Vom Zeichen der Götter bis zur Apokalypse. Religion als Krisenverstärker oder -management.
Oder: wie reagieren Menschen auf Bedrohung?
Christian Schwarke ist Inhaber der Professur für Systematische Theologie im Institut für evangelische Theologie der TU Dresden. In seinem Beitrag geht er der Frage nach welchen Beitrag Religion unter den gegewärtigen Bedingungen zur Bewältigung der Corona Krise beitragen kann.
Vom Zeichen der Götter bis zur Apokalypse.
Religion als Krisenverstärker oder -management.
Oder: wie reagieren Menschen auf Bedrohung?
von Christian Schwarke
Eine Epidemie, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist nie allein ein medizinisches Problem. Sie hat Auswirkungen auf das Leben von Kranken undGesunden, und sie beeinflusst alle Bereiche der Gesellschaft. Spätestens wenn die Zahl der Toten die Kapazitäten für Bestattungen übersteigt, ändert sich sogar der Tod. Ein solches Geschehen wäre von Menschen vergangener Zeiten, von der Antike bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, als ein Zeichen der Götter verstanden worden. Naturphänomene konnten entweder selbst ein Instrument der Strafe sein, oder sie galten, wie etwa Kometen, als Boten einer kommenden sozialen Veränderung (Schechner 1990).
Wenn die Corona-Krise heute in dieser Weise als Zeichen Gottes gedeutet würde, erschiene uns das abwegig, weil wir das Weltbild der Menschen aus vormodernen Zeiten nicht teilen. Gleichzeitig aber melden sich auch heute noch Propheten unterschiedlicher Ausrichtung zu Wort. Sie deuten die Epidemie etwa als notwendigen Weckruf, um endlich den Gefahren der Globalisierung oder aber der mangelnden Digitalisierung ins Auge zu sehen. Je nachdem, ob man mehr technischen Fortschritt möchte oder weniger, kann man die Krise als Wegweiser in die eigene Richtung oder als Zeichen für eine notwendige Umkehr verstehen. Auch heute noch wird eine Krise wie die Corona-Epidemie also als Zeichen verstanden, nur eben nicht der Götter, sondern anderer Mächte. Da gegenwärtige Interpreten der Krise damit – auch ohne einen Appell an irgendwelche Götter – sehr alte religiöse Mechanismen aufgreifen, lohnt es sich, nach dem Sinn und Unsinn sowie der Rationalität und Irrationalität eines religiösen Umgangs mit Krisen zu fragen. Denn es könnte sein, dass ein heute irrational erscheinender Glaube an die Götter in früheren Zeiten sehr vernünftig war, während umgekehrt unsere rationale Sicht auf die Epidemie ziemlich unvernünftig wird, wenn sie hinter der Ausbreitung eines Virus zwar säkulare, aber nicht minder finstere Mächte, als es ehedem die Götter waren, am Werk sieht. Religiöse Deutungsmuster könnten also in einem bestimmten Rahmen tatsächlich zum Management von Krisen beigetragen haben, während sie in einem anderen Kontext Krisen verstärken.
Will man heute falsche von wahren Propheten unterscheiden, tut man gut daran, sich die Logik des traditionellen religiösen Umgangs mit Bedrohungen der eigenen Existenz vor Augen zu führen. Denn es macht damals wie heute einen großen Unterschied, ob man hinter der Gefahr eine rettende Macht wahrnimmt, oder ob die Gefahr selbst den letzten Horizont darstellt.
Beginnen wir mit einem Blick in die Antike. Die berühmten Eingangsverse von Homers Odyssee lauten:
„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
Aber die Freunde rettet´ er nicht, wie eifrig er strebte;
Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
Toren! Welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers
Schlachteten; siehe der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.
Bereits in den ersten Zeilen seines langen Epos markiert Homer die beiden klassischen Antworten vormoderner Kulturen auf Bedrohungen: Die erste Antwort lautet, dass die Gefahr eine Folge vorangegangenen Fehlverhaltens des Menschen ist. Anders gesagt, trägt der Mensch selbst die Schuld an Krankheit, Leid und Tod. Wie in der biblischen Geschichte vom Sündenfall (Gn 3) hat diese Auskunft eine doppelte Pointe: Wenn ich eine Bedrohung als das Ergebnis meiner Schuld betrachte, beinhaltet dies zum einen die Möglichkeit der Veränderung. Auch rückwirkend kann ich mein Verhalten z.B. bereuen und mich entschuldigen. Im Anschluss daran kann ich mein Handeln ändern. Zum anderen verbindet sich mit dieser Antwort stets ein Appell: Macht es anders! Wenn ihr nicht sterben wollt, lasst die Rinder des Zeus am Leben, oder esst keine verbotenen Früchte. Die Geschichte vom Sündenfall ist ebenso wie die Odyssee in dieser Hinsicht Ursachenforschung. Sie fragen danach, wo das Ungemach der Menschen seinen Ausgang genommen hat.
In diesem Sinn werden auch heute noch zahlreiche Sündenfallgeschichten geschrieben. Wenn man etwa den Ursprung aller Fehlentwicklungen auf der Welt etwa in der Sesshaftwerdung der Menschen sieht, oder im Beginn des Patriarchats, wenn man die geistigen Brandstifter für die heutige Umweltzerstörung im spätantiken Christentums vermutet oder wenn man China, die Migration oder die Globalisierung für die Corona-Epidemie verantwortlich macht, so ist die Logik immer die gleiche: Ich suche einen Punkt in der Geschichte, ab dem die Dinge aus dem Ruder gelaufen sein sollen. Und in dem ich so gleichzeitig einen Schuldigen für die gegenwärtige Bedrohung identifiziere, gewinne ich – so die Hoffnung dieses Verfahrens –eine Möglichkeit zur Krisenintervention. Dabei gibt es jedoch einen gravierenden Unterscheid zwischen einer traditionell religiösen Haltung und modernen Sündenfallgeschichten: Der gläubige Mensch suchte im Angesicht der Bedrohung die Schuld stets bei sich selbst. Der heutige Ideologe sucht sie dagegen immer bei den Anderen.
Als in den 1980er Jahren HIV auftrat, scheinen fundamentalistische Christen also nur eine alte Tradition wiederbelebt zu haben, als sie AIDS zu einer Strafe Gottes für sexuelles Fehlverhalten und die Moderne überhaupt machen wollten. Deutlich weniger medienwirksam scheint auch das Corora-Virus diesen Reflex wieder auszulösen. Diesmal ist es dann die Globalisierung und der enge Kontakt zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, den Gott sanktionieren wolle. Dass in all diesen Fällen der vermeintliche Wille Gottes so wunderbar zur eigenen politischen Haltung der jeweiligen Propheten passt, erleichtert ihnen das Geschäft natürlich sehr. Allerdings handelt es sich bei den modernen Adepten einer antiken Religiosität um etwas vollkommen anderes als das, was Homer oder Jeremia im Sinn hatten.
Man kann sich den Unterschied sofort verdeutlichen, wenn man an Menschen denkt, die eine ernste Diagnose erhalten haben oder in einer Klinik sogar mit dem Tod ringen und sich fragen: „Warum gerade ich?“ Wenn jemand sich das fragt und vielleicht für sich eine Antwort findet, dann hat diese Antwort in der Regel eine erleichternde Wirkung, wenn auch manchmal nur für einen Moment. Wenn Sie aber als Außenstehende oder Außenstehender eine Antwort geben, werden Sie die Krise verstärken. Eine Antwort nach dem Motto: „Klar sind die Götter böse, Du warst ja auch nicht brav“, wird heute jedenfalls zurecht als schwarze Pädagogik verbucht.
Nun aber zur zweiten Antwort Homers auf die Frage nach den Ursachen von Bedrohungen: Sie besteht im Verweis auf die Götter. Diese sind die eigentlichen Akteure, die Leid oder sogar den Tod schicken. Auch wenn man sich im weiteren Verlauf der Odyssee des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Götter launisch sind, so geht es beim Schlachten der Rinder des Zeus doch um ein objektives Vergehen. Natürlich tut man so etwas nicht. Das weiß doch jedes Kind.
Die in der Odyssee erkennbare Haltung, Gefährdungen der eigenen Existenz auf Schuld und die Götter zurückzuführen war keine griechische Spezialität. Auch im Alten Testament finden wir dieses Muster. Das bekannteste Beispiel ist sicher Hiob. In den historisch nacheinander entstandenen Textschichten des Buches Hiob werden uns zwar unterschiedliche Reaktionen der Hauptperson auf sein Leid vorgeführt. So übt sich Hiob einmal in frommer Ergebenheit, während er an anderer Stelle bittere Anklagen an die Adresse Gottes richtet. Aber niemals zweifelt Hiob daran, dass Gott höchstpersönlich für sein Unheil verantwortlich ist.
Auf die gesamte Gesellschaft extrapoliert findet sich das gleiche Motiv bei den hebräischen Propheten. So werden die Assyrer- und Babylonierkönige, deren Heere Israel erobert und die Oberschicht deportiert haben, als Werkzeuge oder sogar als Knechte Gottes bezeichnet. Sie werden von Gott benutzt, um eine Strafe an Israel zu vollstrecken. Der eigentliche Konflikt besteht dieser Logik zufolge also gar nicht zwischen Israel und Babylon, sondern zwischen Israel und Gott. Auch hier gilt übrigens der gleiche Unterschied wie im Blick auf einzelne Menschen: Wenn die Israeliten Katastrophen wie die Eroberung ihres Landes als Strafe Gottes verstanden, dann war es ihre eigene legitime Deutung, die sie an ihr eigenes Schicksal anlegten. Als Fremddeutung von außen, etwa als christliches Interpretament, ist die Aussage weder religiös noch legitim, sondern Ausdruck zynischer Denkfaulheit.
Sowohl im Individuellen als auch im Blick auf ganze Gesellschaften erfüllt die religiöse Deutung eigener Bedrohungen eine doppelte Funktion. Zum einen ermöglicht es den Einzelnen, ihr eigenes Schicksal aus der Isolation heraus in einen größeren Kontext zu stellen. Wenn wir unser eigenes, zufälliges Schicksal in eine höhere Ordnung einordnen können, dann erleichtert dies die Bewältigung von Krisenerfahrungen. Wenn ich nicht der Einzige bin, der stirbt, sondern alle Menschen notwendigerweise sterben, verändert sich die Wahrnehmung des Todes. Ob die höhere, über mich selbst hinausreichende Ordnung tatsächlich existiert, und ob ich mich einer guten oder einer gefährlichen Ordnung zuwende, spielt zunächst keine Rolle. Nicht nur die Natur oder Gott, sondern auch unheilvolle Ordnungsversuche wie die Idee des „Volkes“ können formal dieselbe Funktion erfüllen. Da diese Idee jedoch auf eine partikulare Ordnung zielt und stets abgrenzend gedacht und verwendet wird, erzeugt sie mehr Krisen als sie zu lösen verspricht.
Die Assyrer oder den König von Babylon als Werkzeug Gottes zu sehen, hat zum anderen aber noch einen zweiten Vorteil. Denn es impliziert die feste Überzeugung, dass hinter dem Leid, dass die Eroberung durch die fremde Macht mit sich bringt, letztlich das Gute steht. Denn Gott, so waren die Israeliten überzeugt, meint es letztlich und unerschütterlich gut. Eine solche Einstellung begrenzt nicht nur die Macht der Bedrohung, indem sie diese selbst als Instrument des Positiven sieht. Sie eröffnet auch Perspektiven auf die Zeit nach der Bedrohung. Das Leid wird nicht das letzte Wort behalten. Dessen ist sich diese Deutung gewiss. Man kann das als optimistisch bezeichnen oder darin einen Akt des Widerstands sehen.
Noch Immanuel Kant folgt in seiner Kritik der praktischen Vernunft einem ähnlichen Kalkül, wenn er Gott als den Garanten für die Sinnhaftigkeit unseres Handelns versteht. Da ich als Mensch nicht sicher sein kann, dass mein gutes Handeln wirklich zu der Welt passt, wie sie sein sollte, geschweige auch nur, dass mein Handeln zu dieser Welt führe, bin ich letztlich darauf angewiesen, dies anzunehmen. Gerade, weil ich täglich erlebe, dass gutes Handeln nicht zum erwünschten Erfolg führt, muss ich annehmen, dass mein Handeln trotzdem Sinn macht. Und um dies annehmen zu können, um der Welt sozusagen einen guten Sinn unterstellen zu können, so Kant, ist die Idee eines Gottes notwendig, der nichts anderes tut, als zu garantieren, dass Hoffnung letztlich eine sinnvolle Lebenseinstellung ist. In der Sprache Kants formuliert ist Gott der Gesetzgeber, der die Übereinstimmung des Handelns aus Pflicht gegenüber dem Moralgesetz mit dem Reich der Zwecke verbürgt. Die Konzeption Kants ist für unseren Zusammenhang insofern interessant, als sie eine Zwischenstufe zwischen vormoderner Religiosität und gegenwärtiger Weltdeutung markiert. Gott ist nicht mehr, wie in der Odyssee oder im Alten Testament die anthropomorph gedachte Person, die zwar Leid schickt, es aber letztlich immer zum Guten wendet. Aber die Funktion der Gottesidee, nämlich die Erfahrung von Bedrohung und Negativität mit einer positiven Sinnunterstellung zu bekämpfen, behauptet sich auch bei Kant.
Der Philosoph Hermann Lübbe hat Religion daher in einer vielzitierten Formulierung als „Kontingenzbewältigungspraxis“ beschrieben (Lübbe 1986). Trotz aller Säkularisierung, die die gegenwärtige westliche Welt nach der Aufklärung kennzeichnet und die traditionelle Gottesvorstellungen obsolet gemacht hat, gäbe es, so Lübbe, einen aufklärungsresistenten Kern von Religion. Und dieser Kern bestünde darin, dass wir auch gegenwärtig Bedrohungen ausgesetzt sind, denen gegenüber der oder die Einzelne sich nicht allein handelnd verhalten könne. Wenn wir aber nichts tun können, um eine Bedrohung abzuwenden, dann sei es tatsächlich sinnvoll, sich religiös zu verhalten. Weil dann die religiöse Praxis das Krisenmanagement der Wahl sei. Worin die Leistungskraft dieses Managements bestehen könnte, wurde oben erläutert. Damit Lübbe nicht missverstanden wird, muss freilich ergänzt werden, dass er Religion nur dann für eine angemessene Reaktion auf Bedrohungen hält, wenn wir tatsächlich nicht handelnd eingreifen können. Mit anderen Worten: Ein Gebet kann niemals ein Ersatz für medizinische Hilfe sein, wenn letztere möglich ist. Ansonsten wäre Religion eben schlicht Ideologie – und würde Krisen verstärken, statt sie zu bewältigen. Daher wäre nach Lübbe der Unterschied zwischen vormoderner Religiosität und unserer säkularen Gegenwart nicht darin zu sehen, ob man an irgendwelche Götter glaubt, sondern darin, auf welche Bedrohungen wir nur religiös reagieren können, weil wir sie nicht aktiv verändern können. Letzteres gilt z.B. noch heute weitgehend für Erdbeben.
Um die Differenzen zwischen der Rolle der Religion in Krisen zwischen der Vormoderne und der Gegenwart zu verstehen, ist noch ein weiterer Aspekt wichtig. Religion war bis weit ins 18. Jahrhundert hinein durchaus keine Privatangelegenheit. Im Gegenteil, sie war zunächst eine soziale Institution. Das Wohlergehen des Gemeinwesens hing davon ab, dass alle Mitglieder dieses Gemeinwesens sich den Göttern gegenüber angemessen verhielten. Dabei kam es jedenfalls im antiken Rom weniger darauf an, dass man das Richtige dachte und glaubte, sondern vielmehr darauf, am Kult teilzunehmen. Weil die Christen genau dies verweigerten, waren sie den ansonsten religiös eher toleranten Römern ein Dorn im Auge. Denn die Christen gefährdeten aktiv das Wohlergehen aller Bürger. Es dauerte weit über die Reformation hinaus, nämlich bis zur Aufklärung, dass sich in Europa die Erkenntnis und die Erfahrung durchsetzten, dass Menschen sehr wohl zusammenleben können, ohne das Gleiche zu glauben. Das Wohlergehen des Staates und der Schutz vor Katastrophen hing offenbar nicht an einem von allen geteilten religiösen Bekenntnis. Gleichwohl hielt sich die Institution des Buß- und Bettages, der immer eine staatliche, und keine ursprünglich kirchliche Institution war, bis in die Gegenwart, und erinnert damit an die Zeiten, als es bei der Institution der Buße nicht um einzelne Menschen, sondern um ganze Gesellschaften ging. Denn wenn Krankheiten, Naturkatastrophen oder Hungersnöte über ein Land hereinbrachen, waren alleMenschen aufgefordert, Buße zu tun, um die Götter zu besänftigen und der Gesellschaft zu helfen. Es ist durchaus kein Zufall, dass die meisten europäischen Staaten gegenwärtig mit einer Maßnahme auf die Corona-Krise reagieren, die an alleBürger appelliert, Verzicht zu üben. Darauf dass es die Menschen dabei faktisch sehr unterschiedlich trifft, hat Mark Arenhövel in seinem Beitrag zu dieser Vorlesungsreihe hingewiesen. Die gewissermaßen religiöse Funktion dieses Generalopfers liegt jedoch darin, den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
Gleichzeitig macht die beschriebene soziale Rolle der Religion bzw. ihre überaus enge Verflochtenheit mit dem Gemeinwohl die Religion anfällig für jede Art der Ideologisierung. Das, was Gesellschaften tendenziell zusammenhalten kann und soll, kann die gleichen Gesellschaften auch spalten und damit beispielsweise zu einer realen Krankheit auch eine imaginäre Bedrohung gesellschaftlicher Natur hinzufügen. Dort, wo man wie in der westlichen Schulmedizin bakterielle und virale Erkrankungen aufgrund des Weltbildes ihrer Entdeckungszeit als Kriegsgeschehen auffasst, liegt diese unheilvolle Verquickung besonders nahe, was wir gegenwärtig in den Stellungnahmen einzelner Politiker erleben.
Religiöse Vorstellungen können also sowohl als Krisenmanagement fungieren wie auch als Krisenverstärker. Der Soziologe Martin Riesebrodt (1990) hat in einer vergleichenden Untersuchung zum christlichen Fundamentalismus in den USA der 1920er Jahren und dem islamischen Fundamentalismus der 1980er Jahre gezeigt, wie beide Bewegungen als Reaktionen auf Modernisierungskrisen zu verstehen sind, die den Teilnehmern der Bewegung Stabilität geben. Auch wenn man die Folgen dieser gruppeninternen Stabilisierung durchaus nicht schätzen mag, so zeigt Religion dennoch auch darin ein Potenzial als Krisenmanagement. Gleichzeitig verstärkt sie freilich die von den Gläubigen erfahrene eigene Krise nicht nur im Blick auf die vermeintlich Ungläubigen, die mit Gewalt bekehrt oder gar zum Verschwinden gebracht werden müssen. Denn die religiöse Interpretation der Moderne verkennt die eigentlichen und durchaus nicht-religiösen Ursachen der eigenen Krise. Daher hilft er auch den Anhängern langfristig nicht weiter. Gegenwärtig erleben wir ein ähnliches Phänomen in den Versuchen nationaler Abschottung, die gegen das Corona-Virus (und die Globalisierung) so wenig helfen wie in früheren Jahrhunderten der Rückzug ins Kloster.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Gegenwärtig steht uns die Möglichkeit, eine Epidemie wie die Corona-Erkrankung als ein Zeichen irgendwelcher Götter zu verstehen, nicht mehr zu Gebote. Und wer trotzdem meint, das Corona-Virus in dieser Weise deuten zu können, kann das für sich selbst natürlich tun. Als gesamtgesellschaftliches Deutungsangebot wäre es in hohem Maße zynisch und weder religiös noch in anderer Weise hilfreich. Solange es eine göttliche Ordnung traditionellen Zuschnitts in den Köpfen der Menschen gab, war der religiöse Weg des Krisenmanagements rational. Wenn es diese Ordnung aber nicht mehr gibt, läuft er Gefahr, irrational zu werden. Und die Beschwörung fester Ordnungen, die keine mehr sind, verstärkt die Krise.
Dass die meisten Menschen die Corona-Krise nicht mehr als Zeichen eines Gottes oder als Instrument sich dahinter verbergenden Heils verstehen, liegt aber nicht allein an der Abwesenheit der Götter. Mindestens genauso wichtig ist ein Zeitaspekt. Christentum und Islam haben die Zukunft immer erhofft.Denn was immer die Welt diesseits des Himmels bringen konnte: Es war doch gewiss, dass ein Jenseits alles - im Hegelschen Sinne - aufhebt. Gegenwärtig wird die Zukunft aber nicht mehr erhofft, sondern gefürchtet. Mit der unterschwelligen Angst, dass die Katastrophen der Welt nichts Anderes offenbaren als sich selbst, wird seit längerem bereits im Kino und Fernsehen gespielt. Die Apokalypse, im Wortsinn: Offenbarung, bleibt dabei regelmäßig als leere Hülle stehen. Sie wird sinnlos, wenn es nichts zu hoffen gibt. Zombi- und Katastrophenfilme malen den postapokalyptischen Zustand aus. Jeden Abend kann man die Börsennachrichten hören, weil man sich absichern muss, ob nicht der nächste Kursabsturz naht. Und selbst die avancierteste Technikvision des ewigen Lebens durch Upload unseres Geistes in die Cloud, verlängert eben im besten Fall unsere Existenz, ohne unseren Körper. Von den einst erträumten Freuden eines neuen Lebens in den verschiedenen Paradiesen der Religionen ist das so weit entfernt wie unser hiesiges Leben es auch ist.
Der Kern religiösen Krisenmanagements bestand und besteht, so sollte es deutlich geworden sein, in der Möglichkeit, im Angesicht und gegen Bedrohungen an einem guten Sinn des Lebens und der Welt festhalten zu können. Dass Vertreter der verschiedenen Religionen sich faktisch oft als Krisenverstärker betätigen und der Welt und den Menschen ihren höchst eigenen Zorn, entgegenschleudern, den sie nachträglich als Strafe Gottes verkaufen, ist die gefährliche Kehrseite eines offenen Systems, wie es die Religion darstellt. Um es mit einem modernen Begriff zu fassen: Wo immer Religion „ressourcenorientiert“ gelebt wird, hat sie einen öffnenden Effekt und wird zur Bewältigung von Krisen beitragen können. Wo sie abschließt, ausschließt, abwertet, und im Negativen verharrt, wird sie Krisen verstärken.
Um dagegen an einem guten Sinn der Welt festhalten zu können, braucht die Religion aber nicht unbedingt Götter, die man kultisch verehren müsste. Nötig ist vielmehr die Fähigkeit zur Hoffnung, auf einen solchen guten Sinn zu setzen. Hoffnung erleben wir heute meist als etwas, das wir entweder gerade haben oder nicht. Sie scheint etwas zu sein, dass wir wie das Glück in einem Moment empfinden, während sie im anderen Moment verschwunden ist. Im Mittelalter wurde Hoffnung dagegen als Tugend verstanden. Ähnlich wie heutige Psychologie es uns in seriösen wie populären Varianten vermittelt, ist Hoffnung erlernbar und kann geübt werden. Das eröffnet Wege.
Literatur:
Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, Graz–Wien–Köln: Styria 1986.
Riesebrodt, Martin: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen: Mohr Siebeck 1990.
Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der "Kampf der Kulturen", München: C.H. Beck 2000.
Schechner, Sara J.: Comets, Popular Culture, and the Birth of Modern Cosmology, Princeton, NJ: Princeton University Press 1999.
Schuchardt, Erika: Warum gerade ich … ? Leben lernen in Krisen, Leiden und Glaube. Schritte mit Betroffenen und Begleitenden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13. Auflage 2013.