerhalb der Seminarzeit, z.B. in der Bibliothek treffen. Es ist deshalb ratsam, vor der Freiarbeitsphase Strategien zur gemeinsamen Arbeit festzulegen. Das könnte z. B. so aussehen, dass sich die Arbeitsgruppe zu Beginn folgende Fragen stellt:
-
Wie wollen wir in der Gruppe zusammenarbeiten?
-
Wie kommunizieren wir?
-
Welches Medium wählen wir hauptsächlich zum Austausch in der Gruppe? Haben alle die entsprechenden Kontaktdaten?
-
Wann treffen wir uns für Absprachen? Wie treffen wir uns (digital, präsenz, hybrid)?
-
Wer übernimmt die Kommunikation mit der Lehrperson?
-
Brauchen wir technische, inhaltliche oder sonstige Unterstützung durch die Lehrperson?
-
Wer übernimmt welche Aufgabe?
-
Wieviel Zeit kann jede*r für Bewältigung der einzelnen Aufgaben/für das Projekt aufbringen?
Neben diesen Fragen ist es ratsam, fakultative Konsultationstermine in der Freiarbeitsphase festzulegen. Zu diesen Terminen sollen die Gruppen Ihren inhaltlichen Stand sowie die Arbeit in der Gruppe rückmelden.
Wie initiiere ich als Lehrperson Teambuilding?
In den meisten Fällen muss eine Gruppenarbeit in einer gewissen Zeitspanne ablaufen. Es ist deshalb von Vorteil, wenn die Zusammenarbeit für alle gut startet. So können die Gruppenmitglieder eine für sie produktive Arbeitsweise finden.
Wie Gruppenarbeit initiiert werden kann, welche Phasen Gruppen durchlaufen und wie die Ziele von Gruppenarbeit erreicht werden können, erfahren Sie unter dem Kapitel “Kooperation der Lernenden”.
-
Kommuniziere ich klar, was die Studierenden in einer Konsultation erwarten können?
-
Biete ich den Studierenden Strategien zur gemeinsamen Arbeit in Lerngruppen?
-
Ist die Aufgabenstellung so gestaltet, dass sie Kooperation erfordert bzw. positive Interdependenz bereithält?
-
Wurden Gruppenziele und Erwartungen an die Mitarbeit explizit formuliert? Ist jeder Person bewusst, dass die Ziele und Erwartungen revidiert werden können?
Einzelkampffalle
Werden Gruppenarbeiten inhaltlich und methodisch nicht so vorbereitet, dass Kooperation entstehen muss, entscheiden sich Studierende eher dafür, einzeln zu arbeiten. So laufen sie Gefahr anzunehmen, dass Aufgaben jeglicher Größenordnung und Anforderung allein bewältigt werden können. Im späteren Berufsleben ist das wahrscheinlich nicht der Fall.
Intransparenzfalle
Die Lehrperson ist in die Intransparenzfalle getappt, da sie den Studierenden zu wenig Führung in der Selbstlernphase gegeben hat. Kooperation muss gelernt werden und bedarf einer Anleitung.